BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kurt Tucholsky

1890 - 1935

 

Ein Pyrenäenbuch

 

Seite 97-104 der Erstausgabe

 

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Pau

 

 

Von der Terrasse der Place Royale in Pau über die Ebene zu sehen – auf die Gebirgskette der Pyrenäen: das ist wie eine Symphonie in A-Dur. Mit Graten und Spitzen, hohen Nasen und graden Linien, mit den geschwungnen Vorbergen steht weit die große Wand der Berge und davor die kerzengraden Pappeln. Vom Gebirge her weht der Wind. Das ist schön.

Drehe ich mich herum, so steht da, mit dem Rücken zu mir: Er. ‹Er› ist in Pau allemal Heinrich der Vierte. Hier ist er geboren, hier hat er gelebt. Das ist nun nicht einfach, zu einem fremden Fürsten m Beziehung zu treten. In der Schule haben wir ihn nur unter dem Kleingedruckten gelernt, er sitzt nicht so fest drin wie etwa Friedrich der Zweite, der heute unter die Räuber gefallen ist, oder wie Barbarossa, der sich nie rasieren ließ. Henri Quatre, Le Vert Galant, der Mann, der «Ventre-Saint-Gris!» rief, wenn es etwas zu fluchen gab – es dauert eine Weile, bis man «'n Morgen, Heinrich!» zu ihm sagt. Aber wenn es soweit ist, dann sagt man es nicht mehr.

Er war der Eduard der Siebente seiner Zeit, was eine Schmeichelei für den dicken Engländer bedeutet. Er hatte dessen Sinn und Freude fürs Wohlleben, die gleiche Verschlagenheit, Geschicklichkeit, Menschenkenntnis, verschmitzte Ruhe – und wieviel mehr! Das schillert in seinen Briefen, er verteilt Schmeicheleien wie Ringe, und niemand sieht in der ersten Freude nach, ob sie echt sind – er setzt alles durch, was er will, fast alles. Er liebt die Jagd, den guten Wein, eben den von Jurançon, und die Frauen. Um uns zu erklären, wie er die liebte, gibt es nur eine Vergleichsmöglichkeit: das ist d'Andrade als Don Juan. So einer war er. Er hatte einen Spitzbart, und unter dem Schnurrbart, der sich leicht kräuselte, dünne, kräftige Lippen, mit denen man lächeln, einen Wein abschmecken, küssen konnte. Die Totenmaske Friedrichs des Zweiten im Schloß zu Monbijou sagt: Ich will nicht mehr leben; ich bin hinüber. Die Totenmaske Heinrichs des Vierten im Schloß zu Pau sagt: Ich habe gelebt, und es war sehr schön zu leben; jetzt muß ich schlafen gehn. Und ein leiser Zug von. Verachtung ist auch dabei. Sie haben ihn in Paris erstochen, er war siebenundfünfzig Jahre alt, ein Mann im besten Alter. Er war immer im besten Alter.

Wie haben sie ihn geliebt! Er war so schlau – er wollte geliebt werden, und sie liebten ihn. Er hatte keinen Krückstock, mit dem er herumwankte und schrie: «Wartet! Ich will euch mich lieben lehren!» Gott bewahre. Er lächelte, teilte Spitznamen und eine Gunst aus, die nicht einmal viel kostete, obgleich er so viel Geld ausgab . . . Die Rechnungslegung seines Hofes ist noch völlig erhalten, da gibt es keine Ausgabe, die nicht ihre Begründung hätte, und was für Begründungen! Die Damen erhielten Geld, Sänften, Pferde, Schmuck; einmal: «Für einen Freundschaftsdienst». Er muß die beiden Arten der Liebe gut gekannt haben.

Das Schloß ist restauriert, aber trotzdem gut erhalten. Es hängen da flandrische Gobelins, vor denen man gar nichts mehr sagt, und bestände nicht auch hier die verdammte Unsitte, Besucher während der Besichtigung zu entmündigen und unter Kuratel eines früheren Unteroffiziers zu stellen, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, so fühlte man sich restlos glücklich. So aber treibt jener die Hammelherden unter Absingung eines törichten Rezitativs durch die Räume, und man hammelt traurig mit. Das hohe holzgeschnitzte Geburtsbett steht noch da, in dem Heinrichs Mutter mit dem Großvater sang, um den Schmerz der Wehen zu übertönen, mit Wein hat man den Kleinen abgerieben und genetzt, als er erschien. Es ist ihm sehr gut bekommen. Davon wußte der Hammelhirt nichts, aber ich erkannte das Bett nach den Bildern wieder, und wir waren sehr erfreut, uns endlich persönlich kennenzulernen.

Was die Wiege, eine große Schildkrötenschale, anlangt, so hat sich schon der Graf Pückler-Muskau halb krank über ihre Aufstellung geärgert. Er war im Jahre 1834 in Pau und schalt heftig über den Trödelbudengeschmack, mit dem das Schloß hergerichtet war. Nun, besser ist es damit heute schon, der Konservator ist ein sehr beschlagener und kenntnisreicher Mann, und wenn er noch seine Unteroffiziere abschaffte, so wäre alles gut. Die dicken Mauern, deren ganze Tiefe erst an den Fenstern sichtbar wird, die hohen Wände, die riesigen Tische . . . man versteht das Leben dieser Leute, wenn man ihre Wohnungen kennt. Es ist ein bißchen schwer, das Museumshafte wegzudenken und sich wirkliche Wohnräume vorzustellen, so wie ja auch Goethe nicht in dieser kalten Pracht gewohnt hat, die sie, mit Ausnahme von zwei unvergeßlichen Stuben, da in Weimar aufgebaut haben. Wenn man aber in Pau versucht, sich die leise Unordnung vorzuträumen, die erst eine bewohnte Wohnung ausmacht, jenes praktische Durcheinander, zurechtgerückte Stühle, einen Säbel, an die Wand gelehnt, einen Hut auf dem Tisch . . . dann versteht man. Freilich mußten achttausend Bauern schlecht wohnen und hart arbeiten, damit der hier so leben konnte, aber als Symbol geraubter Arbeitskraft ist es immer noch schöner als eine große Hypothekenbank. Der König hats gewagt – der Bankier hat heimlich ein böses Gewissen und das merkwürdige Gefühl, als rutschte ihm etwas unter dem Hintern weg. Was am Schloß von Pau so besticht, ist die massive Lebensfreude, die gleichzeitig sublimiert ist: ein Hammelbraten auf dem Tisch, so groß, daß man vom Hinsehen Magenerweiterung bekommt – aber die bezauberndste Innenarchitektur, die sich denken läßt. Er hat gern gelebt, und vom groben bis zum feinen beherrschte er alle Raster.

Sicher gabs auch Kummer und Ärger. Gar nicht zu sprechen von den Stänkereien mit den Lieferanten – hatten ihn nicht einmal sogar die ‹cagots› verklagt? Ist das zu glauben?

Die Cagots . . .

Man sagt, sie stammten von den Sarazenen ab; es waren degenerierte Menschen, deren Schilddrüse nicht in Ordnung war, wie man das im Gebirge häufig vorfindet. Die ‹Großkropfeten›, sozusagen. Aber wie verschieden haben im Mittelalter Tirol und die Pyrenäen auf diese Kranken reagiert! Die Cagots in Frankreich waren eine ‹race maudite›, fast völlig von aller Gemeinschaft ausgeschlossen: sie durften keine Bäckerläden betreten, sie durften lediglich untereinander heiraten, wodurch sich die Degeneration nur noch verschlimmerte, und sie hatten eigene Kircheneingänge, denn ganz wollte die Allesumfassende sie denn doch nicht ausstoßen. In Luz, südlich von Lourdes, hat die uralte Kirche, die aussieht wie eine Festung, noch eine kleine Extratür, da sind sie hindurchgeschlüpft. Sie hatten einen roten Lappen auf dem Kleid zu tragen, damit man sie schon von weitem erkennen konnte. Es stand schlimmer mit ihnen als mit dem Henker.

Im Tal von Argelès gab es viele, bei Luchon und im Distrikt Ariège. Heute sind sie fast ausgestorben, man muß schon sehr suchen, wenn man sie sehen will. Es sind nicht eigentlich Kretins – es ist eine allgemeine körperliche Verkümmerung, gegen deren Folgen sie zum Teil immun geworden sind.

Und weil sie sich damals hauptsächlich als Zimmerleute ihr Brot verdienten, so bauten sie auch für den König, sie gerieten in Zahlungsstreitigkeiten mit ihm und konnten es doch wagen, ihn zu verklagen. Ganz rechtlos waren sie nicht.

Der König hatte so seinen Kummer: politischen und finanziellen, denn er verfügte über viel Geld und gab stets eine Kleinigkeit mehr aus als er hatte – und da war seine Frau, die immer dieselbe blieb, und seine Geliebten, die nicht immer dieselben blieben . . . Erfaßte ihn nicht zum Schluß diese widersinnige, also echte Leidenschaft zu Charlotte von Montmorency, die er verheiratete, um sie bequemer und unauffälliger in seiner Nähe zu haben? Und wie war er aufs Ehrlichste erschrocken, verstört und beleidigt, als ihr Mann, der Prinz von Condé, sie nach Belgien brachte! «Ich bin nur Haut und Knochen», schrieb er. «Nichts macht mir mehr Spaß, ich will allein sein . . . » Er hat sie nie wiedergesehen.

Wie sie ihn liebten! Schon um 1680 wollten sie seine Büste aufstellen, aber Ludwig der Vierzehnte schickte ihnen, hochmütig, die eigne. Sie bauten das königliche Geschenk auf und versahen es mit einer Unterschrift. «Celui-ci est le petit-fils de notre bon Henri.» Und im Jahre 1843 bekamen sie nun ihren guten Heinrich, ‹Lou nouste Henric›, wie es im Dialekt heißt. Er steht noch auf dem Platz, aber ich habe ihn gut gekannt; er ist nicht getroffen.

Jetzt klingt rund um den Guten das Konzert aus einem Musikpavillon der achtziger Jahre, aus denen sich auch die Kapelle, der Dirigent und das Publikum herübergerettet haben. Ist das noch sein Pau –?

«Die Leute haben dabei gewonnen, ich weiß. Sie haben keinen Krach mehr mit den Nachbarn und leben friedlich; aus Paris schickt man ihnen die neuen Erfindungen und die Zeitung: Ruhe, Umsatz und Wohlbefinden sind zweifellos großer geworden. Aber wir haben doch dabei zugesetzt: an Stelle von dreißig kleinen Hauptstädten, die alle brodelten und eigene Gedanken hatten, stehen da nun dreißig Provinzstädte, ohne Leben: Filialen. Die Frauen wollen einen neuen Hut haben, die Männer rauchen ihre Zigarette im Café – das ist ihr Leben; aus dümmlichen Zeitungen klauben sie sich alte, abgenutzte Ideen heraus. Früher hatten sie politische Köpfe, Höfe und das Lautenspiel der Liebe.» Soweit Taine.

Ist das noch Heinrichs Stadt –? Pau hat alles, was so ein Ort braucht, der im Winter das Zentrum des Schneesports ist: große Hotels, Kanalisation, Licht, gaunernde Geschäftsleute, es ist alles da. Sie haben sich bei der Stadt ein ‹Palais d'Hiver› aufgebaut, eine Scheußlichkeit aus Glas und Eisen; ein verstaubter Bakkarat-Saal gähnt mit eingemummten Fauteuils, und wer verloren hat, sieht sich die Innenausstattung an und stirbt am Schlag.

Das Kurkonzert spielt noch immer wie eine Spieluhr, jetzt haben sie eine Carmen-Ouvertüre am Wickel, sie hört sich an wie «Schlaf, Kindchen, schlaf . . . !» Die Damen wandeln, die Männer trinken Bier und stärkende Limonaden, sanfte Winde wehen. Oben steht Heinrich der Vierte und lächelt. Er lächelt über die Nachkommen seiner Schreiber, die sich da Musik vormachen lassen; hier muß etwas vorgegangen sein, denkt er . . . «Ist denn kein Condé da?» Nein, es ist keiner da. Der König sieht sich um. Er steht ganz allein.

 

 

Erstveröffentlichung in: Vossische Zeitung, 21.04.1927