BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kurt Tucholsky

1890 - 1935

 

Ein Pyrenäenbuch

 

Seite S. 155-183 der Erstausgabe

 

____________________________________________________

 

 

 

 

Lourdes

IV. Der Sardellenkopf

 

 

Man kann auch zum Kopf einer Sardelle beten,

es kommt nur auf den Glauben an.

Japanisches Sprichwort

 

Durch eine Wallfahrt nach Lourdes kann man organische Krankheiten heilen. Das ist der Fundamentalsatz der Gläubigen.

Erklärt wird er nicht. Bewiesen werden soll er durch das Bureau des Constatations Médicales.

Dieses Bureau besteht aus einem Chefarzt sowie mehreren andern Ärzten, die in Kommissionssitzungen die Heilungen prüfen und späterhin beglaubigen. Fremde Ärzte werden mit der größten Bereitwilligkeit zugelassen; sie dürfen an allen Sitzungen teilnehmen und bekommen Einsicht in alle Akten.

Niemand wird gezwungen, sich dem Bureau vorzustellen – wer sich geheilt glaubt, stellt sich selbst vor.

Das Bureau des Constatations ist vorsichtig, die Presse ist es minder. Die klerikalen Blätter, deren Verkäufer auf den Straßen von Lourdes schreien wie die Wilden, sind mit einem Wunder schnell bei der Hand. Die ‹Annales de Lourdes› und ‹La Revue de Lourdes› sind ernster zu nehmen, doch strotzen beide von pseudowissenschaftlichem Ernst und zelotischem Eifer gegen die, so nicht glauben.

Sämtliche persönlichen Anwürfe gegen die Mitglieder des Bureaus halte ich für falsch. Der törichte Vorwurf, sie seien bestochen, wird ja heutzutage kaum noch erhoben. Ganz abgesehen davon, daß die Ärzte, die dort tätig sind, den Eindruck rechtlicher und anständiger Männer machen und es sicherlich auch sind: bestechen . . . ! Die katholische Kirche ist viel zu klug dazu. Nur der Unbegabte stiehlt, der Kluge macht Geldgeschäfte.

Es darf auch nicht gesagt werden, daß diese Ärzte etwa zu gutgläubig wären – die sehr kluge Praxis des Bureaus ist vielmehr Skepsis. Mächtige Waffe der katholischen Kirche gegen die Zweifler: dieses Bureau ist so streng in seiner Nachprüfung, daß die Kranken ihm den Spitznamen ‹Bureau des Contestations› gegeben haben: Bestreitungsbüro. Und hat nicht eine Frau nach langem ärztlichem Examen aufgeschrien: «Dieser Mensch, der mir da gegenübersitzt, ist sicherlich ein Freidenker – er glaubt nichts!» Der Mann war der verstorbene Chefarzt, Herr Boissarie, ein frommer Katholik.

«Lourdes . . . wer glaubt denn das schon –!» Die Sache ist wohl nicht damit abgetan, daß man durch die Nase bläst, ein in Norddeutschland sehr beliebtes Argument. «Ich kenne keinen Menschen, der noch solches Zeug . . . » Du kennst keinen? Aber du vergißt, daß es nicht die andern sind, die die Ausnahme bilden, sondern du, du selbst, Freigeist oder Faulgeist oder wirklich Überlegner – du bist es, der auf einer großen Insel sitzt. Nach Lourdes sind gewallfahrt:

 

1873   140000

1883   213000

1908   40100

 

nach dem Kriege jährlich etwa 500000–800000 Menschen.

 

Das sind die Zahlen der offiziellen Wallfahrer; Einzelpilger, Touristen, Neugierige sind nicht einbegriffen. Bisher mögen etwa zwölf Millionen Pilger dort gewesen sein. Das ist ein Welterfolg.

Kommen nun in Lourdes übernatürliche Heilungen vor –?

Ich behaupte:

Das Bureau des Constatations ist in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht in der Lage, eine Heilung festzustellen.

Die Konstatierung einer Heilung ist eine Vergleichung: die des Zustandes vor dem Wunder mit dem Zustand nach dem Wunder.

Nun: das Bureau kennt den Zustand vor dem Wunder gar nicht.

Da es undurchführbar wäre, die Hunderttausende von Kranken vor dem Bad in den ‹piscines› zu untersuchen, so stellt sich der angeblich Geheilte, den das Bureau jetzt zum ersten Mal zu sehen bekommt, mit einem Attest vor. Der Geheilte kommt also mit dem Zeugnis fremder Ärzte, die besagen, was ihm gefehlt hat. Nun untersucht das Bureau den Kranken nach der Heilung, es kennt also nur die eine Seite des Waagebalkens.

Denn wer sind diese attestierenden Ärzte? Professoren? Kleine Landdoktoren? Welchen wissenschaftlichen Wert haben ihre Gutachten? Wann sind diese Atteste ausgestellt?

Diese Atteste sind wochenlang vor der Heilung ausgestellt, in den seltensten Fällen eine Woche vorher. Aber jeder Kurpfuscher sieht seine Kranken vor und nach seinen Praktiken und ist wenigstens in den Zeitangaben gedeckt, wenn er sich bescheinigen läßt: «Nach Ihrer Behandlung fühle ich mich bedeutend besser.» Und die behandelnden Ärzte zu Hause sehen den Kranken erst nach Wochen wieder, frühestens nach einer – sie vermögen also wenig über eine exakte und sofortige Wirkung der Wallfahrt auszusagen.

Die Statistik ist so minutiös: sorgfältig gibt das Bureau des Constatations an, wieviel fremde und wieviel französische Ärzte dort gewesen sind . . . Aber das besagt gar nichts, denn sie können ja nichts sehen. Man öffnet ihnen alle Türen – aber es gibt wenig zu beobachten. Was sie untersuchen, sind kranke Männer und Frauen in einem bestimmten Zustand – was vorher war, wissen sie aus eigenem Augenschein nicht. Die populäre Literatur wimmelt von Fotografien der Geheilten, eine Beweisführung, die etwa an die plattdeutschen Märchen denken läßt, in denen jemand vom Gnomenfürsten träumt, der da auf dem morschen Ast ritt und dann herunterpurzelte. «Und zum Beweis dessen, daß die Geschichte wahr ist – hier ist der Ast.»

Natürlich kämpfen die Lourdes-Leute wie die Mamelucken für ihre Sache. Und das ist nun ausnahmsweise kein Wunder. «Ce que l'amoureux fait pour sa maitresse», sagt Sighele einmal, «l'artiste le fait pour son art, le savant pour sa science, le sectaire pour la secte.» Und sie passen auf –! Ein kleiner Irrtum des Zweifelnden, ein Versehen des Kritikers im winzigsten Nebenumstand, und es erfolgt ein allgemeines Schütteln des Kopfes. Da seht ihrs! Der Mann ist nicht exakt, also nicht glaubwürdig, also haben wir recht. So wird hier gekämpft.

Worum wird gekämpft –? Die offiziellen Zahlen der Heilungen sind verhältnismäßig klein.

1858    27

1864    3

1874    31           gänzlich unkontrolliert. Das

1883    145         Bureau besteht erst seit 1884

1893    101

1903    133

Die Zahl für 1924 wurde mit 22 angegeben. Im Jahre 1925 wird sie aller Voraussicht nach noch geringer sein.

Unter den Propagandaberichten finden sich ein paar besonders schöne Fälle.

Da ist Herr Gargam, der im Dezember 1899 bei einem Eisenbahnzusammenstoß böse verletzt wurde: Fleischwunden, Schlüsselbeinbruch, Lähmung und Muskelsteife des gesamten Unterkörpers vom Gürtel an. Man hat große Schwierigkeiten, ihn überhaupt zu ernähren. Die Schadensersatzklage gegen die Eisenbahngesellschaft Paris-Orléans führt zum obsiegenden Urteil: 3000 Francs jährliche Rente, die später auf 6000 erhöht wurde, sowie eine einmalige Auszahlung von 6000 Francs. Am 12. August 1901 verzichtet die Gesellschaft auf weitere Rechtsmittel und erklärt sich bereit, zu zahlen. Acht Tage später, am 20. August, ist Herr Gargam in Lourdes unter den Geheilten.

Da ist Frau Rouchel aus Metz, einer der bösesten Fälle von Lourdes. Die alte Frau litt an einem Lupus; ihr Gesicht war entsetzlich entstellt, es bestand aus einer einzigen Wunde. Sie kam am 4. September 1903 nach Lourdes; eine grauenhafte Qual, sie anzusehen, eine Plage für die Nachbarn. Die Wunde roch stark und eiterte. Sie wußte, daß sie allen lästig fiel und wollte nicht im Menschengetümmel bleiben, das stets vor ihr zurückwich; sie flüchtete sich in eine kleine Seitenkapelle der Kirche. Als das heilige Sakrament an ihr vorbeikam, fiel ihr Verband, mit Blut und Eiter getränkt, auf ihr Gebetbuch. Als sie ins Hospital zurückkam, war sie geheilt. Mirakel –!

Nachschrift: Frau Rouchel starb im Krankenhaus zu Bondecours mit völlig zerfressenem Gesicht. Und das war kein Lupus. Es war das tertiäre Stadium der Syphilis, von der ihr Arzt in dem Attest aus Gefälligkeit nichts gesagt hatte. Sie hatte beide Krankheiten. Die Geschichte machte in Metz einen Höllenspektakel, der Arzt wurde von seinen Kollegen fallen gelassen, die alle sehr wohl wußten, daß solche Erscheinungen des tertiären Stadiums oft ebenso rasch verschwinden, wie sie gekommen sind.

Und so gibt es noch viele schöne Fälle.

Die Kirche verlangt nun von einem Wunder, damit sie es als Wunder ansähe:

Es darf sich um keine nervöse Erkrankung handeln. Unmittelbarkeit der Heilung.

Der Ausschluß der Hysterischen . . . das ist nicht immer so gewesen. Denn es ist ja unzweifelhaft, daß der größte Teil der Wunderheilungen im Mittelalter Neurastheniker, Hysteriker, Hysterische, Nervöse betroffen hat – gaben die sich für geheilt aus, so sah man sie als begnadet, ausersehen und durch Gott und die Jungfrau geheilt an. Seit die Wissenschaft dieses Feld besetzt hat, hat es die Kirche geräumt. Sehr früh schon – etwa um 1734 – hat der Kardinal Prospero Lambertini, der spätere Papst Benedikt XIV., davor gewarnt, Nervöse in die Wundergeschichten einzubeziehen. Was aber wäre, wenn die Psychologie und die Psychiatrie den nervösen Krankheiten nicht so nahegerückt wäre? Die Kirche nähme diese Kranken noch heute für sich in Anspruch.

Vorläufig schwerer angreifbar steht sie auf dem kleinem Feld, das ihr geblieben ist: auf der wunderbaren Heilung organisch Kranker. Da läßt sie sich nichts abhandeln. Sie verlangt nur die Unmittelbarkeit der Heilung.

Von einer Unmittelbarkeit kann nun zunächst in keinem Fall die Rede sein. Bechterew sagt einmal, als er in seiner ‹Bedeutung der Suggestion für das soziale Leben› von Wunderheilungen spricht: «Der Boden für zukünftige Heilungen beginnt sich bereits in dem Augenblick vorzubereiten, wo der Kranke zum erstenmal das Gerücht von der Wunderkraft des Heiligtums vernimmt und in seiner Seele der erste Hoffnungsfunke entfacht ist.» Reißt also ein aufgegebener und scheinbar unheilbarer Kranker seine letzte Willensreserve zusammen und beschließt, nach Lourdes zu gehen, so beginnt der seelische Prozeß in diesem Augenblick: wochen–, vielleicht monatelang vor der Reise. Das später ausgestellte Attest besagt wenig.

Nun tagt die Kommission in Lourdes. Aber was sind denn das für Ärzte –! Ich habe mehr als hundert Befunde und Bescheinigungen dieser Leute gelesen, und ich muß sagen, daß mir so etwas noch niemals unter die Finger gekommen ist. Sie haben eine Heilung unter den Augen, sie sehen sie, sie können die neu funktionierenden Organe befühlen, radiographieren – und sie setzen an den Schluß aller ihrer Zeugnisse: «Solche Heilungen kommen in der Medizin nicht vor – sie haben also übernatürlichen, keinen medizinischen Charakter.»

Das unglückselige Wort Richets von der Unwandelbarkeit der physikalisch-chemischen Gesetze, so recht ein Zeugnis von Kurzatmigkeit des Verstandes, flachstem Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft und leiser Überheblichkeit, dieses noch dazu aus seinem Zusammenhang gerissene Wort hat denen in Lourdes grade noch gefehlt.

Und hierin gleicht Richet zu seinem Nachteil gar nicht den Theologen, und Rousseau hat allen Orthodoxen der Ratio dies ins Stammbuch geschrieben: «Tout au contraire des théologiens, les médicins et les philosophes n'admettent pour vrai que ce qu'ils peuvent expliquer, et font de leur intelligence la mesure des possibles.»

«Dieses Rückenmarksleiden wird niemals von uns geheilt – also ist es nicht heilbar. Ein Wunder! Ein Wunder!»

Ein Wunder von Ärzten.

Aber dann macht doch die Augen auf, wenn ihr dergleichen seht! Ihr habt solche Heilungen noch nie beobachtet? Dann steckt die Nase in die Bücher, lernt etwas und denkt nach, warum dennoch geheilt worden ist, auf welchem Wege, durch welche Einwirkungen . . . Zu grobfingrig, um diese Gewebe aufzudröseln, transponieren sie Kräfte, die sie nicht kennen, nach außen, und die Mutter Maria steht in aller Pracht vor ihnen.

«Kräfte, die sie nicht kennen . . . » Ach, dieses Wort darf man in Lourdes gar nicht aussprechen, ohne daß man von einem Hohngeschrei überfallen wird. Es gibt keine Kräfte, die wir nicht kennen! Das wäre ja noch schöner! Schwatzt nicht von unbekannten Kräften! Eben die sind Gott.

Nun habens ihnen die Gegner nicht so schwer gemacht.

Wundt: «Es hat keinen Sinn, alle seelischen Erscheinungen, von der normalen Assoziation und Assimilation an bis zu mehr oder minder phantastischen Illusionen und Sinnestäuschungen, unter dem Begriff der Suggestion zu vereinigen und diesen so zu einem Allerweltsbegriff zu machen, der, weil er alles bedeuten soll, in Wahrheit nichts mehr bedeutet. Das Wort ‹Suggestion› erklärt ja überhaupt nichts. Es gewinnt erst einen psychologischen Wert, wenn man die elementaren psychischen Prozesse aufzeigt, deren besondere Verbindung in diesem Ort zusammengefaßt wird.» Und weil das die Gegner so oft schuldig bleiben – deshalb haben es die Wundergläubigen so leicht.

Die katholische Wundererklärung, auch die durch die Ärzte, grade die durch die Ärzte, ist scholastisch durchgearbeitet. Bleibt zum Beispiel eine kleine Narbe vom alten Leiden übrig, so scheut sich doch ein erwachsener Mann nicht, das als ‹Signatur Gottes› anzusehen, gewissermaßen ein Fabrikzeichen: ‹Nur echt mit . . . ›

Die Anschauungen, denen man in dieser katholischen Ärzteliteratur über Suggestion begegnet, sind zum Teil wahrhaft kindlich. Bertrin nimmt allen Ernstes das Diktum eines Laienhypnotiseurs auf, der ihm in Lourdes sagte: «In Lourdes gibt es überhaupt keine Suggestion. Die Priester, die die religiösen Beschwörungen vornehmen, denen die Menge respondiert, beten anstatt zu befehlen. So suggeriert man nichts.» Ich weiß nicht, wo der betreffende Herr hypnotisieren gelernt hat – aber ich möchte mich nicht von ihm behandeln lassen.

Eine der exaktesten Definitionen der Suggestion steht bei Bechterew. «Suggestion beruht auf unmittelbarer Überimpfung bestimmter Seelenzustände von Person auf Person mit Umgehung des Willens, ja, nicht selten auch des Bewußtseins des Aufnehmenden.» Und: «Nicht durch den Haupteingang, sondern sozusagen von der Hintertreppe aus gelangt der Eindruck . . . unmittelbar in die innern Gemächer der Seele.» Die Definitionen von Liébault, Löwenfeld, Forel, Wundt, Binet und den großen Franzosen erreichen das nicht an Klarheit – wetteifern kann nur noch Moll, bei dem es etwa heißt, Suggestion sei der Fall, wo eine Wirkung dadurch bedingt wird, daß man die Vorstellung ihres Eintretens erweckt. Und das ist der Fall Lourdes.

Wird nun hier ‹ohne Mithilfe von Logik› suggeriert, wie Bechterew das als typisch angibt –? Viel klüger: es wird mit einer Scheinlogik gearbeitet. Die Legende der seligen Bernadette, die Geschichte der Wunderheilungen, ihre etwas mystische Theorie, die da auf Erklärung verzichtet, wo man Erklärungen wünscht, und so das schöne Halbdunkel erzeugt, in dem der Glaube gedeiht – das alles greift ineinander wie die Zähne eines Räderwerks, und diese Wissenschaft für die kleinen Leute geht denen ein wie öl. Die Kleriker haben auf alle Angriffe einen Einwand, für jeden Beweis einen Gegenbeweis, und es ist wie mit den Juristen: folgt man ihnen erst einmal auf diesen Morastboden der Klopffechterei, dann ist alles verloren. Sie nennen das beide – Kirche und Rechtswissenschaft –: die Gesetze der Vernunft. Und vergessen nur, daß sie stets herausinterpretieren, was sie vorher stillschweigend hineininterpretiert haben.

Nun ist aber Suggestion kein krankhafter Vorgang, sondern etwas dem menschlichen Leben durchaus Natürliches, eine Sache, mit der die Gesellschaft steht und fällt; ohne Suggestion ist kein Zusammenleben denkbar. Diese Spezialsuggestion von Lourdes setzt zunächst die Behauptung in die Voraussetzung, supponiert den Gott, den sie ja grade beweisen will, und appelliert außerdem an viel tiefere Instinkte.

«Unser ganzes Bestreben geht danach, geliebt, bewundert, beneidet oder wenigstens bemitleidet zu werden, . . . die Gedankenwelt andrer zu bevölkern, die uns lieb sind oder die uns imponieren.» (Gleichen-Rußwurm.) Das ist es. Es ist der Geltungsdrang.

Ich habe im Bureau des Constatations ein junges Mädchen gesehen, das wollte sich eine Wunderheilung attestieren lassen. Die Unterhaltung war der Typus eines Kuhhandels. «Tun Sies doch, Herr Doktor!» – «Eine gewöhnliche Besserung von Sodbrennen – das genügt nicht, Fräulein!» Die Augen des Mädchens glänzten, sie hatte einen puterroten Kopf und kämpfte um ihr Leben. Draußen hatten sie eben eine scheinbar Geheilte vorbeigetragen, das Klatschen und die begeisterten Zurufe lagen noch in der Luft . . . sie auch! sie auch! Eine Rolle spielen, bewundert werden, auserlesen sein unter Tausenden . . . sie auch! Sie entfernte sich, enttäuscht, gekränkt, in ihren tiefsten religiösen Gefühlen getroffen, wie nach einem verlornen Gefecht.

Aber suggeriert der behandelnde Arzt nicht auch? Hypnotisiert er nicht? Ist nicht ein Teil seiner Wirkung eingestandenermaßen in seiner persönlichen Suggestion zu suchen?

Und hier scheint mir Zola, der mitgedacht wird, wenn Lourdes gedacht wird (was nach einem Raabeschen Wort ‹Ruhm› bedeutet) – hier scheint mir dieser tapfere und wirkungsvollste Vorkämpfer, dessen Roman in Deutschland berühmter ist als bekannt, einen Schuß nicht abgefeuert zu haben. Wie haben sie ihn bespien! Wer erinnert sich nicht noch des Unflats, der bei den Frommen aufdampfte, als er tödlich verunglückte! Sie haben ihm sogar vorgeworfen, er habe in ‹Lourdes› die Geistlichen beschimpft, wofür es keine Stelle als Beleg gibt . . . Nein, es sitzt anderswo. Das Wort ‹Suggestion› reicht in der Tat nicht aus.

Die Literatur über das Individuum in der Masse ist klein. Ganz zu schweigen von Experimentalpsychologen, deren lächerlichste Vertreter an Apparaten herumhantieren und Versuchsreihen aufstellen, die so lang sind wie ihr Instinkt kurz – es ist auch grundfalsch, die Natur der Massenerscheinungen am Individuum zu studieren und in verkehrter Gründlichkeit bei ihm anzufangen. Das Wesen des Meeres ist aus dem Tropfen nicht ersichtlich, Lourdes ist ein Massenphänomen und nichts als das.

«In eine Menge zu gehen, ist, wie in ein Choleradorf gehen», hat ein englischer Soziologe gesagt. Der Gedanke, daß eine Versammlungsrede in kleinem Kreise leicht komisch wirkt, ist nicht neu, aber viel zu wenig ausgearbeitet. Denn hier sitzt der Kern. Was tut nun Lourdes mit den Massen –?

Es versetzt zunächst die fernen Kranken durch seinen Ruf, der künstlich genährt und gesteigert wird, in sanften Schwindel. Die Wallfahrten sind ja nicht spontan, sondern sorgfältig organisiert, die Beteiligung an ihnen ist häufig unter mehr oder minder starker Beeinflussung erfolgt. Die Millionen strömen zusammen, nicht nur von individuellem Willensimpuls getrieben, die Reisen rühren nicht aus lauter voneinander unabhängigen Einzelentschlüssen her, sondern sie sind kollektiv zustande gekommen. Die Disposition für die große Massensuggestion, die da einsetzt, ist also denkbar günstig. Kommt die manchmal ungenügende ärztliche Pflege hinzu, das Mißlingen von ärztlichen Kuren, die scheinbare oder wirkliche Unmöglichkeit, geheilt zu werden – so wird sich der Kranke um so eher dem neuen Hoffnungsstern hingeben.

Nun reist er nach Lourdes.

In dem Augenblick, wo der Patient den Zug betritt, kommt er aus der Masse nicht mehr heraus. Er ist nie mehr allein. In den Hospitälern liegen sie zu zwanzig, dreißig. Er ist fast ständig unter Tausenden, meist unter Hunderten, die Leidensgefährten sprechen miteinander. Die Ärzte unter meinen Lesern kennen die ‹Wartezimmer-Gespräche› in den Polikliniken, wo Frau Knautschke Fräulein Lindemüller von ihrem großen Ding am Knie erzählt, und was der Doktor gesagt hat, und was man da tun müsse, und was man nicht tun dürfe . . . Jeder gibt seinen Senf dazu, Schauergeschichten steigen zur Decke, und alle sind schwere Fälle, und alle wollen bemitleidet und sehr ernst genommen werden. An guten Ratschlägen fehlts nicht. Das, genau das, ist die Luft von Lourdes. Ich habe die Unterhaltungen alter Frauen auf dem großen Platz während der Prozession mitangehört: kein Komma war anders als in der berliner Charité vor der allgemeinen Sprechstunde. «Un denn, Frau Millern, ick hab mein Mann imma heiße Linsen hinten ruffjepackt – das hatn ja sehr jut jetan . . . » Auf die Art.

Gruppen sind ein Leib. Aber das ist überall so. Ein Soldat wurde bei einer Besichtigung gefragt: «Sie stehen im Feuergefecht mit dem Gegner, der energisch vordringt. Ein Schütze neben Ihnen ruft, daß man sich nicht mehr halten könne, man müsse zurückgehen. Was tun Sie?» – «Ich gehe zurück!» sagte der Soldat. – «Warum?» – «Weil wir uns nicht mehr halten können.» Ganz Lourdes in einem Satz.

Man betrachte ja nicht die Massen in Lourdes als einen Haufen Ekstatischer und religiös Verzückter. Im Gegenteil: die Atmosphäre ist recht kleinbürgerlich; es sind Bauern und kleine Bürger, die da zur Heilung kommen, und tobende Ausbrüche sind recht selten. Als Hellpach noch Nervenarzt war, hat er einmal davon gesprochen, daß «nicht jede Epidemie, in der ein paar Hysterische sich herumtreiben, eine hysterische Epidemie ist; von den wirklichen hysterischen Epidemien ist die große Menge der bloß mit hysterischen Zügen Geschmückten sorgfältig zu sondern». So auch hier. Nein, es ist ganz etwas anderes als Hysterie.

Es ist das Beispiel. Es ist die Nachahmung. Es ist die Geste.

Man falte einer Hysterischen in der Hypnose die Hände – und ihr Gesicht nimmt einen flehenden Ausdruck an. Man versetze sie mit zornigen Gesten in einen zunächst fingierten Zustand der Raserei, und das Blut steigt ihr langsam zu Kopf. (Der Schauspieler sei hier ausgenommen.) Espinas, der französische Tierpsychologe, erklärt so die geistige Ansteckung unter Tieren. Vom Gesumm der Wespen: «Die andern Wespen hören dieses Geräusch, können es sich aber nur vorstellen, indem diejenigen Nervenfasern, die es gewöhnlich auslösen, gleichzeitig mehr oder minder erregt werden . . . Wir denken nicht nur mit unserm Gehirn, sondern mit unserm ganzen Nervensystem.» Nun, hier in Lourdes wird nicht nur gesummt. Hier wird der Heilwille angespannt.

«Die Wunden der Sieger schließen sich schneller als die der Besiegten»; das gilt auch körperlich. Die Seelenheiterkeit, die gute Stimmung, der Wille, gesund zu werden – wer kennt das nicht! Und der wird hier aufgereizt, angespannt, hochgepeitscht . . .

Ein besonders schönes Beispiel von Massensuggestion sind die Lungenkranken aus der Heilanstalt zu Villepinte, deren Belegschaft jedes Jahr wiederkam. 1896 werden acht von vierzehn Personen geheilt; 1897 acht von zwanzig, darunter nur vorübergehende Besserungen, 1898: vierzehn von vierundzwanzig. Unnötig, auszumalen, was sich das ganze Jahr hindurch in der Lungenheilanstalt abgespielt hat – die Gespräche, die gegenseitigen Ermunterungen, die ununterbrochenen Wach-Suggestionen, die Zeitungsartikel . . . Einen günstigeren Boden gibt es nicht.

Nun könnte man sagen: aber wie verhält es sich mit der Heilung von Kindern, die kaum oder noch gar nicht sprechen können, auf die also die Wirkung einer normalen Wort- und Bildsuggestion nicht in Frage kommen kann? Der Professor Bertrin führt eine große Anzahl an: 1897 ein Kind von knapp drei Jahren, 1896 ein Kind von zwei Jahren, er geht sogar bis auf das Jahr 1858 zurück . . . Aber grade bei Kindern erscheint mir die Sache besonders zweifelhaft: denn da sind es die Krankheitsberichte der Eltern, die ihr Kind geheilt haben wollen, und die nicht wissen, daß es grade bei Kinderkrankheiten verblüffende Fälle von raschen Zustandsveränderungen gibt.

Liest man die kirchlichen Bücher, so hat man den Eindruck, wie wenn sich dergleichen noch nie ereignet hätte. Damals, als der Präfekt von Tarbes die Grotte schließen wollte, erhob sich die ganze Gegend. «Von dem Tage an, als die Gendarmen erschienen und die Leute von Strafe hörten, war die Aufregung so stark, daß sich die ganze Gemeinde und auch die Nachbargemeinden, wie vom Widerspruchsgeist getrieben, für diese Neuerung begeisterten.» Aber das ist nicht Lourdes, sondern stammt aus einer Wundergeschichte, die in Trennfeld im Jahre 1892 spielte. Es kommt alles wieder, auch die Wunder, grade die Wunder. Sie haben ihre Gesetze.

Dergleichen ist ja nicht neu. Der Doktor Vachet aus Paris, der übrigens eine sehr verdienstvolle Aufklärungsschrift über Lourdes geschrieben hat, zeigt genau dieselben Methoden bei einem Mann auf, der sogar in Paris einen Saal knüppeldick voller Menschen hatte: Herr Béziat, ein Landwirt, der die Leute durch Zuspruch heilte. Und der sagte offen, was es ist: es ist der Wille. Wobei er die Bemerkung macht, daß der Kranke durch den fremden Appell an die ‹Lebensquelle›, die sich nun gegen die Krankheit aufbäumt, zunächst noch mehr leide – eine sehr feine und treffende Beobachtung.

Von den zahllosen Analogien und Kopien von Lourdes nur zwei.

Die schwindsüchtige Maria Bashkirtseff war im Jahre 1881 in Kiew. Ihr Tagebuch ist heute mausetot – aber es bleibt doch das rührende Zeugnis eines armen Vögelchens. Da betete man für sie, ihre Eltern beteten, sie auch; aber sie glaubte nicht an die Heilung. Und so wurde es denn auch nichts. Ihre kleine Schilderung von Kiew, die unter dem 21. Juli eingetragen ist, wirkt wie ein dünnes Abziehbild von Lourdes.

Und da ist das Heiligtum von Oostakker in Belgien, eine gradezu barocke Geschichte. Die Marquise von Courtebourne hatte sich in ihrem Schloß, wie es um 1870 Mode war, ein ‹Aquarium› anlegen lassen, mit Teichen und Wasserkunst und allem übrigen. Ihr Abbé zeigt ihr ein Bild der Grotte von Lourdes – das möchte sie auch haben. Es wird eine Nachbildung bestellt und ausgeführt, mit der Statue der Madonna und allem, was dazu gehört, auch dem exportierten Wasser aus Lourdes. Und nun fangen doch wahrhaftig die Gläubigen an, hierher zu wallfahrten –! Unter den Geheilten strahlt das Glanzstück: de Rudder. Der Mann war ein Bettler, dem ein Sturz vom Baum sein Bein zerschmettert hatte. Bruch des Schienen- und des Wadenbeins, Operation ohne Asepsis: schwere Eiterung, in der Wunde sollen die Knochenenden deutlich zu sehen gewesen sein. Diesem Mann wuchsen am 7. April 1875 die verkürzten Knochen zusammen, und wenn man sieht, daß der Metallabguß dieses Mirakels im Bureau des Constatations hängt, so wird man füglich nicht mehr zweifeln. Wenn man nicht wüßte, daß der Abguß ein Jahr nach dem Tode von dem exhumierten Leichnam abgenommen worden ist, abgenommen worden sein soll . . . So ungefähr sieht das wissenschaftliche Material der Kirche aus.

Lourdes ist lediglich ein Phänomen der Massensuggestion.

Es gibt einen klaren Beweis von der Richtigkeit dieser These, einen Beweis e contrario. Das ist der Winter.

Im Winter finden keine Wallfahrten statt, weder die großen französischen noch die internationalen. Im Winter kommen lediglich ein paar versprengte Touristen, Neugierige, Hochzeitsreisende, die gelobt haben, nach ihrer Verbindung dorthin zu pilgern – es kommen aber auch Kranke.

Die Kirchen sind geöffnet, die Grotte ist geöffnet, man kann beichten und beten, wie im Sommer, man darf baden, wie im Sommer; man darf das heilige Wasser trinken, wie im Sommer.

Und es gibt keinen Fall der Heilung im Winter – keinen einzigen!

Es kann keinen geben, weil die Masse fehlt, die brodelnde, Gebete plappernde, dahinziehende, sich pressende, chorsingende Masse. Der Pilger ist mit seinem Gott und seiner Grotte allein.

Und da langt es nicht. Da springt kein Funke über, da bäumt sich nichts auf, da peitscht nichts auf den Willen ein, da raunt nichts: Gesunde! da ruft nichts: Gesunde! da brüllt nichts: Steh auf und wandle! Im Winter geschlossen.

Der Arzt mit seinen Hilfsmitteln: Persönlichkeit, Wartezimmer, Operationssaal, weißer Mantel, Assistenten – er reicht Lourdes nicht das Zauberwasser. Er ist allein, der Kranke im Winter ist allein. Lourdes ohne die Masse ist nicht Lourdes.

Und nicht nur zeitlich ist das Wunder begrenzt – auch örtlich. Es gibt in den letzten vierzig Jahren keinen Fall, daß jemand aus Lourdes selbst geheilt worden wäre. «Wir sind zu nah», sagte mir einer. Die Kirche läßt die Pilger nur wenige Tage zur Grotte wallfahren – frisch sollen die Eindrücke sein, gewaltig die Intensität, mit der gewollt und gebetet wird; Gewöhnung ist der Tod. Ein klarerer Beweis ist nicht möglich.

Am tiefsten hat hier, wie immer, Freud sondiert. In seiner Untersuchung über ‹Totem und Tabu› findet sich das finstre Loch aufgerissen. «Mit der Zeit verschiebt sich der psychische Akzent von den Motiven der magischen Handlung auf deren Mittel, auf die Handlung selbst . . . Nun hat es den Anschein, als wäre es nichts andres als die magische Handlung . . . die das Geschehen erzwingt.» Die magische Handlung in Lourdes ist das Bad.

Die Quelle hat, wie die Kleriker triumphierend feststellen, nachgewiesenermaßen nicht den geringsten therapeutischen Wert, sie ist eine Gebirgsquelle wie hundert andre auch. Aber das symbolhafte Bad, das an Heilbäder erinnert, gemahnt den Kranken, daß hier etwas zu seiner Gesundung vorbereitet wird, er kennt das, ja, ja, es ist ein Bad, gewiß, er ist in einem Kurort. In einem seelischen.

Um sich herum Kranke . . . «Man fühlt sich nicht so allein in seinem Malheur», hat einmal ein Krüppel gesagt – Leidensgefährten, Bemitleidende und das Höchste: das Allerheiligste mit dem Erzbischof selbst dem Kranken zu Ehren! Hier wird das Ich groß geschrieben. Mit der äußersten Konzentration kehrt sich der Heilwille nach innen, ringt mit der Krankheit, kämpft: du oder ich!

Und nun ist die große Frage:

Wie weit reicht dieser Heilwille –?

Sieht man von allen Schauergeschichten, von allen Übertreibungen, von allen liederlichen Dokumenten ab, von den Luftblasen, die da aus dem Sumpf hochgurgeln – ein einziger Fall genügte. Ich nehme ihn an.

Und damit wäre eben nur erwiesen, daß der Wille des Menschen, dieser allmächtige Wille, dem so viele Weise so verschiedne Namen gegeben haben, daß dieser Wille fähig ist, Veränderungen im Gewebe hervorzubringen. Die Kirche, die sich seit Marx mit dem Sozialismus beschäftigt wie eine Hausfrau mit Wanzenpulver, hat auch Medizin studiert und unterscheidet in ihrer medizinischen Scholastik sehr scharf.

«Eine Hysterie kann nur eine Funktion hervorrufen, niemals ein krankes Organ ersetzen.»

Wenn aber ein Fall, ein einziger erwiesen wäre, von demselben Arzt unmittelbar vor und nach der Heilung beobachtet, attestiert, radiographiert –: wenn der erwiesen wäre, dann sind eben die Theorien falsch, denn es ist die Naturerscheinung, nach der die sich zu richten haben, nicht, wie der Theoretiker gern möchte, umgekehrt.

Also doch Unsre Liebe Frau von Lourdes –?

Nein.

Sie ist die Personifikation des menschlichen Willens, dem die Kirche das genommen hat, was sie der Gottheit gab. Innen sitzt es – nicht außen.

 

So ist es immer gewesen.

Da ziehen sie hin, die Schafe – Walter Mehring hat sie gesehn.

 

Durch die Jahrtausende geht ihr Zug

Mondhell leuchtenden Steißes –

Immer ein schwarzes, ein weißes –

Heiliger Nepomuk!

 

Da ziehn sie hin.

Ich weiß nicht, ob schon wieder deutsche Katholiken nach Lourdes wallfahrten. In großen Zügen tun sie das meines Wissens noch nicht. Sie werden keinen leichten Stand haben. Die französischen Katholiken sind, im Gegensatz zu den deutschen, die wildesten Nationalisten; es gibt zwar keine Pan-Franzosen, und selbst die ‹Action Française› will keinem andern Volk etwas fortnehmen – aber wenn Kath' holos erdballumspannend heißt, so ist das ein Erdball mit Hindernissen. Es ist mir nie klar gewesen, wie ein frommer Katholik dem andern ein Bajonett in den Leib jagen kann – fühlt er nicht, daß es die eklatanteste Religionsverletzung ist, die es gibt? Dafür zum selben Gott gebetet, dasselbe Sakrament verehrt, dieselben Bitten gesprochen, dafür . . . ? Mir sind sämtliche Kunstgriffe der Kriegstheologen bekannt, man kann ja alles beweisen. ‹Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist› und ‹Gehorchet der Obrigkeit› – aber in der deutschen Kriegsliteratur zum Beispiel ist doch den Katholiken bei Aufstellung dieser kümmerlichen Sätze nicht so kannibalisch wohl gewesen wie der protestantischen Konkurrenz. Die jungen pazifistischen Katholiken in Deutschland, etwa die Leute um Vitus Heller, werden jedenfalls noch eine schwere Arbeit haben, wenn sie mit diesen französischen Glaubensgenossen zusammentreffen wollen. Denn da katholische Deutsche vor dem Kriege in Lourdes gewesen sind, zum Beispiel Bayern, so ist es theoretisch nicht ausgeschlossen und praktisch mehr als wahrscheinlich, daß Männer, die gemeinsam vor der Kirche das Credo gesungen haben, sich späterhin bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt haben, als Soldaten, die sich damit noch brüsten, zum Beispiel Bayern.

Ich weiß sehr wohl, daß im allgemeinen dem deutschen Publikum nicht sehr wohl ist, wenn es gegen die Übergriffe der katholischen Kirche geht. Der Katholik ist dagegen; der Protestant hat Furcht, daß das Feuer auf sein Haupt übergreife, und der Jude sagt: politische Rücksichten und meint: Angst vor dem Antisemitismus. Mit einem kämpferischen freien Geist ist es bei allen dreien nicht weit her.

Die Aufgabe wird einem doppelt schwer gemacht: durch die wanzenplatten Monisten und die unzweifelhaften Verdienste des deutschen Zentrums in der Außenpolitik bis zum Jahre 1924. Aber das soll uns nicht hindern, die Wahrheit zu sagen.

Und sie kann um so leichter gesagt werden, als nur Renegaten und Angsthasen katholischer sind als die Katholiken selbst. Die verlangen nicht, daß man an Lourdes glaube; ich kenne katholische Franzosen, die mit Feuer und Schwert gegen die Trennung von Kirche und Staat kämpfen und über Lourdes mit einem Achselzucken zur Tagesordnung übergehen. Furcht vor dem Kulturkampf ist noch keine Toleranz.

Toleranz! Aber ich habe noch nie erlebt, daß die andern auf unsere Gefühle Rücksicht genommen hätten, etwa, wenn von der Wehrpflicht die Rede ist. Ihnen ist die Sache so selbstverständlich . . . Weicht nicht immer zurück, falsche Taktiker, Taktiker eurer Niederlagen. Und setzt auch einmal dem, der zugreift, die alte Formel der kirchlichen Druckerlaubnis aufs Heft: Nihil obstat. Imprimatur.

Hier soll kein Wort der persönlichen Verunglimpfung Geistlicher stehen. Die Tatsache bleibt, daß Lourdes Hunderttausenden eine Tröstung und eine Herzstärkung bedeutet. «Aber wenn nun die Leute ungeheilt zurückkommen», fragte ich einen Abbé, «sind sie da nicht enttäuscht?» – «Im Gegenteil!» sagte er. «Es ist auf alle Fälle eine kräftigende Reise.»

Auf der manche sterben. Denn der Transport so schwer Kranker, die zum Teil gegen den ausdrücklichen Rat der Ärzte reisen und noch stolz darauf sind, ist anstrengend, qualvoll, trotz allem gefährlich. Von der öffentlichen Hygiene dieser nicht immer sauber zu haltenden Massentransporte gar nicht zu reden. Also Schließung? Es gibt keine Regierung, die das wagen dürfte. Es ist zu spät.

Und ich will nun den Frommen zum Schluß alles einräumen: daß es wundertätige Heilungen gibt, daß diese Heilungen von einem Wesen ausgehen, das Jungfrau Maria heißt . . . Was beweist das –?

Wunder sind eine Reklame. Wunder beweisen nichts für die Richtigkeit eines ethischen Systems.

Und wenn einer aus Feuerland daherkäme und mir das Abbild seines Gottes zeigte und sagte: «Sieh! Er tut Wunder! Er gibt Regen und Sonnenschein! Er heilt die Kranken und fördert die Gesunden! Er schließt die Wunden und trocknet Tränen, er erweckt Tote und trifft mit dem Blitz das Haupt unsrer Feinde! Er ist ein großer Gott!» – spräche er also, so prüfte ich das Gebäude und die Untermauerung seines Glaubens und seiner Metaphysik, seiner Lehren und seiner Sittengesetze.

Und fände ich dann etwa, daß es eine Religion ist, die von ihrem Schöpfer gute Lehren auf den Weg bekommen hat, diesen Schöpfer aber verraten hat um irdischer Güter willen; daß sie die Reichen begünstigt und die Armen mit leeren Tröstungen im Elend geduckt hält; fände ich, daß sie die Tiere nicht miteinbezieht in den Kreis des Lebens, und daß sie klüger ist als fromm, gerissener als weise, politischer als wahrhaftig; daß sie das gute Heidnische im Menschen tötet und den Verkrüppelten sorgfältig bewacht; daß sie gottlose Fahnen in ihren Tempeln aufhängt und segnet, die da töten, und verflucht, die den Staatsmord verhindern wollen – fände ich das alles:

ich schickte den Mann aus Feuerland zurück und pfiffe auf seine Wunder.