BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Stefan Zweig

1881 - 1942

 

Reise nach Rußland

 

1928

 

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Die jungen Dichter

 

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Jessenin und Pilniak

 

Die Regierung hat ihnen ein Haus überlassen, das ehemalige Wohnhaus Alexander Herzens, und sie haben es umgeformt in eine Art Klub, wo sie einander begegnen, Freunde empfangen und bewirten können, lesen und arbeiten. Sie haben daraus gleichzeitig ein kleines Museum gemacht, das alle Bücher der jungen Generation, ihre Manuskripte und Bilder behütet, und ich hatte die Freude, dort ihr gemeinsamer Gast zu sein. Seltsames Gefühl zwischen Vergangenheit und Gegenwart: vor einigen Monaten hatte ich noch in Versailles die achtzigjährige Tochter Alexander Herzens, Madame Monod, besucht und saß nun im staatlich gewordenen Hause ihres Vaters, dessen Standbild längst auf allen Plätzen prangt und Monument der Vergangenheit geworden ist, neben der Enkelin Tolstois, der jungen zarten und auf anmutigste Weise klugen Sophia Tolstoi-Jessenin, der Witwe des großen lyrischen Dichters Jessenin, der, dreißigjährig, vor zwei Jahren auf tragische Art aus dem Leben schied. Ein langer Tisch vereinigt drei Dutzend junger Menschen, keiner über vierzig, die meisten unter dreißig Jahren, und in ihrer Gegenwart fühlt man etwas von der unerhörten Weite und Vielfalt dieses riesigen Reiches. Denn jede Provinz und jedes Volk der Union hat da irgendeinen aus sich herausgeholt. Da ist Boris Pilniak, der berühmte Romanschriftsteller, ein blonder Wolgadeutscher, aber schon so russisch geworden, daß er kein Wort seiner Vorvätersprache mehr versteht, neben ihm Wjesolowod Iwanow, dessen „Panzerzug“ als Buch und Drama in Rußland gleich erfolgreich ist, ein heller Sibirier mit rundem Kajakengesicht. Da sitzt Grigol Robadkidse, Priestersohn aus Tiflis, der erste georgische Dichter, von dem in nächster Zeit ein sehr heißes und farbenprächtiges Buch in deutscher Sprache erscheint, da Abraham Effros, schwarzbärtiger orientalischer Moskauer, der trefflichste Kenner europäischer Kunst, da Liddin und Kiriloff und der prächtige Holzschneider Kraftchenko und neben ihm die noch unbekannten Dichter der neuen Kultursphären, Est­länder, Eurasier, Armenier, Kaukasier, Ukrainer, ein buntes Gemenge, verbunden durch die gleiche Herzlichkeit der Gastfreundschaft und das unbezwingliche Element der Jugend.

Alle oder fast alle diese neuen jungen Dichter kommen aus dem Volke und fühlen sich ihm näher verwandt als die unseren; sie lesen in Soldatenschulen ihre Verse vor, sprechen in Volksversammlungen über Literatur, führen die Bauern durch die Museen. Sie gehen in dem einfachen Rock des Arbeiters, in den weißen Blusen der Bauern, keiner besitzt wahrscheinlich einen Smoking oder einen Frack, keiner von ihnen wohnt bequem und hat nur einen Schatten europäischer Honorare: aber sie genießen dafür das Glück eines weiten Publikums, das spontane Verbundensein mit dem letzten Urgrund ihrer Natur, die Kameradschaft mit jedem und allen. Das ist ein Erlebnis. Jeder von ihnen kennt das Volk, seine Bedürfnisse und seine Gedanken aus eigener Anschauung, die meisten von tätiger Mitarbeit, und mit einem urtümlichen Abenteuertrieb rollen und pilgern sie zigeunerhaft frei von einem zum anderen Ende des russischen Landes. Es ist eine Freude, ihre Gesichter zu sehen, frisch und lebendig, eine Freude, ihre Bücher zu lesen, die überquellen von ganz neuen Kräften: die europäische Literatur wird noch manche Überraschungen von diesem aufsteigenden Rußland erleben.