BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hilel Tseytlin

1871-1942

 

Aufgaben der polnischen Juden

 

1916

 

kval: Der Jude, Heft 2 (Mai 1916), S. 89-93

(Judaica, Universitätsbibliothek Frankfurt)

 

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Aufgaben der polnischen Juden

 

Die Juden in Polen haben zweierlei Aufgaben vor sich. Als Teil des ganzen jüdischen Volkes müssen sie, gleich den Juden der ganzen Welt, nach Wiedergeburt, nach einem neuen Morgen in einem Neuland streben. Das jüdische Volk, das fast zweitausend Jahre ein anormales, unsicheres und ungesundes Leben führt, muß wieder menschlich, gesund, frei und unabhängig zu leben beginnen. Das wird nur dann erreichbar sein, wenn das Zentrum des jüdischen Volkslebens aus dem Golus nach einem eigenen Land verpflanzt wird. Ein Volk, das sich stets auf der Wanderung befindet, hat das Recht, für seine Existenz zu kämpfen, es kann sich aber in seiner Existenz nicht sicher fühlen. Da aber die Juden sich in ihrer Existenz nicht sicher fühlen; da sie sogar für den kommenden Tag fürchten müssen; da sie das Spielzeug aller möglichen Mächte der Welt sind; da sie wie in einer Schleuderpfanne von einem Ende der Welt zum andern geworfen werden; da sie ein ewiges Opfer des Religionsund Rassenhasses sind, tyrannischer Willkür der Starken, niedriger Instinkte der Grausamkeit, gemeiner Massentriebe, tierwurzelnder Vorurteile und Beschränktheiten, schändlicher Schikanen, die mit einem Meer von Blut bezahlt werden; da sie in einigen Ländern der elementarsten Menschenrechte beraubt sind und zu vielen Berufszweigen, in denen sich alle anderen Menschen betätigen, keinen Zutritt haben; da sie zumeist von Luft und Windgeschäften zu leben gezwungen sind und im Kampf ums Dasein ihre letzten Kräfte aufwenden, ohne einen Augenblick Ruhe zu haben; da sie in Osteuropa wie auf einem Vulkan leben, der sie jede Sekunde zu verschlingen droht: müssen sie, so groß auch ihre Kräfte sein mögen, entarten. Der Selbsterhaltungstrieb und der Lebenswille müssen daher dem jüdischen Volke sagen, daß es sein Leben fortsetzen und erneuern nur in einem eigenen Lande kann.

Und auch die Gottesherrlichkeit, die auf dem jüdischen Volke ruht, wo es auch sein und in welcher Lage es sich auch befinden mag; die mit ihren Kindern aus Babel und Persien, aus Rom und Spanien, aus allen Ländern vertrieben wurde; die die Juden Tausende von Jahren auf ihren Flügeln trug und in allen ihren Schulen und allen Zelten Jakobs wohnte, wo Demut und Heiligkeit zu Hause war und nachts die Stimme der Thora, mitternachts die Klage um das zerstörte Heiligtum gehört wurde; auch sie ist jetzt von der langen Wanderschaft im Golus und den vielen Leiden müde geworden, ihre Fittiche sind erschlafft und sie ruft ihren Kindern zu: Bringt mich zurück in mein Land, wo die Geister meiner lieben Söhne: Abraham, Isaak, Jakob, Moses, Ahron, David, Salomon, aller Propheten, aller Heiligen und aller Weisen schweben; wo der ewige Geist des Messias schwebt, der euch mit allen Menschen erlösen wird...

Die Juden in Polen müssen also mit dem ganzen jüdischen Volke fühlen, ihm helfen in seinem Streben, sich ein materielles und geistiges Zentrum im Lande der Vergangenheit und Zukunft zu schaffen, ein Vaterland und ein Kinderland – Palästina.

Palästina muß die zentrale Frage des jüdischen Volkes lösen. Aber Palästina kann heute noch keine Masseneinwanderung brauchen. Wenn man heute den ganzen Emigrationsstrom nach Palästina abzulenken versuchen würde, würde man damit den zionistischen Gedanken schwer gefährden. Für die neue jüdische Siedlung in Palästina müssen die Menschen einzeln ausgewählt werden. Für die großen breiten Massen ist dort noch kein Platz. Mit der Zeit vielleicht schon, aber bis jetzt noch nicht. Die heute nach Zion Zurückkehrenden müssen Auserwählte sein – im körperlichen und geistigen Sinn. Das müssen Musterjuden sein, die zugleich Mustermenschen sind. Das müssen Menschen sein, die den Schmerz und die großen Hoffnungen von Geschlechtern tief im Herzen tragen, die in großem Maße sowohl klaren, gesunden Verstand als auch tief religiös-nationales Fühlen, Liebe, Geduld, Arbeitsfähigkeit und Arbeitsliebe, Ordnungssinn und Gehorsamkeit besitzen, die sich der notwendigen strengen Disziplin unterwerfen können. So groß auch die Zahl derer sein mag, die nach Palästina fahren wollen, sich dort ansiedeln dürfen nur die wenigen Stärkeren, Durchgebildeten unter ihnen. „Wenn dein Volk auch so viel sein mag wie der Sand am Meer, nur ein Rest wird zurückkehren.“ ...

Nicht ewig wird das Schwert fressen. Nicht ewig werden sich Menschen gegenseitig vernichten. Nicht ewig werden die Felder mit Erschlagenen bedeckt sein und nicht ewig werden die schwarzen Raben eine Mahlzeit aus ihnen machen. Nicht ewig wird die Erde erfüllt sein von Kanonendonner und nicht ewig werden die Menschenherzert voll Angst und Furcht, Haß und Neid sein. Die Bosheit wird sich selbst verzehren, der Blutdurst wird sich selbst vernichten, die Falschheit wird sich selbst bestrafen. Durch die schweren finsteren Wolken wird endlich doch die Sonne des Friedens und der Liebe dringen. Und die Gerechtigkeit, die jetzt jeder beim anderen sucht, selbst aber mit Füßen tritt, wird endlich doch ihre Stimme in der Welt vernehmen lassen. Dann wird jedes unterdrückte Volk sein Recht fordern.

Auch das jüdische Volk, das jetzt in vielen Ländern seiner Rechte beraubt ist, wird seine Stimme vernehmen lassen und wird Gerechtigkeit fordert. Fordern wird es für sich volle Völkerfreiheit, freie Entwicklung und Selbstbestimmung. Vor allem aber elementare Bürgerrechte in allen Ländern des Golus. Es wird seinen noch uneingelösten Wechsel der Menschheit präsentieren, und die Menschheit wird ihn, wenn sie ein reines Gewissen haben will, einlösen müssen.

Wenn dieser günstige Augenblick kommen wird und den Juden die Möglichkeit gegeben wird, ihre gerechten Forderungen offen auszusprechen und sie zu verteidigen, muß im Chor aller anderen jüdischen Stimmen sich auch die Stimme der polnischen Juden hören lassen, als derer, die am meisten unter Willkür und Unrecht gelitten haben. Frei, stolz, stark und offen werden sie erklären: wir bitten um kein Almosen, um keine Barmherzigkeit, als Menschen fordern wir vor allem unsere Menschenrechte!

Die Juden in Polen bilden als kompakte Masse, die fast tausend Jahre ein eigenes, eigenartiges Leben führt, eine besondere nationale Gruppe, die außer den genannten allgemein jüdischen auch noch besondere Aufgaben zu erfüllen hat. Sie muß ihre Minderheitsrechte in Polen selbst verteidigen. Die allgemein-nationale Arbeit darf der besonderen keinen Abbruch tun. Denn wenn auch die polnischen Juden Palästina als Zentrum des jüdischen Volkes erstreben, dürfen sie dabei doch nicht vergessen, daß, bis das große Ideal eines Zentrums und einer großen Siedlung vollständig verwirklicht werden kann, viel Zeit vorübergehen wird, und, im Falle seiner Verwirklichung, die verschiedenen verwickelten Fragen der nationalen Gruppen in den Golusländern nicht gelöst werden. Auch im besten Fall: wenn Palästina einen großen Strom der jüdischen Emigration in sich aufnehmen könnte, oder im schlimmsten Fall: wenn viele Juden gezwungen sein werden, irgend wohin zu flüchten, werden noch sehr viele Juden in Polen bleiben. Für sie, die polnischen Juden, ist es sehr wichtig, daß ihre Minderheitsrechte in dem Lande, in dem sie, besonders in den Städten, immerhin eine große Masse ausmachen, verteidigt werden.

Um eigene Rechte zu fordern und zu bewahren, müssen die polnischen Juden ökonomisch und kulturell vereinigt sein. Heute sind sie noch weit entfernt von einer Vereinigungsaktion. Sie müssen aber eine solche Vereinigung mit allen Kräften anstreben, sonst werden sie untergehen.

Die Juden in Polen müssen einig sein, um den Antisemitismus zu bekämpfen, der in Polen herrscht, und alle seine ökonomischen und kulturellen Erscheinungen. Der Antisemitismus in Polen ist viel stärker, organisierter, tiefer und mächtiger als irgendwo anders. Man muß auf ihn reagieren durch vereinte ökonomische und national-kulturelle Tätigkeit. Nicht durch sklavische Assimilation und durch Verleugnung und Vernichtung des nationalen Ichs wird man den Antisemitismus bekämpfen können, sondern durch die Forderung und Verteidigung eigener Rechte als Bürger des Landes und als Menschen einer besonderen nationalen Gruppe. Wird man durch diese Mittel ihn nicht vollständig niederkämpfen können, so wird man ihn doch bedeutend abschwächen.

Die Juden in Polen, die schon fast tausend Jahre dort wohnen, hängen mit besonderer Liebe am polnischen Land, an der polnischen Erde. Mit dem polnischen Volk erlebten Juden im Verlauf ihrer langen Geschichte viele Freuden und Leiden. Die Juden müssen daher alle Kräfte aufbieten, um mit dem polnischen Volk friedlich zu leben. Wie vor Feuer müssen sich die Juden in Polen vor jedem wirklichen Unrecht und jedem wirklich unkorrekten Verhalten dem polnischen Volke gegenüber hüten. Dieses Streben nach Frieden darf aber die polnischen Juden nicht davon abhalten, ihre gerechten bürgerlichen und nationalen Rechte zu verteidigen. Es muß ein Streben nach Brüderlichkeit und Menschlichkeit sein, aber nicht nach Versklavung des Geistes und Verwischung der nationalen Persönlichkeit.

Zu der allgemeinen Verteidigung der bürgerlichen und nationalen Rechte der jüdischen Minderheit in Polen gehört auch die der jüdischen Sprache und der jüdischen Kultur überhaupt. Unter „jüdischer Sprache“ verstehe ich die Sprache, die andere „Jargon“ nennen. Wenn wir auch die hebräische Sprache als unsere allgemein-nationale Sprache anerkennen, die allen Juden der Welt in allen Ländern und zu allen Zeiten gehört, so müssen wir doch zugeben, daß die Sprache der polnischen Juden als besonderer nationaler Gruppe die jiddische ist. Wahrend es also eine heilige Pflicht jedes polnischen Juden ist, sein Kind gründlich und allseitig Hebräisch erlernen zu lassen und das Studium der hebräischen Sprache und ihrer großen, reichen Literatur in den Schulen nicht bloß eine berechtigte Sache, nicht bloß eine private Angelegenheit, sondern eine obligatorische Pflicht ist, so muß man doch anerkennen, daß die Unterrichtssprache In den meisten jüdischen Schulen Polens – außer denen, die wirklich das Verlangen und die Möglichkeit haben, Hebräisch als Unterrichtssprache einzuführen – die Sprache sein muß, in der die Mehrheit der polnischen Juden redet, fühlt und denkt: die jiddische.

Als ein Teil des ganzen jüdischen Volkes müssen die Juden in Polen zusammengehen mit den Juden der ganzen Welt, die jüdische Religion bewahren, stärken und festigen, sie erkennen und erforschen, die Kinder in religiös-nationalem Geist erziehen, gründlich und tiefschürfend die religiöse Literatur studieren, beginnend mit der Bibel und dem Talmud bis zu den letzten Geonim, Forschern, Kabbalisten, Wissenschaftlern und Dichtern, die Ideen der jüdischen Religion und der jüdischen Ethik überall verbreiten und vertiefen usw.

Die Juden in Polen haben noch eine sehr große und heilige Aufgabe vor sich. Richtiger gesagt: sie haben eine heilige, erhabene, höchst wichtige und höchst verantwortliche Mission. In Polen wurde der Chassidismus geboren, in Polen hat er sich entwickelt und verzweigt, differenziert und geteilt und dort ist er auch zerbröckelt und in mancher Hinsicht niedergegangen. Die polnischen Juden müssen aber fromm, ernst und klug den teuren Schatz bewahren, den ihnen der Unendliche mit seiner Rechten in seiner großen Huld geschenkt hat: die Glorie, die auf den jüdischen Propheten von Podolien und Wolhynien ruht: dem Baalschem, dem Maggid von Meseritsch, Rabbi Nachman Bratzlawer, dem Raw von Ljadi, auf ihnen und ihren Schülern und Nachfolgern, den Schatz von Gottesfurcht, Demut, Ergebenheit, Heiligkeit, Weltgedanken und Weltgesichten, in dem Keime einer alt-neuen Weltreligion ruhen, welche die Menschheit erneuern, erheben und von allem Falschen, Niedrigen und Gemeinen erlösen wird. Dieser teure Schatz ist jetzt in Polen im Verschwinden begriffen oder von kleinlich politischen Machinationen, Zänkereien, persönlichen, engherzigen Abrechnungen entstellt. Der Chassidismus in Polen muß zurückkehren, wenn er nicht untergehen will (und er darf nicht untergehen, denn „ein Gedanke, der von der höchsten Weisheit stammt, kann nicht vernichtet werden“), zurückkehren zum Baalschem und seinen gottbegnadeten Schülern, Man muß den Chassidismus zuerst wieder an seine Quelle zurückbringen, dann wird er die Geister und Gemüter alter Menschen befruchten.

Weit, weit über Polens Grenze muß das heilige chassidische Wort getragen werden, weit sogar über das ganze jüdische Volk, und dieses Wort soll mit seiner Macht und Innerlichkeit alle Menschen rufen und wecken zur wahren Liebe, zur wahren Gerechtigkeit und zur wahren „Herrschaft des Himmels“.

 

Warschau

Hillel Zeitlin