BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. II. Abtheilung.

 

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Erster Theil. II. Abth.

 

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Literatur und Kunst.

 

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Erstes Capitel.

 

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Warum lassen die Franzosen der deutschen Literatur nicht Gerechtigkeit widerfahren?

 

Ich könnte auf diese Frage sehr leicht antworten: weil nur wenige Personen in Frankreich Deutsch verstehen, und die Schönheiten dieser Sprache, vorzüglich ihrer Dichtkunst, im Französischen nicht wiedergegeben werden können. Sprachen teutonischen Ursprungs sind leicht eine in die andere zu übersetzen, das gleiche gilt von den Töchtern der lateinischen; aber die letzteren sind zur Uebertragung der Poesie der germanischen Völker nicht geeignet. Eine für ein Instrument gesetzte Musik läßt sich auf einem Instrumente anderer Gattung nicht mit Erfolg geben. Außerdem besteht die deutsche Literatur in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit eigentlich nur seit vierzig bis fünfzig Jahren, [164] und die Franzosen sind seit den letzten zwanzig so sehr durch politische Ereignisse eingenommen worden, daß sie alles Studium der Literatur bei Seite gesetzt haben.

Man würde jedoch die Frage nur höchst oberflächlich behandeln, wenn man bei der Behauptung stehen bliebe: die Franzosen seyen darum ungerecht gegen die deutsche Literatur, weil sie sie nicht kennen. Sie haben allerdings Vorurtheile gegen sie, aber diese Vorurtheile gründen sich auf das dunkle Gefühl der entschiedenen Ungleichheit in der Art zu sehen und zu empfinden, die zwischen beiden Nationen Statt findet.

In Deutschland giebt es über nichts feste Geschmacks-Regeln, alles ist da unabhängig, alles individuell. Man urtheilt über ein Werk immer nur nach dem Eindrucke, den es macht, niemals nach Regeln, weil es keine allgemein geltende giebt; jedem Autor steht es frei, sich eine neue Sphäre zu bilden. In Frankreich wollen die meisten Leser nie auf Kosten ihres literarischen Gewissens gerührt, nicht einmal unterhalten seyn, dort hat der Scrupel sein Reich. Ein deutscher Autor bildet sein Publikum, in Frankreich gebeut das Publikum den Autoren. Da in Frankreich die Zahl der Menschen von Geist (esprit) viel größer ist, als in Deutschland, so imponirt dort auch das Publikum weit mehr, während deutsche Schriftsteller, unendlich hoch über ihren Richtern stehend, sie beherrschen, statt von ihnen Gesetze zu empfangen. Daher entsteht es, daß diese Schriftsteller selten durch die Critik vervollkommnet werden; keine Ungeduld von Lesern oder Zuschauern nöthigt sie, schleppende Stellen aus ihren Werken zu streichen, und selten nur halten sie zur rechten Zeit inne, indem ein Autor fast nie seiner eigenen Gebilde [165] überdrüssig wird, und folglich nur durch Andere erfahren kann, daß der Augenblick da sey, wo sie nicht mehr interessiren. Franzosen denken und leben nur in Andern, wenigstens in Beziehung der Eigenliebe, und man merkt es den meisten ihrer Werke an, daß ihr Hauptzweck nicht der Gegenstand ist, den sie abhandeln, sondern der Effect, den sie hervorbringen. Der französische Schriftsteller sieht sich immer in der Gesellschaft, selbst wenn er schreibt, und verliert nie die Critiken, die Spötteleien, den Modegeschmack, kurz die literarische Autorität, aus den Augen, unter welcher er in der oder jener Epoche lebt.

Die erste Bedingung des Schreibens ist, stark und lebhaft zu empfinden. Wer bei einem Andern studieren muß, was er versuchen dürfe und was ihm zu sagen erlaubt sey, der existirt, literarisch betrachtet, gar nicht. Allerdings haben unsre Schriftsteller von Genie (und welches Land zählt deren wohl mehr als Frankreich?) sich nur in Fesseln geschmiegt, die ihrer Eigenthümlichkeit keinen Eintrag thaten; aber man muß beide Länder in Massen und in der gegenwärtigen Zeit vergleichen, um einzusehn, worin die Schwierigkeit begründet sey, sich wechselseitig zu verstehen.

In Frankreich liest man selten ein Buch aus anderm Grunde, als um darüber zu sprechen; in Deutschland, wo man fast einsam lebt, will man, daß das Werk Gesellschaft leiste: aber in welche[n] gesellige[n] Verkehr der Seele kann man wohl mit einem Buche treten, welches selbst nur der Wiederhall der Gesellschaft ist? In der Stille der Abgeschiedenheit erscheint nichts trauriger, als der Geist der Weltlichkeit. Der Mensch in der Einsamkeit bedarf einer Anregung des Innern, um die äußere Bewegung zu ersetzen, die ihm mangelt. [166]

Klarheit gilt in Frankreich für eins der hauptsächlichsten schriftstellerischen Verdienste: es kommt vor allen Dingen darauf an, daß man bei einem Werke keine Mühe nöthig habe, und bei der Morgenlectüre aufhasche, womit man Abends in der Gesellschaft glänzen kann. Die Deutschen sehen dagegen ein, daß Klarheit immer nur ein relatives Verdienst, und ein Buch bloß klar genannt werden kann, in Beziehung seines Inhalts und seiner Leser. Montesquieu ist nicht so leicht verständlich als Voltaire, und dessen ungeachtet ist er so lichtvoll, als der Gegenstand seiner Untersuchungen es gestattet. Allerdings ist es notwendig, Licht in die Tiefe zu bringen; aber wer sich bloß an die Grazien des Verstandes, oder an ein Spiel mit Worten hält, kann viel sicherer darauf rechnen, verstanden zu werden; wer keinem Mysterium nahe tritt, wie könnte der dunkel seyn? Die Deutschen, gerade auf die entgegengesetzte Weise fehlend, gefallen sich in Dunkelheiten: oft hüllen sie, was klar am Tage lag, in Nacht, bloß um den geraden Weg zu meiden; sie haben einen solchen Widerwillen gegen gewöhnliche Gedanken, daß, wenn sie sich genöthigt sehn, sie niederzuschreiben, sie sie mit einer abstracten Metaphysik umgeben, die sie neu scheinen läßt, bis man sie erkennt. Die deutschen Schriftsteller geniren sich nicht mit ihren Lesern; da ihre Werke wie Orakelsprüche aufgenommen und ausgelegt werden, so können sie sie in so viel Wolken hüllen, als ihnen gefällt; die Geduld, dieses Gewölk zu zerstreuen, fehlt niemals, aber am Ende muß sich dahinter doch eine Gottheit zeigen, denn, was die Deutschen am wenigsten dulden, ist getäuschte Erwartung: ihre Anstrengung und Ausdauer machen ihnen große Resultate zum Bedürfniß. Sind in einem deutschen Werke nicht[167] starke und neue Gedanken, so wird es bald der Verachtung preis gegeben, und wenn das Talent auch alles verzeihlich macht, so haben in Deutschland die verschiedenartigen Künste, durch die man Talent zu ersetzen sucht, keinen Werth.

Die Prosa wird bei den Deutschen häufig zu sehr vernachläßiget. Man legt in Frankreich viel größeres Gewicht auf den Stil, als in Deutschland: eine natürliche Folge des Interesse[s], das man am Sprechen nimmt, und das dieses für ein Land haben muß, wo die Geselligkeit allein herrscht. Es ist nur ein wenig Verstand nöthig, um über die Richtigkeit oder Schicklichkeit einer Phrase zu urtheilen, aber viel Aufmerksamkeit und Studium, um das Ganze und den innern Zusammenhang eines Werks zu fassen. Ferner geben einzelne Ausdrücke einen viel reicheren Stoff zum Spotte, als Gedanken, und bei allem was Worte betrifft, lacht man, bevor man nachdenkt. Doch läßt sich nicht läugnen, daß die Schönheit des Stils keinesweges ein bloß äußerlicher Vorzug ist: denn wahre Empfindungen geben fast immer die edelsten und richtigsten Ausdrücke ein, und wenn man gegen den Stil eines philosophischen Werks nachsichtig seyn darf, so hat ein Werk der schönen Künste nicht gleichen Anspruch; in dieser Sphäre gehört die Form eben so wohl der Seele an, als der Inhalt.

Die dramatische Kunst bietet ein auffallendes Beispiel der bestimmten Eigenschaften beider Völker dar. Was Handlung, Intrigue, Interesse der Gegebenheiten betrifft, das verstehen die Franzosen tausendfach besser aufzufassen und zu verbinden; die Entwickelung von Herzens-Eindrücken, und die geheimen Stürme starker Leidenschaften werden dagegen von den Deutschen viel tiefer ergründet. [168] Wenn die vorzüglichen Menschen beider Länder den höchsten Grad der Vollkommenheit erreichen sollten, müßten die Franzosen religiös, die Deutschen ein wenig weltlich werden. Die Frömmigkeit arbeitet der Seelen-Zerstreuung entgegen, die zu gleicher Zeit der Hauptfehler und das Angenehmste der Franzosen ist, und die Kenntniß der Menschen und der Gesellschaft würde den Deutschen in literarischer Hinsicht den Geschmack und die Gewandtheit, die ihnen mangelt, geben. Die Schriftsteller beider Länder sind ungerecht gegen einander, die Franzosen jedoch schuldiger in dieser Hinsicht als die Deutschen; sie urtheilen ohne gehörige Kenntniß, oder untersuchen, nachdem sie schon eine Parthie ergriffen; die Deutschen sind unpartheiischer. Bei ausgebreiteten Kenntnissen läßt man so viel verschiedne Arten, die Dinge zu sehn, an sich vorübergehn, daß der Geist dadurch die Duldung gewinnt, die eine Frucht der Universalität ist.

Die Franzosen würden indeß mehr dabei gewinnen, wenn sie das Genie der Deutschen begreifen lernten, als die Deutschen bei der Unterwerfung unter den französischen guten Geschmack. Alle neuern Versuche, die französische Regelmäßigkeit mit etwas fremder Würze zu versetzen, sind mit rauschendem Beifall aufgenommen worden. J. J. Rousseau, Bernardin de Saint Pierre, Chateaubriand, sind in einigen ihrer Werke, selbst ohne es zu wissen, aus der deutschen Schule, das heißt, schöpfen ihr Talent nur aus der Tiefe ihrer Seele. Wollte man dagegen die deutschen Schriftsteller nach den Verbots-Gesetzen der französischen Literatur regeln, so würden sie nicht wissen, wie durch alle diese Klippen zu steuern sey, sich nach dem offenen Meere zurücksehnen, und ihren Geist eher verwirrt als belehrt finden. Es folgt hieraus[169] nicht, daß sie alles wagen sollen, und zuweilen nicht wohl thäten, sich Gränzen zu setzen, aber es kommt hier darauf an, daß man ihnen nach ihren eignen Ansichten den Platz anweise. Man muß, um sie dahin zu bringen, gewisse Beschränkungen anzunehmen, auf den Grund dieser Beschränkungen zurückgehen, ohne sich jedoch der Autorität des Lächerlichen zu bedienen, gegen welche sie durchaus rebellisch sind.

Geniale Menschen aller Länder sind geeignet, sich zu verstehen und zu schätzen, aber der große Haufen der deutschen und französischen Schriftsteller und Leser erinnert an Lafontaines Fabel von dem Storch, der nicht aus der Schüssel, und dem Fuchs, der nicht aus der Flasche essen kann. Der vollkommenste Widerspruch zeigt sich zwischen den Geistern, die die Einsamkeit entwickelt, und denen, welche die Gesellschaft bildet. Eindrücke der Außenwelt und Sammlung des Gemüths, Menschenkenntniß und Studium abstra[c]ter Ideen, Praxis und Theorie, geben ganz entgegengesetzte Resultate. Literatur, Künste, Philosophie und Religion der beiden Völker sind Beweise dieser Verschiedenheit; und der Rhein, als ewige Gränze, scheidet zwei geistige Regionen, die nicht minder, als die beiden Länder, eine der andern fremd sind.