BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. II. Abtheilung.

 

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Sechstes Capitel.

 

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Lessing und Winkelmann.

 

Die deutsche Literatur ist vielleicht die einzige, die mit der Critik angefangen hat; in allen andern sind die Meisterwerke ihr vorangegangen, in Deutschland war sie es, die jene erzeugte. Verschiedene andre Nationen hatten sich seit mehreren Jahrhunderten in der, schriftstellerischen Kunst ausgezeichnet, die Deutschen kamen später als alle andere, und glaubten eben nichts besseres zu thun zu haben, als auf der gebahnten Straße fortzuschreiten ; die Critik. mußte daher zuerst die Nachahmung beseitigen, um der Eigenthümlichkeit Raum zu verschaffen. Lessing schrieb eine Prose von einer Reinheit und Gedrungenheit, die damals ganz ungekannt war: die Tiefe der Gedanken macht den Stil der Schriftsteller der neuen Schule oft etwas ängstlich; Lessing, bei nicht geringerer Tiefe, hatte etwas Herbes in seinem Character, welches ihn immer die schärfsten, beißendsten Ausdrücke finden ließ. Ihn beseelte in allen seinen Schriften ein feindseliges Gefühl gegen die Meinungen, die er bekämpfte, und der Zorn giebt den Ideen Schwung.

Er beschäftigte sich nach der Reihe mit der Bühne, der Philosophie, den Alterthümern, und der Theologie, die Wahrheit stets verfolgend wie ein Jäger, dem das Jagen noch größere Lust gewährt, als die Beute. Sein Stil hat einige Aehnlichkeit mit dem durch lebendige und glänzende Kürze ausgezeichneten der Franzosen; er strebte danach, das Deutsche zu einer classischen Sprache zu erheben. Die Schriftsteller der neuen Schule umfassen mehr Gedanken auf einmal, Lessing jedoch [191] verdient allgemeinere Bewunderung; sein Geist war neu und kühn, und dessen ungeachtet den gewöhnlichen Menschen faßlich; seine Art zu sehen war Deutsch, seine Art, sich auszudrücken, Europäisch. Ein geistreicher und in seinen Schlüssen gedrungener Dialectiker, war er im Grund der Seele doch mit Enthusiasmus für das Schöne erfüllt; eine Gluth ohne Flamme war ihm eigenthümlich, und eine immer rege philosophische Heftigkeit, die durch wiederholte Schläge Wirkungen von Dauer erzeugte.

Lessing analysirte das französische Theater, das damals allein in seinem Vaterlande in Schwange war, und stellte die Behauptung auf, daß das Englische in einer größeren Verwandtschaft zu dem Geiste seiner Landsleute stände. In seinen Beurtheilungen der Merope, Zaire, Semiramis und Rodogune, hebt er nicht etwa die oder jene besondere Unwahrscheinlichkeit heraus, sondern greift gradezu die Wahrheit der Gefühle und Charactere an, indem er die in diesen Dichtungen handelnden Personen, als wirkliche Wesen, vor den Richterstuhl fordert. Um die Urtheile Lessings über das System der dramatischen Kunst im Allgemeinen mit Gerechtigkeit würdigen zu können, muß man, wie ich es in den folgenden Capiteln thun werde, die Hauptverschiedenheiten prüfen, die in den Ansichten der Franzosen und der Deutschen über diesen Gegenstand Statt finden. Bedeutend bleibt es aber immer für die Geschichte der Literatur, daß ein Deutscher den Muth faßte, einen großen französischen Schriftsteller zu critisiren, und voll Geist mit dem Fürsten der Spötter, Voltaire, selbst seinen Scherz zu treiben.

Es war ein Großes für ein Volk, das unter dem Anathem, welches ihm Geschmack und [192] Anmuth absprach, seufzte, zu hören: daß jedes Land einen Nationalgeschmack, eine natürliche Anmuth besitze, und der literarische Ruhm auf verschiedenen Wegen erworben werden könne. Lessings Schriften gaben einen neuen Anstoß; man fing an, den Shakspeare zu lesen, man wagte in Deutschland, sich einen Deutschen zu nennen, und an der Stelle des Joches der Correctheit trat die Volks-Eigenthümlichkeit in ihre Rechte.

Lessing hat theatralische und philosophische Werke geschrieben, welche beide besonders geprüft zu werden verdienen; man muß die deutschen Schriftsteller jederzeit unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Da sie durch Kraft des Denkens mehr noch glänzen, als durch Talent, so widmen sie sich nicht ausschließlich einer Gattung, und das Nachdenken führt sie nach und nach auf verschiedene Bahnen.

Unter Lessings Schriften ist Laocoon eine der merkwürdigsten; es werden darin die Gegenstände, die sich zu Vorwürfen der Poesie und der Mahlerei eignen, mit eben so viel Philosophie in den Grundsätzen als Scharfsinn in der Wahl der Beispiele, beleuchtet; doch bleibt Winkelmann immer derjenige, von dem in Deutschland eine wahre Revolution, in der Art, die Kunst, und durch die Kunst die Literatur, zu betrachten, ausging. Ich werde an einem andern Orte in Hinsicht seines Einflusses auf die Kunst von ihm sprechen; aber auch die Schönheit seines Stils ist so ausgezeichnet, daß man ihn in die Reihe der ersten deutschen Schriftsteller setzen muß.

Dieser Mann, der anfänglich das Alterthum nur aus Büchern kannte, wollte selbst hingehen, dessen hohe Ueberbleibsel zu schauen: eine innere Glut zog ihn nach dem Süden, wie man denn [193] häufig in der Einbildungskraft der Deutschen Spuren jener Liebe zur Sonne findet, die aus den Beschwerlichkeiten des Nordens entspringt, welche die mitternächtlichen Völker in die mittäglichen Länder zogen. Ein schöner Himmelsstrich erzeugt Gefühle, der Vaterlandsliebe ähnlich. Als Winkelmann, nach einem langen Aufenthalte in Italien, von dort nach Deutschland zurückkam, so erfüllte ihn der Anblick des Schnees, der spitzen Dächer, die er bedeckt, und der durchräucherten Häuser, mit Traurigkeit. Es schien ihm, daß er den Geschmack an den Künsten verliere, so wie er die Luft nicht mehr einathme, die ihnen das Daseyn gab. Welche contemplative Beredtsamkeit ist in dem, was er über den Apoll von Belvedere, über den Laocoon sagt! Sein Stil ist ruhig und majestätisch, wie die Gegenstände, welche er seiner Betrachtung unterwirft. Er weiß seiner Kunst, sie zu schildern, die imposante Würde der Kunstdenkmäler selbst zu geben, und seine Beschreibungen machen den nämlichen Eindruck, wie die Statuen. Niemand vor ihm hatte es verstanden, genaue und tiefe Bemerkungen mit einer so lebendigen Bewunderung zu vereinigen, und doch ist dies die einzige Art, die Kunst zu ergründen. Die Achtung gegen sie muß aus der Liebe zu ihr fließen, und in den Meisterstücken des Talents müssen, wie in den Zügen eines geliebten Wesens, sich tausend Reize entdecken, die die Empfindungen, welche sie einflößen, offenbaren.

Dichter hatten, vor Winkelmann, griechische Tragiker studirt, um ihre Werke unsern Bühnen anzupassen. Gelehrte gab es, die man, wie Bücher, zu Rathe ziehen konnte; niemand aber hatte, wie Winkelmann sich, so zu sagen, selbst zum Heiden gemacht, um ganz in das Alterthum [194] einzudringen. Winkelmann hat die Fehler, wie die Vorzüge eines kunstliebenden Griechen, und man fühlt in seinen Schriften eine Anbetung der Schönheit, wie sie sich bei einem Volke finden mußte, wo ihr so häufig die Ehre der Apotheose zu Theil wurde.

Einbildungskraft und Gelehrsamkeit liehen beide Winkelmann ihr Licht, vor ihm hatte man die Ueberzeugung, daß sie sich einander ausschlössen. Er zeigte, daß, um die Alten zu enträthseln, das Eine so nöthig, als das Andere, sey. Gegenständen der Kunst kann man nur Leben geben durch die genaue Kenntniß des Landes und der Zeit, in denen sie vorhanden waren. Schwankende Züge fesseln das Interesse nicht. Sollen Erzählungen und Dichtungen, die in entfernten Jahrhunderten spielen, belebt erscheinen, so muß die Gelehrsamkeit selbst der Einbildungskraft zu Hülfe kommen, und sie, wenn es möglich ist, zum Zeugen dessen, was sie darstellt, zum Zeitgenossen dessen, was sie erzählet, machen.

Zadig errieth mittelst einiger verworrenen Spuren, mittelst einiger ergriffenen Worte, Umstände, die er alle aus den leisesten Anzeigen herleitete. So muß man die Gelehrsamkeit zur Leiterin durch "das Alterthum; wählen; die Spuren, die sich von demselben noch vorfinden, sind unterbrochen, verwischt, schwer zu erfassen; hilft man sich jedoch gleichzeitig mit der Einbildungskraft und dem Studium, so stellt man vergangne Zeiten von neuem her, und schafft erloschnes Leben wieder.

Wenn der Richter über das Daseyn einer Thatsache entscheiden soll, so ist es oft ein kleiner Umstand, der ihm Licht giebt. Die Einbildungskraft ist, in der Ergründung des Alterthums, dem Richter zu vergleichen; ein Wort, ein Gebrauch, [195] eine Anspielung, die man in den Werken der Alten findet, werfen einen Schein, bei welchem man die ganze Wahrheit erkennt.

Winkelmanns Urtheil über die Denkmäler der Kunst nimmt den Gang beurtheilender Menschenkenntniß. Er untersucht die Gesichtszüge einer Bildsäule, wie die eines lebenden Wesens. Mit großer Genauigkeit faßt er die geringfügigst scheinenden Beobachtungen auf, um daraus höchst überraschende Schlüsse zu ziehen. Bald ist es eine Physionomie, bald ein Attribut, bald ein Kleidungsstück, was plötzlich eine ganz unerwartete Helle über Gegenstände langer Forschungen verbreitet. Ceres Haare sind mit einer Zwanglosigkeit aufgesteckt, wie sie für Minerva nicht paßt: die Mutter Proserpina's zeigt auch im Aeußem den ewigen Schmerz über ihren Verlust. Minos, Sohn und Schüler Jupiters, trägt auf den alten Münzen die Züge seines Vaters; dennoch bezeichnet die ruhige Größe des einen, und der strenge Ausdruck in dem Bild des andern, bei jenem, den Fürsten der Götter, bei diesem, den Richter der Menschen. Der Torso ist ein Fragment des Gott-gewordenen Hercules, wie er von Hebe den Becher der Unsterblichkeit empfängt, während der farnesische Hereules nur noch die Attribute eines Sterblichen trägt; die Umrisse des Torso, zwar eben so kräftig. aber geründeter als bei jenem, bezeichnen die Kraft des Helden; doch eines Helden, der in den Himmel versetzt, nun losgesprochen ist von den schweren irdischen Arbeiten. Alles ist symbolisch in der Kunst, und die Natur erscheint unter tausendfältig verschiedenen Gestalten in jenen Statuen, Gemälden und Gedichten, in denen die Unbeweglichkeit die Bewegung andeuten, das Aeußere der [196] Seele Innerstes enthüllen, das Daseyn des Augenblicks zu einer Ewigkeit werden soll.

Winkelmann hat in Europa die Vermischung des antiken und des modernen Geschmacks in der Kunst verbannt. In Deutschland zeigte sich sein Einfluß auf die Literatur noch deutlicher als auf die Kunst. Ich werde später zu der Erörterung der Frage kommen, ob die ängstliche Nachahmung der Alten sich mit der natürlichen Eigenthümlichkeit verträgt, oder ob man vielmehr diese natürliche Eigenthümlichkeit aufopfern, und sich den Zwang auflegen solle, Gegenstände zu wählen, in denen die Poesie, wie die Malerei, nichts Lebendes zum Vorbild nehmend, nur Bildsäulen darstellen kann. Diese Untersuchung thut jedoch Winkelmanns Verdienst auf keine Weise Eintrag: er zeigte, worin der antike Geschmack in der Kunst bestehe; die Neueren mochten nun fühlen, was sie in dieser Hinsicht anzunehmen oder zu verwerfen hätten. Wenn ein Mann von Talent uns die Geheimnisse einer antiken oder fremden Natur enthüllt, so thut er das Seinige durch den gegebenen Anstoß; die dadurch hervorgebrachte Regung muß sich aber in uns. selbst gestalten, und je wahrhafter sie ist, diese Anregung, um desto minder wird sie sclavische Nachahmung aufkommen lassen. Winkelmannen verdankt man die Entwickelung der jetzt in die Kunstlehre aufgenommenen wahren Grundsätze über das Ideal, diese Vervollkommnung der Natur, dessen Urbild in unserer Einbildungskraft liegt, nicht außer uns. Die Anwendung dieser Grundsätze auf die Literatur ist besonders ergiebig.

Die Poetik aller Künste ist in Winkelmanns Schriften unter einen einzigen Gesichtspunkt gebracht, und zwar zum Vortheil aller. Man hat die Poesie durch die Sculptur, die Sculptur durch [197] die Poesie besser verstehn gelernt, und durch die Kunst der Griechen den Weg zu ihrer Philosophie gefunden. Die idealistische Metaphysik hat bei den Deutschen sowohl als bei den Griechen keinen andern Ursprung als den Dienst des höchsten Schönen, das unsre Seele allein aufzufassen, und zu erkennen vermag; dieses wundervolle Schöne ist eine Erinnerung des Himmels, unsers ursprünglichen Vaterlandes. Phidias Meisterwerke, Sophocles Tragödien, und Platons Lehre, alle vereinen sich, uns davon den nämlichen Begriff zu geben, wenn gleich unter verschiedenen Formen.