BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Zehntes Capitel.

 

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Einfluß der neuen Philosophie

auf die Wissenschaften.

 

Es läßt sich nicht bezweifeln, daß die idealistische Philosophie zur Andacht führe, und daß, indem sie den Geist zum Zurückgehen aus sich selbst geneigt macht, sie auch seinen Scharfsinn und seine Beharrlichkeit in intellectuellen Verrichtungen vermehre. Allein, ist diese Philosophie jenen Wissenschaften, welche auf der Beobachtung der Natur beruhen, eben so günstig? Die nachfolgenden Bemerkungen sind der Beantwortung dieser Frage gewidmet.

Ganz allgemein hat man die Fortschritte der Wissenschaften im abgewichenen Jahrhundert der Erfahrungs-Philosophie zugeschrieben; und da die Beobachtung auf dieser Bahn in der That sehr viel leistet: so hat man geglaubt, man komme um so sicherer in den Besitz wissenschaftlicher Wahrheiten, je mehr Wichtigkeit man auf äußere Gegenstände lege. Indeß ist Kepplers und Leibnitzens Vaterland in Ansehung der Wissenschaft nicht zu verschmähen. Die Haupt-Entdeckungen der Neueren, das Pulver, die Buchdruckerei, sind in Deutschland gemacht worden; und doch ist in Deutschland die Tendenz zum Idealismus immer vorherrschend gewesen.

Bacon hat die spekulative Philosophie mit der Lerche verglichen, welche zum Himmel aufsteigt und wiederkehrt, ohne von ihrem Fluge das Mindeste mitzubringen, die Erfahrungs-Philosophie hingegen mit dem Falken, der eben so hoch steigt, aber mit seiner Beute zurückkommt. [114]

Vielleicht hätte Bacon in unseren Tagen die Nachtheile einer reinen Erfahrungs-Philosophie gefühlt. Sie hat den Gedanken in Sensation, die Moral in persönliches Interesse und die Natur in Mechanismus verkehrt; denn sie zweckte darauf ab, alles herabzusetzen. Die Deutschen haben ihren Einfluß in den physischen Wissenschaften, wie in den Wissenschaften einer höheren Ordnung bekämpft; und indem sie die Natur der Beobachtung unterworfen haben, betrachten sie ihre Phänomene im Allgemeinen auf eine umfassendere und geistreichere Manier; und die Herrschaft einer Meinung über die Einbildungskraft giebt immer ein günstiges Vorurtheil für dieselbe; denn bei einer erhabenen Auffassung des Universums kündigt Alles an, daß das Schöne auch das Wahre sey.

Die neue Philosophie hat ihren Einfluß auf die physischen Wissenschaften in Deutschland schon auf mannigfaltige Weise ausgeübt. Derselbe Geist der Universalität, den ich in den Literatoren und Philosophen bemerkt habe, findet sich in den Vertretern der Wissenschaften wieder. Als genauer Beobachter erzählt Humboldt die Reisen, deren Gefahren er als ein tapferer Ritter getrotzt hat, und seine Schriften ziehen die Dichter eben so sehr an, als die Physiker. Schelling, Bader, Schubert u.s.w. haben Werke herausgegeben, in welchen die Wissenschaften in einen Gesichtspunkt gestellt sind, der das Nachdenken und die Einbildungskraft in Anspruch nimmt; und ehe an die neueren Metaphysiker zu denken war, hatten Keppler und Haller gezeigt, daß sie die Natur zu beobachten und zu errathen verstanden.

Die anziehende Kraft der Gesellschaft ist in Frankreich [115] so stark, daß sie Keinem erlaubt, auf die Arbeit viel Zeit zu verwenden. Es ist also sehr natürlich, daß man kein Vertrauen in Diejenigen setzet, welche mehrere Arten von Studien vereinigen wollen. Aber in einem Lande, wo das ganze Leben eines Menschen der Betrachtung gewidmet werden kann, hat man Grund, zur Vervielfältigung der Kenntnisse aufzumuntern. Man ergiebt sich alsdann derjenigen, die man allen übrigen vorzieht; allein, es ist vielleicht unmöglich , eine Wissenschaft gründlich inne zu haben, ohne sich mit allen beschäftigt zu haben. Sir Humphry Davy, gegenwärtig der erste Chemiker Englands, kultivirt die schönen Künste mit eben so viel Geschmack als Erfolg. Die Literatur verbreitet Licht über die Wissenschaften, wie diese über die Literatur; und der Zusammenhang, welcher unter den Gegenständen der Natur Statt findet, muß sich auch in den Ideen des Menschen antreffen lassen.

Die Universalität der Kenntnisse führt nothwendig zu dem Wunsch, die allgemeinen Gesetze der physischen Ordnung aufzufinden. Von der Theorie steigen die Deutschen zur Erfahrung herab; von der Erfahrung erheben sich die Franzosen zur Theorie. In Werken der Literatur machen die Franzosen den Deutschen den Vorwurf, daß sie nur die Schönheiten des Details haben, und sich nicht auf die Zusammensetzung eines Werks verstehen. Die Deutschen hingegen werfen den Franzosen vor, daß sie in den Wissenschaften nur besondere Facta in Betrachtung ziehen, und sie nicht an ein System knüpfen; und hierin hauptsächlich besteht der Unterschied zwischen den Deutschen und den französischen Gelehrten. [116]

In der That, wäre es möglich, die Principien zu entdecken, welche dies Universum regieren: so würde es zuverlässig besser seyn, von dieser Quelle ausgehend, alles zu studiren, was sich daraus ableiten läßt. Indeß weiß man so viel als gar nichts von dem Ganzen in allen Dingen, es sey denn mit Hülfe der Einzelnheiten, und die Natur ist für den Menschen nur eine Sammlung von sybillinischen Blättern, welche zerstreut sind und bis auf den heutigen Tag nicht zu einem Buche haben vereinigt werden können. Bei dem allen verbreiten die Gelehrten Deutschlands, welche zugleich Philosophen sind, ein ungemeines Interesse über die Betrachtung der Phänomene dieser Welt; sie erforschen die Natur nicht auf gut Glück, nach dem zufälligen Laufe der Erfahrungen, aber sie sagen in der bloßen Kraft des Gedankens vorher, was die Beobachtung bestätigen muß.

Zwei große allgemeine Ansichten dienen ihnen im Studium der Wissenschaften zu Führern. Die eine ist, daß das Universum nach dem Modell der menschlichen Seele gemacht ist; die andere, daß die Analogie eines jeden Theils des Universums mit dem Ganzen von einer solchen Beschaffenheit ist, daß dieselbe Idee sich von dem Ganzen beständig in jedem Theile, und so von jedem Theile in dem Ganzen abspiegelt.

Es ist ein schöner Gedanke, der darauf abzweckt, die Aehnlichkeit der Gesetze des menschlichen Geistes mit denen der Natur zu finden, und folglich die physische Welt als ein Bild in erhabener Arbeit von der moralischen betrachtet. Wenn dasselbe Genie im Stande gewesen wäre, die Iliade zu dichten und wie Phidias zu meiseln: so würde der Jupiter des [117] Bildhauers dem des Dichters gleichen. Warum sollte also die höchste Intelligenz, welche die Natur und die Seele gebildet hat, nicht die eine zum Sinnbild der andern gemacht haben? Nicht ein eitles Spiel der Einbildungskraft sind die beständigen Metaphern, welche zur Vergleichung unserer Gefühle mit äußerlichen Erscheinungen dienen – der Traurigkeit mit dem wolkenbedeckten Himmel, der Ruhe mit den Silberstrahlen des Mondes, des Zorns mit den von Winden gepeitschten Fluthen: – es ist derselbe Gedanke des Schöpfers, der sich in zwei verschiedenen Sprachen ausdrückt, von welchen die eine zur Auslegung der andern dienen kann. Beinahe alle physische Axiome entsprechen moralischen Maximen. Diese Art von parallellem Gange zwischen der Welt und der Intelligenz ist der Anzeiger eines großen Mysteriums, und alle Geister würden davon betroffen seyn, wenn man dahin gelangte, positive Entdeckungen daraus zu ziehen. So schwach dieser Schimmer auch jetzt noch ist, so führt er doch die Blicke sehr weit.

Die Analogieen der verschiedenen Elemente der physischen Natur unter einander tragen nicht wenig zur Bestätigung des obersten Gesetzes der Schöpfung bei; ich meine die Mannigfaltigkeit in der Einheit und die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Was ist erstaunlicher, als das Verhältnis der Töne zu den Gestalten, der Töne zu den Farben? Chladni, ein Deutscher, hat neuerlich die Erfahrung gemacht, daß die Schwingungen der Töne Sandkörner in Bewegung setzen, welche auf einer Glasscheibe vereinigt sind – und zwar so, daß, wenn die Töne rein sind, die Sandkörner sich zu regelmäßigen Gestalten vereinigen, und daß, wenn die [118] Töne unrein sind, eben diese Sandkörner auf dem Glase Figuren ohne alle Symmetrie bilden. Der blindgeborne Sannderson sag[t]: „er stelle sich die Scharlachfarbe wie Trompetenschall vor,“ und ein Gelehrter hat für die Augen ein Clavier machen wollen, welches durch die Harmonie der Farben das Vergnügen, welches die Musik gewährt, nachahmen könnte. Ohne Unterlaß vergleichen wir die Malerei mit der Musik, die Musik mit der Malerei, weil die Rührungen, die wir empfinden, uns Analogieen enthüllen, wo die kalte Beobachtung nur Verschiedenheiten sehen würde. Jede Pflanze, jede Blüthe enthält das ganze Welt-System; ein Augenblick von Leben schließt die Ewigkeit in sich, und so wie das schwächste Atom eine Welt ist: so ist die Welt vielleicht nur ein Atom. Jeder Theil des Universums erscheint als ein Spiegel, in welchem die ganze Schöpfung dargestellt ist, und man weiß zuletzt nicht, was mehr Bewunderung einflößt, der Gedanke, der immer derselbe ist, oder die Form, welche beständig wechselt.

Man kann die Gelehrten dieses Fachs in Deutschland in zwei Classen theilen, nemlich in die, welche sich ganz der Beobachtung widmen, und in die, welche Anspruch machen auf die Ehre, die Geheimnisse der Natur errathen zu haben. Unter den ersteren muß man vor allen Werner anführen, welcher in der Mineralogie die Kenntniß von der Bildung des Erdballs und von den Epochen ihrer Geschichte gefunden hat; Herschel und Schröter, welche unaufhörlich neue Entdeckungen im Gebiet des Himmels machen; berechnende Astronomen, wie Zach und Bode; große Chemiker, wie Klaproth und Buchholz. Zur Classe der philosophischen Physiker muß [119] man Schelling, Ritter, Bader, Steffens u.s.w. rechnen. Die vorzüglichsten Geister dieser beiden Klassen nähern sich und verstehen sich; denn die philosophischen Physiker können die Erfahrung nicht verschmähen, und tiefe Beobachter versagen sich nie den möglichen Resultaten hoher Betrachtungen.

Schon hat man die Anziehungs- und Antriebskraft zum Gegenstand neuer Forschungen gemacht, und die Anwendung derselben auf die chemischen Verwandtschaften ist sehr glücklich ausgefallen. Das Licht, als ein Mittelstoff zwischen Materie und Geist betrachtet, hat Veranlassung gegeben zu sehr philosophischen Ansichten. Mit Achtung spricht man von Goethe's Arbeit über die Farben. Kurz, von allen Seiten ist in Deutschland die Nacheiferung von dem Wunsch und der Hoffnung gespornt, die Erfahrungs-Philosophie mit der spekulativen zu vereinigen, und dadurch die Wissenschaft des Menschen und der Natur zu vergrößern.

Der intellectuelle Idealismus macht aus dem Willen, welcher das Gemüth ist, den Mittelpunkt von Allem; das Princip des physischen Idealismus ist das Leben. Durch die Chemie, wie durch das Raisonnement, gelangt der Mensch zur höchsten Stufe der Analysis; aber durch die Chemie entschlüpft ihm das Leben, wie ihm durch das Raisonnement das Gefühl entläuft. Ein französischer Schriftsteller hatte behauptet, der Gedanke sey nichts weiter, als das materielle Produkt des Gehirns. Ein anderer Gelehrter hat gesagt, daß, wenn man in der Chemie nur erst gehörig vorgeschritten seyn würde, man wohl dahin gelangen könnte, zu wissen, wie man Leben macht. Der eine beleidigte die Natur, der andere die Seele. [120]

Man muß, sagte Fichte, begreifen, was als solches unbegreiflich ist. Dieser seltsame Ausdruck schließt einen tiefen Sinn in sich; man muß fühlen und erkennen, was der Analysis unzugänglich ist, und was nur durch den Aufflug des Gedankens erfaßt werden kann.

In der Natur hat man drei verschiedene Arten von Daseyn wahrzunehmen geglaubt: die Vegetation, die Reizbarkeit, die Empfindsamkeit. Die Pflanzen, die Thiere, die Menschen finden sich in diesen drei Arten des Lebens eingeschlossen; und wenn man diese scharfsinnige Eintheilung auf die Individuen unseres Geschlechts anwenden will: so wird man sehen, daß man sie gleichmäßig unter jenen verschiedenen Charakteren wiederfinden kann. Einige vegetiren, wie die Pflanzen, andere genießen oder reizen sich nach Art der Thiere, und die Edelsten endlich besitzen und entwickeln in sich die Eigenschaften, welche die menschliche Natur auszeichnen. Wie dem auch seyn möge, der Wille, welcher das Leben, das Leben, welches zugleich der Wille ist, enthalten das ganze Geheimniß des Universums und unserer selbst, und da man dieses Geheimniß weder läugnen noch erklären kann: so muß man nothwendig durch eine Art von Divination hinter dasselbe kommen.

Welchen Kraftaufwand würde es nicht erfordern, um mit einem nach dem Muster des Arms gebildeten Hebel die Last zu erschüttern, welche der Arm hebt? Sehen wir nicht täglich den Zorn, oder irgend eine andere Leidenschaft der Seele, die Kraft des menschlichen Körpers wie durch ein Wunder vermehren? Welches ist denn die geheimnißvolle Macht der Natur, die sich durch den Willen des [121] Menschen offenbart? Und wie könnte man, ohne seine Ursache und seine Wirkungen studirt zu haben, irgend eine wichtige Entdeckung in der Theorie der physischen Kräfte machen.

Die Lehre des Schottländers Brown, in Deutschland weit tiefer erforscht, als sonst wo, ist auf dasselbe System von Thätigkeit und Central-Einheit gegründet, welches in seinen Folgerungen so ungemein fruchtbar ist. Brown glaubte, der Zustand des Leidens, oder der Zustand der Gesundheit stehe in keiner Verbindung mit partiellen Uebeln, wohl aber mit der Intensität des Lebens-Princips, welches sich schwäche oder hebe, je nach den verschiedenen Wechseln des Daseyns.

Unter den englischen Gelehrten haben nur Hartley und sein Schüler Priestley die Metaphysik wie die Physik aus einem durchaus materialistischen Gesichtspunkt gefaßt. Zwar wird man behaupten, die Physik könne nicht anders behandelt werden; allein ich bin nicht dieser Meinung, was man auch von mir denken mag. Die, welche aus der Seele ein passives Wesen machen, verbannen mit desto größerem Rechte aus den positiven Wissenschaften das unerklärliche Uebergewicht des menschlichen Willens; und gleichwol giebt es mehrere Umstände, wo dieser Wille auf die Intensität des Lebens und das Leben selbst auf die Materie wirkt. Das Princip des Daseyns ist gleichsam ein Mittelding zwischen Körper und Seele, deren Macht nicht berechnet werden kann, die sich aber auch nicht läugnen läßt, wenn nicht verkannt werden soll, was die belebte Natur constituirt, und wenn man ihre Gesetze nicht auf bloßen Mechanismus zurückführen will.

Wie man auch über das System des Doctors [122] Gall urtheilen möge, er selbst wird von allen Gelehrten wegen der Studien und Entdeckungen geschätzt, die er in der Wissenschaft der Zergliederung gemacht hat; und wenn man die Organe des Gedankens, als von demselben verschieden betrachtet, d. h. als Mittel, die er gebraucht: so kann man, dünkt mich, zugeben, daß Gedächtniß und Calcul, die besondere Geschicklichkeit zu der und der Wissenschaft, das Talent für die und die Kunst, kurz alles, was der Intelligenz als Werkzeug dient, gewissermassen von dem Bau des Gehirns abhängt. Giebt es eine Stufenleiter vom Stein bis zum menschlichen Leben: so muß es auch in uns gewisse Fähigkeiten geben, die dem Körper und der Sele gleich sehr verwandt sind; und dahin gehört das Gedächtniß und der Calcul, die am meisten physischen unserer intellectuellen, die am meisten intellectuellen unserer physischen Vermögen. Allein der Irrthum würde von dem Augenblick anheben, wo man dem Bau des Gehirns den mindesten Einfluß auf unsere moralischen Eigenschaften einräumen wollte; denn der Wille ist vollkommen unabhängig von allen physischen Vermögen, und in der rein intellectuellen Thätigkeit dieses Willens besteht das Gewissen, welches von körperlicher Organisation frei ist und seyn muß. Alles, was uns die Verantwortlichkeit für unsere Handlungen zu rauben strebt, würde falsch und schlecht seyn.

Ein junger Arzt von großem Talent, Namens Koreff, zieht die Aufmerksamkeit Aller, die ihn gehört haben, durch ganz neue Betrachtungen über das Princip des Lebens, über die Thätigkeit des Todes, und die Ursachen des Wahnsinns auf sich. Die ganze Bewegung in den Geistern kündigt irgend [123] eine Revolution, selbst in der Art, die Wissenschaften anzuschauen, an. Die Resultate davon vorherzusehen, ist unmöglich; was man aber mit Wahrheit behaupten kann, ist, daß, wenn die Deutschen sich von der Einbildungskraft leiten lassen, sie keine Arbeit, keine Untersuchung, kein Studium sparen, und im höchsten Grade zwei Eigenschaften vereinigen, die sich auszuschließen scheinen, nemlich die Geduld und den Enthusiasmus.

Einige deutsche Gelehrten, welche den physischen Idealismus noch weiter treiben, bestreiten das Axiom, daß es keine Einwirkung aus Entfernung giebt, und wollen im Gegentheil die freiwillige Bewegung der Natur überall wieder einführen. Sie verwerfen die Hypothese der Flüssigkeiten, deren Wirkungen in mancher Hinsicht Aehnlichkeit haben würden mit mechanischen Kräften, welche sich heben und niederdrücken, ohne daß eine unabhängige Organisation sie leitet.

Die, welche die Natur als eine Intelligenz betrachten, geben dem Worte nicht den Sinn, den man gewöhnlich damit verbindet. Denn der Gedanke des Menschen besteht in der Fähigkeit, sich aus sich selbst zurückzuziehen, und die Intelligenz schreitet vor, wie der Instinkt der Thiere. Der Gedanke beherrscht sich selbst, weil er richtet; die Intelligenz ohne Nachsinnen, ist eine Macht, die immer nach außen hingezogen ist. Wenn die Natur nach den regelmäßigsten Formen kristallisirt: so folgt daraus noch nicht, daß sie Mathematik versteht; wenigstens weiß sie selbst nicht, was sie thut, und das Bewußtseyn ihrer selbst geht ihr ab. Die deutschen Gelehrten schreiben den physischen Kräften eine gewisse individuelle Originalität zu; und [124] auf der anderen Seite scheinen sie in ihrer Art und Weise, einige Phänomene des thierischen Magnetismus darzustellen, einzuräumen, daß der Wille des Menschen ohne äußeren Act einen sehr starken Einfluß auf die Materie, besonders aber auf die Metalle ausübt.

Pascal sagt: „die Astrologen und Alchymisten haben einige Principien, aber sie misbrauchen dieselben.“ Im Alterthum hat es vielleicht innigere Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur gegeben, als heut zu Tage. Die Mysterien von Eleusis, der Gottesdienst der Aegyptier, das System der Emanationen bei den Hindus, die Anbetung der Elemente und der Sonne bei den Persern, die Harmonie der Zahlen, welche die Lehre des Pythagoras begründete, sind Spuren einer Anziehung, welche den Menschen mit der Natur vereinigte.

Der Spiritualismus hat dadurch, daß er die Macht des Nachdenkens befestigte, den Menschen von den physischen Einflüssen befreit, und die Reformation, in dem sie die Neigung zur Analysis vermehrte, hat die Vernunft gegen die Eindrücke der Einbildungskraft auf ihrer Huth zu seyn gelehrt. Die Deutschen streben nach der wahren Vervollkommnung des Geistes, wenn sie die Eingebungen der Natur durch die Erleuchtungen des Gedankens wieder aufzuwecken suchen.

Täglich führt die Erfahrung die Gelehrten zur Anerkennung von Phänomenen, an welche man nicht mehr glaubte, weil sie mit abergläubischen Begriffen vermengt waren, und weil man ehemals Vorbedeutungen daraus machte. Die Alten haben erzählt, daß Steine vom Himmel gefallen sind, und in unseren Tagen ist die Zuverlässigkeit dieses Factums [125] bestätigt worden, dessen Daseyn man geläugnet hatte. Die Alten haben von Regen, der roth wie Blut sey, und von unterirdischen Gewittern gesprochen, und neuerlich hat man sich von der Wahrheit ihrer Aussage in dieser Hinsicht vergewissert.

Die Astronomie und die Musik sind die Wissenschaft und die Kunst, welche die Menschen im fernsten Alterthum gekannt haben. Warum sollten die Töne und die Gestirne nicht durch Beziehungen vereinigt seyn, die von den Alten gefühlt worden sind, und die wir wieder auffinden können? Pythagoras hatte behauptet, daß die Planeten unter sich in eben der Entfernung wären, wie die sieben Saiten der Lyra; und man behauptet, daß er die neuen Planeten geahnet habe, welche zwischen Mars und Jupiter entdeckt worden sind  1). Es scheint, als sey ihm das wahre System des Himmels, die Unbeweglichkeit der Sonne, nicht unbekannt gewesen, weil Copernikus sich in dieser Hinsicht auf seine, im Cicero angeführte, Meinung stützt. Woher doch diese erstaunlichen Entdeckungen ohne die Beihülfe der neuen Erfahrungen und Maschinen, in deren Besitz die neueren sind? Daher, daß die Alten, von der Fackel des Genies geleitet, kühn daher schritten. Sie bedienten sich der Vernunft, auf welcher die Intelligenz des Menschen beruht; aber sie befragten auch die Einbildungskraft, welche die Priesterin der Natur ist.

Was wir Irrthümer und Wahnbegriffe nennen, [126] hing vielleicht mit Naturgesetzen zusammen, die uns noch unbekannt sind. Die Beziehungen der Planeten mit den Metallen, der Einfluß dieser Beziehungen, die Orakel sogar, und die Vorhersagungen – konnte dies alles nicht unbekannte Kräfte, von welchen wir keine Idee mehr haben, zur Ursache haben? Und wer weiß, ob nicht ein Keim von Wahrheit in allen den fabelhaften Erzählungen, in allen den Glaubenslehren liegt, die man mit dem Namen der Thorheit gebrandmarkt hat? Es folgt daraus keinesweges, daß man auf die Experimental-Methode, welche den Wissenschaften so nothwendig ist, verzichten müsse. Aber warum sollte man diese Methode nicht zum höchsten Führer einer Philosophie wählen, welche das Universum in seiner Ganzheit umfaßt, und auch die Nachtseite der Natur nicht verachtet, abwartend, daß das Licht auch über diese ausströmen werde?

Diese Manier, die physische Welt zu betrachten, ist Poesie, wird man sagen; allein, auf eine zuverlässige Weise lernt man sie nur durch die Erfahrung kennen, und alles, was sich nicht mit Beweis verträgt, kann eine Belustigung des Geistes seyn, führt aber nie zu sicheren Fortschritten. Unstreitig haben die Franzosen Recht, wenn sie den Deutschen Achtung für die Erfahrung empfehlen; aber sie haben Unrecht, wenn sie die Ahnungen des Nachdenkens lächerlich machen, die einst durch die Kenntniß der Thatsachen bestätigt werden können. Die meisten großen Entdeckungen haben Anfangs abgeschmackt geschienen, und der Mann von Genie wird niemals etwas leisten, wenn er sich vor dem Spott fürchtet. Dieser ist kraftlos, wenn man ihn verachtet; aber er gewinnt ein niederdrückendes [127] Uebergewicht, wenn man ihn fürchtet. In den Feenmärchen sieht man Phantome, welche sich den Unternehmungen der Ritter widersetzen, und die Ritter so lange quälen, bis sie weiter gegangen sind; dann verschwinden alle Zaubereien, und die fruchtbare Flur stellt sich ihren Blicken dar. Neid und Mittelmäßigkeit üben auch ihre Zaubereien aus; aber man muß auf die Wahrheit losgehen, ohne sich um die scheinbaren Hindernisse, welche sich darstellen, mehr als nöthig ist, zu bekümmern.

Als Keppler die harmonischen Gesetze der Bewegung der Himmelskörper entdeckt hatte, drückte er seine Freude darüber folgender Gestalt aus: „Endlich, nach achtzehn Monaten, hat ein erster Strahl mich erleuchtet, und an diesem denkwürdigen Tage habe ich zuerst den reinen Glanz erhabener Wahrheiten empfunden. Nichts hält mich jetzt zurück: ich gebe mich meiner heiligen Gluth hin, ich wage der Sterblichen zu spotten, indem ich ihnen bekenne, daß ich mich weltlicher Wissenschaft bedient, daß ich Aegyptens Gefäße geraubt habe, um meinem Gott einen Tempel zu erbauen. Verzeiht man mir, so werd' ich mich freuen; tadelt man mich, so werde ich es ertragen, Geworfen ist das Loos; ich schreibe mein Buch. Es werde von meinen Zeitgenossen, oder von der Nachwelt gelesen, gleichviel. Leicht kann es ein ganzes Jahrhundert einen Leser erwarten, da es Gott selbst sechs tausend Jahre hindurch an einem Beschauer gefehlt hat, wie ich bin.“ Dieser kühne Ausdruck eines stolzen Enthusiasmus beweiset die innere Kraft des Genies.

Goethe hat über die Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geistes ein scharfsinniges Wort [128] gesagt, nemlich: Er schreitet vor, aber auf der Spirallinie! Diese Vergleichung ist um so angemessener, weil er in gewissen Epochen zurückzugehen scheint, und dann mit einem Male wiederkehrt, nachdem er einige Grade mehr gewonnen hat. Es giebt Augenblicke, wo der Skepticismus für die Fortschritte in den Wissenschaften nothwendig ist; es giebt andere, in welchen, nach Hemsterhuis, der Wunderglaube den Sieg über den geometrischen Geist davon tragen muß. Wenn der Mensch durch den Unglauben verzehrt, oder vielmehr zu Staub gemacht ist, dann ist dieser Wunderglaube das Einzige, was dem Gemüthe eine Kraft der Bewunderung zurückgiebt, ohne welche die Natur sich nicht begreifen läßt.

In Deutschland hat die Theorie der Wissenschaften, Wissenschaftslehre genannt, den Geistern denselben Schwung gegeben, welchen die Metaphysik im Studium des Gemüths veranlaßt hatte. In den physischen Phänomenen nimmt das Leben denselben Rang ein, welchen der Wille in der moralischen Ordnung behauptet. Wenn die Beziehungen beider Systeme ihnen das Verbannungsurtheil von gewissen Personen zuziehen: so giebt es Andere, welche in diesen Beziehungen die doppelte Garantie derselben Wahrheit erblicken. So viel ist wenigstens gewiß, daß die anziehende Kraft der Wissenschaften durch diese Manier, sie alle an gewisse Haupt-Ideen anzuknüpfen, ungemein vermehrt worden ist. Die Dichter könnten in den Wissenschaften eine Menge Gedanken für sich finden, wenn sie durch die Philosophie des Universums unter sich in Zusammenhang ständen, und wenn diese Philosophie, anstatt abstrakt zu seyn, durch die unerschöpfliche [129] Quelle des Gefühls belebt wäre. Das Universum hat mehr Aehnlichkeit mit einem Gedicht, als mit einer Maschine; und wenn eine Wahl darüber entschiede, ob man es mit der Einbildungskraft oder mit dem Geiste der Mathematik auffassen sollte: so würde die Einbildungskraft sich der Wahrheit weit mehr nähern. Aber noch einmal, man muß nicht wählen, weil die Totalität unseres moralischen Seyns auf ein so wichtiges Nachgrübeln verwendet werden muß.

Das neue System allgemeiner Physik, welches in Deutschland der Experimental-Physik zum Führer dient, kann nur nach seinen Resultaten beurtheilt werden. Man muß also abwarten, ob es den menschlichen Geist zu neuen und bestätigten Entdeckungen führen werde. Was man nicht läugnen kann, sind die Beziehungen, welche dies System zwischen den verschiedenen Studien-Zweigen feststellt. Man flieht sich gewöhnlich einer den andern, wenn man verschiedene Verrichtungen hat, weil man sich gegenseitig Langeweile macht. Der Gelehrte hat dem Dichter, der Dichter dem Physiker nichts zu sagen, und selbst unter den Anbauern verschiedener Wissenschaften findet gegenseitige Abneigung Statt. Dem kann aber nicht länger so seyn, seitdem eine Central-Philosophie eine Verwandtschaft höherer Art unter den Gedanken stiftet. Die Gelehrten ergründen die Natur mit Hülfe der Einbildungskraft; die Poeten finden in den Wissenschaften die wahren Schönheiten der Natur; und die Unterrichteten sowohl als die Gelehrten bereichern die Dichter, jene durch Zurückerinnerungen, diese durch Analogieen.

Vereinzelt und als fremdes Domän dem Gemüthe [130] dargestellt, ziehen die Wissenschaften, die exaltirten Köpfe nicht an. Die meisten von Denen, welche sich ihnen geweihet haben, haben, bis auf wenige ehrenvolle Ausnahmen, unserem Jahrhundert die Tendenz zum Calcul gegeben, welcher in allen Fällen zur Ausmittelung des Stärkeren so geschickt ist. Die deutsche Philosophie führt die physischen Wissenschaften in die allgemeine Sphäre der Ideen zurück, wo die kleinsten Beobachtungen wie die größten Resultate an dem Interesse des Ganzen hängen.

 

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1) Herr Prevost, Professor der Philosophie zu Genf, hat über diesen Gegenstand eine kleine Schrift von großem Interesse herausgegeben. Dieser philosophische Schriftsteller ist in Europa eben so bekannt, als er in seinem Vaterlande geachtet ist.