BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Sechszehntes Capitel.

 

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Jakobi.

 

Es ist schwer, in irgend einem Lande auf einen Gelehrten von ausgezeichneterem Wesen zu stoßen, [169] als Jakobi's Wesen ist; denn mit allen Vorzügen der Gestalt und des Glücks hat er sich, von Jugend an, seit 42 Jahren dem Nachdenken gewidmet. Gewöhnlich ist die Philosophie ein Trost oder ein Asyl; aber wer sie wählt, wenn alle Umstände ihm große Erfolge in der Welt verheißen, verdient nur um so größere Achtung. Von seinem Charakter zur Anerkennung der Macht des Gefühls hingezogen, hat sich Jacobi mit abstrakten Ideen beschäftigt, besonders um ihre Unzulänglichkeit darzuthun. Seine Schriften über die Metaphysik werden in Deutschland sehr geschätzt; indeß ist sein Ruf als großer Moralist am meisten verbreitet.

Er war der Erste, der die auf den Eigennutz gegründete Moral bestritt, und indem er der seinigen ein philosophisch betrachtetes religiöses Gefühl zum Princip gab, bildete er eine von der Kantischen verschiedene Lehre, sofern jene alles auf das unbeugsame Gesetz der Pflicht bezieht; und eben so verschieden war seine Lehre von der der neuen Metaphysiker, welche, wie ich bemerkt habe, das Mittel suchen, die wissenschaftliche Strenge auf die Theorie der Tugend anzuwenden.

Schiller sagt in einem Epigramm auf das Kantische Moral-System: Es macht mir Freude, meinen Freunden zu dienen; es ist mir angenehm, meine Pflichten zu erfüllen; nur das beunruhigt mich, daß ich alsdann nicht tugendhaft bin. Dieser Spott schließt einen tiefen Sinn in sich; denn, obgleich das Glück nie der Zweck der Pflichterfüllung seyn darf: so ist doch die innere Zufriedenheit, welche sie verursacht, gerade das, was man die Seligkeit der Tugend nennen kann. Dies Wort (Seligkeit) hat etwas von seiner Würde verloren; aber man [170] muß sich seiner wieder bedienen, denn man ist genöthigt, die Art von Eindrücken zu bezeichnen, welche die Glückseligkeit, oder wenigstens das Vergnügen, einem sanfteren und reineren Gemüthszustande aufopfern macht.

In Wahrheit, wenn das Gefühl nicht die Moral unterstützt, wie würde sie wohl Gehorsam finden? Wie will man, wenn es nicht durch das Gefühl geschieht, die Vernunft und den Willen vereinigen, so oft dieser Wille unsere Leidenschaften zur Nachgiebigkeit bewegen soll? Ein deutscher Denker hat gesagt: „es gebe keine andere Philosophie, als die christliche Religion;“ und wahrlich, er hat es nicht gesagt, um die Philosophie auszuschließen, sondern nur, weil er überzeugt war, daß die höchsten und die tiefsten Ideen zur Entdeckung der wunderbaren Übereinstimmung dieser Religion mit der Natur des Menschen führen. Zwischen diesen beiden Klassen von Moralisten, von welchen die eine, nemlich die Kantische, alle Handlungen auf unveränderliche Vorschriften bezieht, die andere, nemlich die Jacobische, verlangt, daß alles der Entscheidung des Gefühls überlassen werden müsse, – zwischen diesen Klassen, sag' ich, scheint das Christenthum den Wunderpunkt anzugeben, wo das positive Gesetz nicht die Eingebung des Herzens, und diese nicht das positive Gesetz ausschließt.

Jacobi, der so viel Ursache hat, der Reinheit seines Gewissens zu vertrauen, hat es mit Unrecht zu einem Princip erhoben, daß man sich gänzlich auf den Rath verlassen kann, den die Bewegung des Herzens giebt; die Trockenheit einiger unduldsamen Schriftsteller, welche weder Modification, noch Nachsicht in der Anwendung einiger Vorschriften [171] gestatten, hat Jacobi'n in das entgegengesetzte Aeußerste geworfen.

Sind die französischen Moralisten einmal strenge, so sind sie es in einem so hohen Grade, daß sie den individuellen Charakter des Menschen vernichten; im Geiste der Nation liegt die Liebe für alles, was Gewalt heißt. Die deutschen Philosophen, vorzüglich aber Jacobi, achten das, was die besondere Existenz eines jeden Wesens konstituirt, und beurtheilen die Handlungen nach ihrer Quelle, d. h. nach dem guten oder bösen Antrieb, der sie verursacht hat. Es giebt tausend Mittel, ein sehr böser Mensch zu seyn, ohne irgend ein hergebrachtes Gesetz zu verletzen; gerade wie man eine abscheuliche Tragödie schreiben kann, indem man alle Regeln und alle theatralischen Schicklichkeiten beobachtet. Ist das Gemüth ohne natürlichen Schwung: so möchte es gern wissen, was man in jeder gegebenen Lage zu sagen und zu thun hat, um weder sich selbst, noch Anderen etwas schuldig zu bleiben, indem es sich dem unterwirft, was einmal verordnet ist. Indeß kann das Gesetz weder in der Moral, noch in der Poesie etwas mehr lehren, als was man nicht thun muß, und in allen Dingen wird das Gute und Erhabene uns nur durch die Göttlichkeit des Herzens offenbart.

Die öffentliche Nützlichkeit, so wie ich sie in den vorhergehenden Capiteln entwickelt habe, konnte durch die Moralität zur Immoralität führen. In Privat-Verhältnissen hingegen kann ein ganz vollkommenes Betragen – vollkommen nach dem Urtheil der Welt – von einem bösen Princip herrühren , d. h. es ist möglich, daß dieses Betragen mit etwas Dürrem, Gehässigem und Mitleidslosen in [172] Verbindung steht. Die natürlichen Leidenschaften und die überwiegenden Talente misfallen Denjenigen, die man allzu leichtsinnig mit der Benennung von Strengen beehrt: sie bemächtigen sich ihrer Moralität, die, ihrem Vorgeben nach, von Gott kommt, wie ein Feind den Degen des Vaters nehmen würde, um die Kinder damit zu verwunden.

Indeß wird Jacobi von seinem Abscheu vor der unbeugsamen Strenge des Gesetzes zu weit geführt, indem er sich davon befreien möchte. „Ja“, sagt er, „ich würde wie die sterbende Desdemona lügen 1); ich würde täuschen, wie Orestes, als er an der Stelle seines Pylades sterben wollte; ich würde ermorden, wie Timoleon; ich würde falsch schwören, wie Epaminondas und wie Johann de Witt; ich würde mich zum Selbstmord bestimmen, wie Cato; ich würde Tempelraub begehen, wie David: denn ich trage die Gewißheit in mir, daß der Mensch, indem er solchen Vergehungen nach den Buchstaben verzeiht, das souveräne Recht übt, welches die Majestät seines Wesens ihm verleiht; das Siegel seiner Würde, das Siegel seiner göttlichen Natur drückt er auf die Gnade, die er widerfahren läßt.“

„Wollt ihr ein allgemeines und streng wissenschaftliches System feststellen: so müßt ihr diesem System, welches das Leben versteinert hat, das Gewissen unterwerfen; dies Gewissen muß taubstumm und unempfindlich werden; seine letzten Wurzeln müssen ausgerauft werden, d. h. das Herz des [173] Menschen selbst. Ja, gerade so wie eure metaphysischen Formeln auch den Apoll und die Musen ersetzen, eben so müßt ihr euer Herz zum Schweigen bringen, um euch euren Gesetzen ohne Ausnahme zu unterwerfen, und den starren und knechtischen Gehorsam anzunehmen, den sie verlangen. Dann wird das Gewissen dazu dienen, euch wie ein Professor vom Lehrstuhl zu lehren, was in der Außenwelt wahr ist, und dieser innere Leuchtthurm wird nur allzu bald zu einer hölzernen Hand werden, die aufs Heerstraßen den Reisenden den Weg anzeigt.“

Jacobi ist von seinen eigenen Gefühlen so gut geleitet worden, daß er vielleicht nicht hinlänglich an die Folgen dieser Moral für den gemeinen Menschenschlag gedacht hat. Denn was soll man Denen antworten, die, indem sie sich von der Pflicht entfernen, behaupten könnten, sie folgten nur den Bewegungen ihres Gewissens? Unstreitig wird man die Entdeckung machen, daß sie Heuchler sind, indem sie also sprechen; aber man hat ihnen das Argument gegeben, womit sie sich rechtfertigen können, was sie auch thun mögen; und es ist für die Menschen genug, wenn sie ihr Betragen durch Phrasen beschönigen können. Erst betrügen sie Andere damit, und zuletzt sich selbst.

Will man sagen: diese unabhängige Lehre passe sich nur für wahrhaft tugendhafte Charaktere? Es darf keine Privilegien geben, selbst für die Tugend nicht; denn von dem Augenblick an, wo sie dergleichen verlangt, hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach schon aufgehört, dergleichen zu verdienen. Im Gebiete der Pflicht herrscht eine erhabene Gleichheit, und in dem Innern des menschlichen Herzens geht [174] etwas vor, was ihm, wenn er aufrichtig will, die Mittel giebt, allen Eingebungen des Enthusiasmus genug zu thun, ohne aus den Schranken des christlichen Gesetzes herauszutreten, welches auch das Werk eines heiligen Enthusiasmus ist.

Kants Lehre kann in der That als allzu trocken betrachtet werden, weil er der Religion nicht Einfluß genug verstattet; allein man muß nicht darüber erstaunen, daß er zu einer Zeit, wo sich, besonders in Deutschland, eine affectirte Empfindsamkeit, Empfindelei genannt, verbreitet hatte, welche die Schnellkraft der Geister und der Charaktere schwächte – daß er, sag' ich, in einer solchen Zeit nicht geneigt war, das Gefühl zur Grundlage seiner Moral zu machen. Ein Genius, wie der des Königsberger Philosophen, mußte sich zum Zwecke machen, die Gemüther von neuem zu härten.

Die deutschen Moralisten der neuen Schule, die in ihren Gesinnungen so rein sind, können, welchem abstrakten System sie auch angehören mögen, in drei Klassen getheilt werden. Nemlich in die, welche, wie Kant und Fichte, dem Pflichtgesetze eine wissenschaftliche Theorie und eine unbeugsame Anwendung haben geben wollen; ferner in die (an deren Spitze Jacobi gestellt werden muß) welche das religiöse Gefühl und das natürliche Gewissen zu Führern nehmen; endlich in die, welche die Offenbarung zur Basis des Glaubens machen, Gefühl und Pflicht zu vereinigen streben, und beide durch eine philosophische Deutung zusammenzuhalten suchen. Diese drei Klassen von Moralisten sind gleich entschiedene Gegner der auf den Eigennutz gegründeten Moral, welche in Deutschland beinahe gar keine Anhänger mehr hat. Das Böse [175] kann man in diesem Lande thun; aber wenigstens muß man die Theorie des Guten unangetastet lassen.

 

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1) Um ihrem Gemahl die Schande und die Gefahr des von ihm so eben begangenen Verbrechens zu ersparen, erklärt Desdemona im Sterben, daß sie sich selbst getödtet hat.