BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Zwanzigstes Capitel.

 

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Von den Moralisten der alten Schule

in Deutschland.

 

Ehe die neue Schule in Deutschland zwei Neigungen geweckt hatte, welche sich auszuschließen scheinen, ich meine die Metaphysik und die Poesie, die wissenschaftliche Methode und den Enthusiasmus, gab es daselbst Schriftsteller, welche einen ehrenvollen Platz neben den englischen Moralisten verdienten. Mendelssohn, Garve, Sulzer Engel, u. s. w. haben über die Gefühle und die [191] Pflichten mit Empfindsamkeit, Religion und Herzenseinheit geschrieben. In ihren Werken findet man nicht die scharfsinnige Kenntniß der Welt, welche französische Autoren, wie Larochefoucault, la Bruyere u. s. w. charakterisirt. Die deutschen Moralisten malen die Welt mit einer gewissen Unwissenheit, die Anfangs anzieht, zuletzt aber eintönig wird.

Vor allen ist Garve Derjenige gewesen, der das meiste Gewicht darauf gelegt hat, von der guten Gesellschaft, von der Mode, von der Artigkeit u. s. w. gut zu reden. In seiner Manier, sich über diese Gegenstände auszudrücken, entdeckt man eine große Neigung, sich als Weltmensch zu zeigen, von allen Dingen die Gründe anzugeben, gewitzigt zu seyn, wie ein Franzose, und über Hof und Stadt mit Wohlwollen zu urtheilen: aber die gemeinen Ideen, welche er über diese Gegenstände in seinen Schriften auskramt, beweisen, daß er Alles nur vom Hörensagen kennt, und nie beobachtet hat, was die Verhältnisse der Gesellschaft von feinen und zarten Ansichten darbieten können.

Spricht Garve dagegen von der Tugend, so zeigt er reine Einsichten und einen heiteren Verstand; besonders anziehend und original ist er in seiner Abhandlung über die Geduld. Von einer grausamen Krankheit niedergedrückt, verstand er sie mit einem bewundernswürdigen Muthe zu ertragen, und alles, was man selbst gefühlt hat, giebt neue Gedanken ein.

Mendelssohn, ein geborner Jude, hatte sich, im Schooße des Handels, dem Studium der schönen Wissenschaften und der Philosophie gewidmet, ohne im mindesten den Glauben oder den Gebräuchen seiner Religion zu entsagen. Als ein aufrichtiger Bewunderer des Phädon, den er übersetzt hatte, war [192] er bei den Ideen und Gefühlen stehen geblieben, welche vor Jesus Christus vorhergiengen; und da er aus den Psalmen und der Bibel schöpfte: so tragen seine Schriften den Charakter hebräischer Einfalt. Er fand Vergnügen daran, die Moral durch Fabeln in orientalischer Manier fühlbar zu machen; und diese Form gefällt unstreitig am meisten, weil sie den Ton der Zurechtweisung aus den Vorschriften entfernt.

Von diesen Apologen will ich einen übersetzen, der mir merkwürdig scheint. „Unter der tyrannischen Regierung der Griechen wurde einmal den Israeliten bei Todesstrafe verboten, die göttlichen Gesetze unter sich zu lesen. Trotz dieses Verbots hielt Rabbi Akiba Versammlungen, wo er dies Gesetz verlas. Pappus erfuhr es, und sagte zu ihm: Akiba, fürchtest du nicht die Drohungen dieser Grausamen? – Ich will dir eine Fabel erzählen, antwortete der Rabbi. – Ein Fuchs ging am Ufer eines Flusses spazieren, und sah wie die Fische sich voll Schrecken auf dem Grunde des Gewässers versammelten. – Woher der Schrecken, der euch beunruhigt? fragte der Fuchs. – Die Menschenkinder, antworteten die Fische, werfen ihre Netze in die Fluthen, um uns zu fangen, und wir suchen ihnen zu entkommen. – Wißt ihr, was ihr thun müßt? sagte der Fuchs. Kommt auf jenen Felsen dort, wo euch die Menschen nichts anhaben können. – Ist es möglich, riefen die Fische, daß du der Fuchs seyest, der für das klügste unter den Thieren gilt? Du würdest von allen das unwissendste seyn, wenn du uns diesen Rath im Ernste gäbest. Die Welle ist unser Lebenselement; und dürfen wir es aufgeben, weil [193] Gefahren uns bedrohen? – Pappus, die Anwendung dieser Fabel ist leicht. Die religiöse Lehre ist für uns die Quelle alles Wohlseyns; durch sie, und durch sie allein existiren wir; und wenn man uns in ihrem Schooß verfolgen sollte: so wollen wir uns nicht der Gefahr entziehen, indem wir uns in die Arme des Todes flüchten.“

Die meisten Weltmenschen geben keinen besseren Rath, als der Fuchs; wenn sie gefühlvolle Seelen von den Qualen des Herzens gefoltert sehen: so schlagen sie ihnen immer vor, aus der Luft, wo der Sturm herrscht, in die Leere zu treten, welche tödtet.

Wie Mendelssohn, lehrt Engel die Moral auf eine dramatische Weise. Seine Dichtungen bedeuten wenig; aber ihr Verhältniß zum Gemüth ist innig. In einer derselben stellt er einen Greis dar, der durch die Undankbarkeit seines Sohnes närrisch geworden ist; und das Lächeln dieses Greises, während man sein Unglück erzählt, ist mit einer herzzerreissenden Wahrheit geschildert. Der Mensch, der nicht mehr das Bewußtseyn seiner selbst hat, erschreckt wie ein lebloser Körper, der sich bewegt. „Ein Baum, sagt Engel, dessen Zweige vertrocknet sind; seine Wurzeln kleben noch an der Erde, aber sein Wipfel ist schon vom Tode getroffen.“ Ein junger Mensch fragt beim Anblick dieses Unglücklichen seinen Vater, ob es hienieden eine noch schrecklichere Bestimmung gebe, als die, dieses armen Narren? Alle Leiden, welche tödten, alle, von welchen unsere Vernunft Zeuge ist, scheinen ihm nichts gegen dieses beweinenswerthe Nicht-Bewußtseyn seiner selbst. Der Vater läßt seinen Sohn alles Schreckliche dieser Lage entwickeln, und [194] plötzlich legt er ihm die Frage vor: ob die Lage des Verbrechers, welcher jene verursacht hat, nicht noch tausendmal furchtbarer sey? Die Abstufung der Gedanken ist in dieser Erzählung sehr gut gehalten, und das Gemählde der Gewissensfoltern beredt genug dargestellt, um den Schrecken der fürchterlichsten von allen, der Gewissensangst, zu verdoppeln.

Ich habe die Stelle des Messias angeführt, wo der Dichter in einem entfernten Planeten, dessen Bewohner unsterblich sind, einen Engel annimmt, welcher die Nachricht bringt, daß es eine Erde giebt, wo die menschlichen Geschöpfe dem Tode unterworfen sind. Klopstock entwirft ein bewundernswürdiges Gemählde von dem Erstaunen dieser Wesen, welchen der Schmerz über den Verlust geliebter Gegenstände unbekannt ist. Engel entwickelt eine nicht minder schlagende Idee mit Talent. Ein Mann hat umkommen sehen, was ihm das Theuerste war: seine Frau und seine Tochter. Ein Gefühl von Bitterkeit und Empörung gegen die Vorsehung hat sich seiner bemächtigt. Ein alter Freund sucht sein Herz jenem tiefen aber gefaßten Schmerze, der sich in dem Schooße der Gottheit ergießt, wieder zu öffnen; er will ihm zeigen, daß der Tod die Quelle aller Genüsse des Menschen ist.

Würde es elterliche und kindliche Zuneigungen geben, wenn das Daseyn der Menschen nicht zugleich dauerhaft und flüchtig, festgehalten vom Gefühl und fortgerissen von der Zeit, wäre? Wenn es in der Welt keinen Verfall gäbe: so würde es auch keine Fortschritte geben. Wie sollte man also Furcht und Hoffnung empfinden? Kurz, in jeder Handlung, in jedem Gefühl, in jedem Gedanken ist ein Theil vom Tode. Und nicht blos in der That, [195] sondern selbst in der Einbildung, sind die Freuden und Leiden, welche von der Unbeständigkeit des Lebens herrühren, unzertrennlich. Das ganze Daseyn besteht in jenen Empfindungen des Vertrauens und der Angst, welche die zwischen Himmel und Erde schwebende Seite erfüllen, und das Leben hat keine andere Triebfeder, als das Sterben.

Von den Gewittern der mittäglichen Gegenden erschreckt, wünschte eine Frau einst nach der Eiszone zu wandern, wo man nie den Donner hört, nie die Blitze sieht. Ungefähr eben so, sagt Engel, verhält es sich mit unseren Klagen über das Schicksal. In der That, man muß die Natur entzaubern, wenn man die Gefahren daraus entfernen will. Der Reiz der Welt steht mit dem Schmerz und dem Vergnügen, mit dem Entsetzen und der Hoffnung in gleicher Verbindung; und man möchte sagen, die menschliche Bestimmung sey angeordnet, wie ein Drama, in welchem Schrecken und Mitleid nothwendig sind.

Um die Wunden des Herzens zu vernarben, reichen diese Gedanken freilich nicht aus; denn alles, was es empfindet, erscheint ihm als ein Umsturz der Natur, und Niemand hat gelitten, ohne zu glauben, es herrsche eine große Unordnung im Universum. Aber wenn ein langer Zeitraum zum Nachdenken hingeleitet hat: so findet man einige Ruhe in den allgemeinen Betrachtungen, und vereinigt sich mit den Gesetzen der Natur, indem man sich losreißt von sich selber.

Die deutschen Moralisten der alten Schule sind größtentheils religiös und empfindsam; ihre Theorie der Tugend ist uneigennützig; sie gestatten nicht jene Lehre von der Nützlichkeit, die, wie in China, [196] dahin führen würde, daß man die Kinder in den Fluß würfe, wenn die Bevölkerung allzu zahlreich würde. Ihre Werke sind voll von philosophischen Ideen und melancholischen und zärtlichen Gefühlen. Dies reichte aber nicht aus, um die selbstische mit hochfahrender Ironie bewaffnete Moral zu bekämpfen. Dies war nicht genug, um Sophismen zu widerlegen, deren man sich gegen die wahrsten und besten Principe bedient hatte. Die sanfte, bisweilen sogar furchtsame Empfindsamkeit der alten deutschen Moralisten war nicht vermögend, die gewandte Dialektik und die geschniegelte Spötterei, die, wie alle bösen Gefühle, nur die Stärke ehren, mit Erfolg zu Boden zu werfen. Gestähltere Waffen sind erforderlich, nur die zu besiegen, welche das Laster geschmiedet hat; und deshalb haben die Philosophen der neuen Schule mit Recht geglaubt, daß es einer strengeren, einer vollkräftigeren, einer in ihren Argumenten geschlosseneren Lehre bedürfe, um über die Verderbtheit des Jahrhunderts zu triumphiren.

Ohne Zweifel reicht alles Einfache für alles Gute aus; wenn man aber in einer Zeit lebt, wo versucht worden ist, den Verstand der Immoralität zuzuwenden: so muß man es darauf anlegen, das Genie für die Vertheidigung der Tugend zu gewinnen. Unstreitig ist es sehr gleichgültig, der Einfältigkeit angeklagt zu werden, wenn man ausdrückt, was man fühlt; aber dies Wort (Einfältigkeit) verursacht mittelmäßigen Köpfen so viel Furcht, daß man sie, wo möglich, vor seinem Angriff bewahren muß.

Aus bloßer Furcht, daß man ihre Rechtlichkeit lächerlich mache, wollen die Deutschen bisweilen, [197] wenn gleich gegen ihre bessere Ueberzeugung, es mit der Immoralität versuchen, um sich ein glänzendes und freies Ansehen zu geben. Die neuen Philosophen haben ihren Styl und ihre Anschauungen zu einer großen Höhe erhoben, um der Eigenliebe ihrer Adepten auf eine geschickte Weise zu schmeicheln; und man muß sie wegen dieses unschuldigen Kunstgriffs loben; denn um die Stärkeren zu werden, müssen die Deutschen etwas verwerflich finden. Es ist allzu viel Treuherzigkeit, sowohl in ihrem Charakter, als in ihrem Geiste; es sind vielleicht die einzigen Menschen, denen man rathen könnte, stolz zu seyn, um besser zu werden. Läugnen läßt sich nicht, daß die Zöglinge der neuen Schule diesen Rath ein wenig zu sehr befolgt haben: allein sie sind deshalb nicht weniger die aufgeklärtesten und muthigsten Schriftsteller ihres Landes, bis auf einige Ausnahmen.

– Welche Entdeckung haben sie gemacht, wird man fragen? – Es leidet keinen Zweifel, daß das, was vor zweitausend Jahren in moralischen Dingen wahr war, es auch jetzt sey; allein seit zwei Jahrtausenden haben sich die Raisonnements der Niederträchtigkeit und Verderbtheit dergestalt vermehrt, daß ein rechtschaffener Philosoph seine Bestrebungen nach diesem traurigen Fortschreiten abmessen muß. Die gewöhnlichen Ideen können nicht gegen die systematische Immoralität kämpfen; man muß den Schacht weiter treiben, wenn die äußeren Adern kostbarer Metalle erschöpft sind. In unseren Tagen hat man die Schwäche so oft mit der Tugend vereinigt gesehen, daß man sich gewöhnt hat zu glauben, in der Immoralität sey Thatkraft. Die deutschen Philosophen – und [198] Dank und Ruhm werde ihnen dafür zu Theil! sind im achtzehnten Jahrhundert die ersten gewesen, welche den Verstand zum Glauben, das Genie zur Moral, und den Character zur Pflicht hingezogen haben.