BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Ein und zwanzigstes Capitel.

 

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Von der Unwissenheit und von der Leichtfertigkeit

des Geistes in ihren Verhältnissen zur Moral.

 

Die Unwissenheit, welche es vor einigen Jahrhunderten gab, achtete die Einsichten und wünschte dergleichen zu erwerben; die Unwissenheit unseres Jahrhunderts ist abschätzig, und sucht die Arbeiten und Nachforschungen aufgeklärter Männer lächerlich zu machen. Der philosophische Geist hat beinahe in allen Klassen eine gewisse Leichtigkeit des Raisonnements verbreitet, welche dazu dient, alles Große und Ernste in der menschlichen Natur zu verschreien; und wir sind in der Civilisation zu der Epoche gelangt, wo alles Schöne des Gemüths sich in Staub auflöset.

Als die Barbaren des Norden[s] sich der fruchtbarsten Gegenden Europa's bemächtigten, brachten sie wilde und männliche Tugenden mit; und indem sie sich zu vervollkommnen suchten, forderten sie von dem Mittag Sonne, Künste und Wissenschaften. Aber die policirten Barbaren schätzen nur Gewandtheit in den Angelegenheiten dieser Welt, und [199] unterrichten sich gerade nur so weit es nöthig ist, um mit einigen Phrasen die Andacht eines ganzen Lebens zu äffen.

Die, welche die Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geistes läugnen, behaupten, in allen Dingen lösen sich Fortschritte und Verfall einander ab, und wie das Glücksrad, eben so drehe sich auch das Gedankenrad. Welch ein trauriges Schauspiel würden Generationen seyn, die sich, wie Sysiphus in der Unterwelt, auf Erden mit ewig unnützen Arbeiten beschäftigten! Und was würde denn die Bestimmung des menschlichen Geschlechtes seyn, wenn sie der grausamsten Folter gliche, welche die Phantasie der Dichter hat erdenken können! Allein, dem ist nicht also, und in der Geschichte des Menschen läßt sich ein Plan wahrnehmen, der immer derselbe bleibt, nie aufgegeben wird, und beständig vorschreitet.

Der Kampf zwischen den Angelegenheiten dieser Welt und den erhabenen Gefühlen hat zu allen Zeiten, wie bei Individuen, so bei Nationen fortgedauert. Der Aberglaube zieht oft aufgeklärte Menschen zur Ungläubigkeit hin, und im Gegentheil wecken bisweilen die Einsichten selbst den Glauben des Herzens. Gegenwärtig flüchten sich die Philosophen in die Religion, um in ihr die Quelle hoher Gedanken, und uneigennütziger Gefühle zu finden; in dieser Epoche, von Jahrhunderten vorbereitet, kann das Bündniß zwischen Philosophie und Religion innig und aufrichtig seyn. Nicht, wie ehemals, sind die Unwissenden Feinde des Zweifels, welche entschlossen wären, alles, was ihre religiösen Hoffnungen und ihre ritterliche Hingebung stören [200] könnte, von sich zu stoßen; die Unwissenden unserer Zeit sind ungläubig, leichtsinnig, oberflächlich; sie wissen, was der Selbstheit zu wissen Noth thut, und ihre Unwissenheit erstreckt sich nur auf jene erhabene Studien, welche in dem Gemüthe ein Gefühl der Bewunderung für die Natur und die Gottheit entzünden.

Ehemals füllten kriegerische Beschäftigungen das Leben der Edlen aus, und bildeten ihren Geist durch das Handeln; aber seitdem die Menschen der ersten Klasse keine Verrichtung im Staate haben, und keine Wissenschaft ergründen, richtet sich die ganze Thätigkeit ihres Verstandes, welche in dem Kreise der Geschäfte oder der geistigen Arbeiten verbraucht werden sollte, auf Beobachtung der Manieren und Kenntniß der Anekdoten.

Kaum sind die jungen Männer aus der Schule hervorgegangen: so bemächtigen sie sich des Müßigganges, wie einer männlichen Toga. Männer und Weiber belauern sich in ihren unbedeutendsten Angelegenheiten, nicht gerade aus Bösartigkeit, wohl aber um etwas zu sagen zu haben, da sie nichts zu denken haben. Dieses alltägliche Bespötteln zerstört das Wohlwollen und die Redlichkeit. Man ist mit sich selbst nicht zufrieden, wenn man die bewiesene oder empfangene Gastfreundschaft misbraucht, um Personen zu tadeln, mit welchen man lebt, und man verhindert auf diese Weise, daß eine tiefere Zuneigung entstehen oder fortdauern könnte. Denn indem man Spöttereien über theure Personen sein Ohr leiht, zerstört man alles Reine und Kräftige der Zuneigung. Gefühle, in welchen man [201] nicht vollkommen wahr ist, stiften noch mehr Böses, als die Gleichgültigkeit.

Jeder hat eine lächerliche Seite, und nur aus der Ferne betrachtet, erscheint ein Charakter als vollständig. Allein, da das, was der Existenz das Gepräge der Eigenthümlichkeit giebt, immer eine Seltsamkeit ist: so giebt diese Seltsamkeit der Spötterei Raum: auch sucht Derjenige, der die Spötterei über alles fürchtet, so viel es immer in seinen Kräften steht, alles aus sich zu verbannen, was ihn auf irgend eine Weise, es sey im Guten oder im Bösen, auszeichnen könnte. Diese ausgelöschte Natur, wie sehr sie auch dem guten Geschmack entsprechen möge, hat freilich auch ihre Lächerlichkeiten; allein der Geist der Wenigsten ist fein genug, sie aufzufassen.

Die Spottsucht hat das Eigenthümliche, daß sie dem Guten wesentlich schadet, keinesweges aber dem Starken. Die Macht hat etwas Herbes und Triumphirendes, was das Lachen tödtet; außerdem achten die leichtfertigen Geister die Klugheit des Fleisches, um hier den Ausdruck eines Moralisten des sechszehnten Jahrhunderts zu gebrauchen; und man erstaunt, wenn man die volle Tiefe des persönlichen Eigennutzes in diesen Menschen antrifft, welche unfähig schienen, einer Idee oder einem Gefühl zu folgen, sobald daraus nichts Vortheilhaftes für ihre Glücks- und Eitelkeitsberechnungen hervorgehen konnte.

Die Leichtfertigkeit des Geistes bewirkt nicht, daß man die Angelegenheiten dieser Welt vernachlässigt. In dieser Hinsicht trifft man eine weit edlere [202] Sorglosigkeit in ernsten Charakteren an; denn die Leichtfertigkeit besteht in den meisten Fällen nur in der Geringschätzung allgemeiner Ideen, um sich desto anhaltender mit dem zu beschäftigen, was den persönlichen Vortheil fördert.

In Leuten von Verstand ist bisweilen Bösartigkeit; aber das Genie ist beinahe immer gutmüthig. Die Bösartigkeit rührt nicht daher, daß man zu viel Verstand hat, wohl aber daher, daß man nicht genug hat. Könnte man über seine Ideen sprechen, so würde man die Personen in Ruhe lassen; und hätte man die Ueberzeugung, durch natürliche Talente Anderen den Rang abzulaufen , so würde man sich nicht damit aufhalten, den Boden, auf welchem man herrschen will, zu ebnen. Es giebt Mittelmäßigkeiten der Seelen, welche sich hinter Bissigkeit und Bosheit verstecken; aber die wahre Ueberlegenheit strahlt von guten Gefühlen und hohen Gedanken.

Die Gewohnheit, sich geistig zu beschäftigen, flößt ein aufgeklärtes Wohlwollen für Menschen und Dinge ein. Man klebt alsdann nicht an sich selbst, wie an einem privilegirten Wesen. Weiß man viel über die menschliche Bestimmung, so wird man nicht von jedem Umstande wie von etwas Beispiellosem gereizt; und da die Gerechtigkeit nichts anderes ist, als die Gewohnheit, die Verhältnisse der Wesen unter einander aus einem allgemeinen Gesichtspunkte zu betrachten: so trägt der Umfang des Geistes nicht wenig dazu bei, daß wir uns von persönlichen Berechnungen losmachen. Man hat über seinem Daseyn, wie über dem Daseyn [203] Anderer geschwebt, wenn man sich der Betrachtung des Universums hingegeben hat.

Einer von den großen Nachtheilen der Unwissenheit in dem gegenwärtigen Zeitalter ist auch, daß sie unfähig macht, über die meisten Gegenstände, welche Nachdenken erfordern, eine eigenthümliche Meinung zu haben. Wenn die eine oder die andere Ansicht durch das Uebergewicht der Umstände einmal zu Ehren gebracht ist, so glauben die meisten, daß die Worte: Alle denken oder handeln so, für Jeden die Vernunft und das Gewissen vertreten müssen.

In der geschäftlosen Klasse der Gesellschaft ist es beinahe unmöglich, ohne einen gebildeten Geist, Gemüth zu haben. In früheren Zeiten reichte die Natur aus, den Menschen zu belehren und seine Einbildungskraft zu entwickeln; allein seitdem der Gedanke, dieser ausgelöschte Schatten des Gefühls, alles in Abstraktionen verwandelt hat, muß man viel wissen, um gut zu fühlen. Nicht zwischen dem Aufschwunge eines sich selbst hingegebenen Gemüths und den philosophischen Studien hat man zu wählen, wohl aber zwischen dem überlästigen Murren einer gemeinen und leichtfertigen Gesellschaft und der Sprache, welche die schönen Geister von Jahrhundert zu Jahrhundert bis auf unsere Zeiten geredet haben.

Wie könnte man ohne die Kenntniß der Sprachen und ohne eine zur Gewohnheit gewordene Lectüre Umgang pflegen mit Menschen, welche nicht mehr sind, und in denen wir so deutlich unsere Freunde, unsere Mitbürger, unsere Bundesverwandte [204] erkennen? Man muß sehr mittelmäßigen Herzens seyn, wenn man sich so edlen Freuden versagen will. Nur Die, welche ihr Leben mit guten Werken ausfüllen, können ohne Studien fertig werden, und die Unwissenheit in geschäftlosen Menschen spricht eben so sehr die Trockenheit ihres Gemüths, wie die Leichtfertigkeit ihres Geistes aus.

Und dann bleibt noch etwas sehr Schönes und Moralisches übrig, was Unwissenheit und Leichtfertigkeit nie genießen können; dies ist der Verein aller denkenden Menschen von dem einen Ende Europa's bis zum andern. Bisweilen stehen sie in keiner persönlichen Beziehung mit einander; oft sind sie durch große Zwischenräume von einander getrennt: aber begegnen sie sich, so reicht ein einziges Wort hin, sich zu erkennen. Nicht die oder jene Religion, nicht die eine oder die andere Meinung, nicht die gleiche Art der Studien vereinigt sie; wohl aber der Anbau der Wahrheit. Bald dringen sie, gleich Bergleuten, in die Tiefe der Erde, um im Schooße der ewigen Nacht die Mysterien der verhüllten Welt zu ergründen; bald erheben sie sich zum Gipfel des Chimborasso, um auf dem erhabensten Punkte des Erdballs neue Erscheinungen zu entdecken; bald studieren sie die Sprache des Orients, um darin die Urgeschichte des Menschen zu finden; bald wandern sie nach Jerusalem, um aus heiligen Ruinen einen Funken zu schlagen, der Religion und Poesie belebt. Kurz, das wahre Volk Gottes sind diese Männer, welche nicht an dem menschlichen Geschlechte verzweifeln und ihm die Herrschaft des Gedankens bewahren wollen. [205]

Die Deutschen verdienen in dieser Hinsicht eine besondere Erkenntlichkeit. Unwissenheit und Fahrläßigkeit in Hinsicht dessen, was mit der Literatur und den schönen Künsten in Verbindung steht, ist bei ihnen eine Schande, und ihr Beispiel beweiset, daß auch in unseren Tagen, der Anbau des Geistes in den unabhängigen Klassen Gefühle und Grundsätze bewahrt.

In Frankreich ist während des letzten Theils des achtzehnten Jahrhunderts die Richtung der Literatur und der Philosophie nichts weniger als gut gewesen; aber wenn man sich so ausdrücken darf, so ist die Richtung der Unwissenheit noch weit furchtbarer. Denn kein Buch schadet dem, der alle Bücher lieset. Wenn die Müßigen der Welt im Gegentheil sich einige Augenblicke beschäftigen: so ist das Werk, das ihnen in die Hände fällt, eine Begebenheit für ihren Kopf, ungefähr wie die Ankunft eines Fremdlings in einer Wüste; und enthält dies Werk gefährliche Sophismen, so haben sie denselben keine Gründe entgegenzustellen. Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist wahrhaft verderblich für die, welche nur halb oder auf gut Glück lesen; denn das Wissen muß, wie die Lanze des Achilles, die Wunden heilen, die es verursacht hat.

Unter den Verfeinerungen der Gesellschaft ist die Unwissenheit das hassenswertheste aller Gemische. Sie macht [sich] in gewisser Hinsicht dem Pöbel ähnlich, der nur Gewandtheit und Verschlagenheit achtet. Sie macht uns geneigt, nur Wohlseyn und physische Genüsse zu suchen; ein bischen Geist anzuwenden, um recht viel Gemüth zu tödten; uns [206] glücklich zu schätzen wegen unserer Unwissenheit, noch mehr wegen unserer Gefühllosigkeit; kurz, die Begränztheit des Verstandes mit Härte des Herzens zu verbinden, so daß wir nichts zu schaffen haben mit jenem gegen den Himmel gerichteten Blick, den Ovid als die edelste Eigenschaft der menschlichen Natur darstellt:

 

Os homine sublime dedit: coelumque tueri

Jussit, et erectos ad sidera tollere vultus.