BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. II. Abtheilung.

 

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Erstes Capitel.

 

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Allgemeine Betrachtungen über

die Religion in Deutschland.

 

Alle Nationen germanischen Ursprungs sind von Natur religiös; und der mit diesem Gefühl verbundene Eifer hat in ihrem Schooße mehrere Kriege verursacht. Gleichwohl ist man, besonders in Deutschland, weit mehr zur Begeisterung als zum Fanatismus geneigt. In einem Lande, wo von allen Thätigkeiten, die des Gedankens die erste ist, muß sich der Sectengeist in verschiedenen Gestalten offenbaren. In der Regel aber bleiben die theologischen Erörterungen von den menschlichen Leidenschaften geschieden, und die mannichfaltigen Meinungen in Sachen der Religion treten nicht hervor aus jener idealischen Welt, wo ein tiefer Friede herrscht. [210]

Lange hat man sich, wie ich in dem folgenden Capitel zeigen werde, mit Untersuchung der Dogmen des Christenthums beschäftigt. Allein seit zwanzig Jahren, und zwar seitdem Kants Werke die Geister bearbeitet haben, hat sich in der Auffassung des Religiösen eine Freiheit und eine Größe festgestellt, die, ohne irgend eine Form des Cultus zu fordern oder zu verwerfen, die himmlischen Dinge zum herrschenden Princip des Daseyns macht.

Viele meinen, die Religion der Deutschen sey allzu unbestimmt, und es würde besser seyn, sich unter der Fahne eines positiveren und strengeren Cultus zu vereinigen. Lessing sagt in seinem Versuch über die Erziehung des menschlichen Geschlechts: „alle religiösen Offenbarungen sind dem Grade von Aufklärung angemessen gewesen, welcher um die Zeit, wo jene hervortraten, Statt fand.“ Das alte Testament, das Evangelium, und, in mehr als einer Hinsicht, die Reformation, standen, zu ihrer Zeit, in vollkommener Uebereinstimmung mit den Fortschritten der Geister; und vielleicht befinden wir uns am Vorabend einer Entwickelung des Christenthums, welche alle zerstreuten Strahlen in einem und demselben Heerd sammeln und uns in der Religion mehr als Moral, mehr als Glück, mehr als Philosophie, sogar mehr als Gefühl finden lassen wird; denn jedes dieser Güter kann durch seine Vereinigung mit den übrigen vervielfältigt werden.

Wie dem auch sey: es ist vielleicht anziehend, zu wissen, aus welchem Gesichtspunkte die Religion in Deutschland betrachtet wird, und wie man das Mittel gefunden hat, jenes litterarische und philosophische System, wovon ich einen Abriß gegeben [211] habe, mit ihr in Zusammenhang zu bringen. Gewiß ist dieser Gedankenbau, der die moralische Ordnung in ihrer Ganzheit vor unseren Augen entwickelt und dem erhabenen Gebäude die Demuth zur Grundlage und die Göttlichkeit zum Gipfel ertheilt, etwas Gebietendes.

Die meisten deutschen Schriftsteller beziehen alle religiöse Ideen auf das Gefühl des Unendlichen. Die Frage ist: ob das Unendliche sich fassen lasse? Aber faßt man es nicht wenigstens auf eine negative Weise, wenn man in der Mathematik der Dauer und Ausdehnung keine Schranken anweisen kann? Dieses Unendliche besteht in der Abwesenheit der Gränzen; aber das Gefühl des Unendlichen, so wie die Einbildungskraft und das Herz es verarbeiten, ist positiv und schöpferisch.

Jene Begeisterung, welche das schöne Ideal uns zuführt, jene Bewegung, voll Unruhe und' Reinheit zugleich – wodurch anders wird sie geweckt, als durch das Gefühl des Unendlichen? Durch die Bewunderung fühlen wir uns gleichsam frei von den Eingriffen des menschlichen Schicksals, und es kommt uns vor, als enthülle man uns wunderbare Geheimnisse, um die Seele für immer von Mattigkeit und Verfall zu befreien. Wenn wir den gestirnten Himmel betrachten, wo Lichtfunken Weltkörper sind, wie der von uns bewohnte, wo der Glanzstaub der Milchstraße uns in Welten eine Bahn durch das Firmament zeigt, so verliert sich unser Gedanke ins Unendliche, so schlägt unser Herz für das Unbekannte, Unermeßliche, so fühlen wir, daß unser wahres Leben erst jenseits dieser irdischen Erfahrungen beginnen wird. Kurz, mehr als alle übrigen Bewegungen, wecken die religiösen, [212] das Gefühl des Unendlichen; aber, es weckend, befriedigen sie es auch, und aus diesem und keinem anderen Grunde sagte ein Mann von großem Geiste: „die denkende Creatur werde erst dann glücklich, wenn die Idee des Unendlichen für sie, statt der Last, ein Genuß geworden sey.“

In Wahrheit, erst dann athmen wir frei, wenn wir uns ganz den Betrachtungen, den Bildern, den Verlangen hingeben, welche über die Gränzen der Erfahrung hinausgehen. Will man stehen bleiben bei den Interessen, Uebereinkommen und Gesetzen dieser Welt: so werden Genie, Empfindsamkeit und Begeisterung zu Martern für unsere Seele; wogegen sie dieselben mit Entzücken überströmen, wenn man sie dem Andenken und der Erwartung des Unendlichen weihet, das sich in der Metaphysik unter der Gestalt angeborner Anlagen, in der Tugend unter der Gestalt der Demuth, in den Künsten unter der des Ideals und in der Religion selbst unter der der göttlichen Liebe darstellt.

Das wahrhaftige Attribut der Seele ist das Gefühl des Unendlichen: alles, was schön ist, es sey in welcher Art es wolle, weckt in uns die Hoffnung und das Verlangen einer ewigen Zukunft und eines erhabenen Daseyns; ohne von Religion und Glauben an Unsterblichkeit durchdrungen zu seyn, kann man weder das Säuseln des Windes in Wäldern, noch die entzückenden Akkorde menschlicher Stimmen vernehmen, kann man den Zauber der Beredtsamkeit oder der Poesie nicht empfinden, kann man, vor allen Dingen, nicht mit Unschuld, mit Tiefe, lieben.

Alle Opfer des persönlichen Vortheils rühren von dem Bedürfniß her, sich mit diesem Gefühl des [213] Unendlichen, dessen Zauber man empfindet, ohne ihn beschreiben zu können, in Harmonie zu setzen. Wäre die Macht der Pflicht in den engen Raum dieses Lebens eingeschlossen, wie könnte sie alsdann über unsere Seele eine größere Herrschaft ausüben, als die Leidenschaften? Wer würde das Begränzte dem Begränzten opfern? „Was da endigt, ist so kurz,“ sagt der heilige Augustin. Die Augenblicke des Genusses, welche irdische Neigungen gewähren können, und die Tage des Friedens, welche ein moralisches Betragen sicher[n], würden sich sehr wenig von einander unterscheiden, wenn in dem Herzen dessen, der sich der Tugend weihet, nicht Gefühle lebten, die sich mit keinen Schranken, keinen Gränzen vertragen.

Viele werden dies Gefühl des Unendlichen bestreiten. Diese befinden sich auf einem herrlichen Boden für diesen Kampf; denn es ist unmöglich, es ihnen zu erklären; was das Universum ihnen nicht sagt, das werden ein Paar Worte mehr ihnen nicht deutlich machen können. Aber die Natur hat das Unendliche mit verschiedenen Symbolen bekleidet, die es bis zu uns gelangen lassen. Das Licht und die Finsterniß, der Sturm und die Stille, das Vergnügen und der Schmerz, Alles flößt dem Menschen jene universelle Religion ein, deren Heiligthum das Herz ist.

Herr Ancillon, ein Mann, von welchem ich zu reden schon Gelegenheit gehabt habe, hat so eben über die neue Philosophie Deutschlands ein Werk herausgegeben, welches das Lichtvolle des französischen Geistes mit der Tiefe des deutschen Genius vereinigt. Als Geschichtschreiber hat sich Herr Ancillon bereits einen Namen gemacht. Er ist unwidersprechlich, [214] was man in Frankreich einen guten Kopf zu nennen pflegt. Sein Geist selbst ist positiv und methodisch, aber mit seinem Gemüth hat er Alles gefaßt, was der Gedanke des Unendlichen Großes und Erhabenes darbieten kann. Was er über diesen Gegenstand geschrieben hat, ist durchaus originell; es ist gewissermaßen das Erhabene in dem Bereich der Logik. Mit Genauigkeit zieht er die Linie, wo die Erfahrungskenntniße, sey es in den Künsten, oder in der Philosophie, oder in der Religion, Halt machen. Er zeigt, daß das Gefühl viel weiter reicht, als die Kenntnisse, und daß es jenseits der demonstrativen Beweise, natürliche Evidenz, jenseits der Analyse, Eingebung, jenseits der Worte, Ideen, jenseits der Ideen, innere Bewegungen giebt, und daß das Gefühl des Unendlichen, eine Thatsache des Gemüths, eine ursprüngliche Thatsache ist, ohne welche in dem Menschen nur physischer Instinkt und Berechnung angetroffen werden würde.

Es ist schwer religiös zu seyn in der Manier gewisser trockner Geister, oder auch gutmüthiger Menschen, welche die Religion so gern zu den Ehren wissenschaftlicher Demonstration gelangen lassen möchten. Was das Geheimniß des Daseyns so innig berührt, kann nicht durch die regelmäßigen Formen des Wortes a[us]gedrückt werden. In Dingen dieser Art dient das Raisonnement nur, zu zeigen, wo das Raisonnement endigt; und gerade da, wo es endigt, hebt die wahrhaftige Gewißheit an: denn die Wahrheiten des Gefühls haben mehr Stärke, die unser ganzes Wesen zu ihrer Untersuchung auffordert; das Unendliche wirkt erhebend auf das Gemüth und befreit es von den Banden der Zeit. [215] Das ganze Lebensgeschäft besteht darin, daß wir die Interessen unseres flüchtigen Daseyns der Unsterblichkeit aufopfern, die, wenn wir ihrer würdig sind, für uns sogleich anhebt; und nicht blos haben die meisten Religionen eben diesen Zweck, sondern auch die schönen Künste, die Poesie, der Ruhm, die Liebe, sind Religionen, in welche mehr oder weniger Zusatz gebracht wird.

Der Ausdruck: das ist göttlich ist in Gang gekommen, um die Schönheiten der Natur und Kunst zu rühmen; und dieser Ausdruck ist bei den Deutschen Glaubensformel. Sie sind tolerant – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil ihre Empfindungsweise und ihre Religion Universalität in sich schließt. In Wahrheit, Jeder kann unter den Wundern der Welt dasjenige finden, was am mächtigsten zu seiner Seele spricht. Dieser bewundert die Göttlichkeit in den Zügen eines Vaters, ein Anderer in der Unschuld eines Kindes, noch ein Anderer in dem himmlischen Blick der Jungfrauen Raphaels, in der Musik, der Poesie, der Natur; alles gleich viel, denn alle verstehen sich, wenn sie von dem religiösen Princip – dem Genius der Welt und jedes einzelnen Menschen – belebt sind.

Starke Geister haben über das Eine oder das andere Dogma Zweifel erhoben; und es war ein großes Unglück, daß eine feine Dialektik oder die Forderungen der Eigenliebe das Gefühl des Glaubens stören oder erkälten konnten. Bisweilen fühlte sich auch die Betrachtung gezwängt in jenen unduldsamen Religionen, aus welchen man, so zu sagen, einen Straf-Codex gemacht hatte, und welche der Theologie alle Formen einer despotischen Regierung gaben. Aber wie erhaben ist der Cultus, der uns [216] einen himmlischen Genuß gewährt in der Eingebung des Genie's, wie in der verborgensten Tugend, in den zärtlichsten Affectionen, wie in den bittersten Schmerzen, in dem Sturm, wie in der schönsten Witterung, in der Blume, wie in der Eiche, mit einem Worte, in allem nur nicht in der Berechnung, nur nicht in dem tödtlichen Frost des Egoismus, der uns von der wohlthätigen Natur trennet und nur die Eitelkeit zum einzigen Beweggrund [werden] läßt, sie, deren Wurzel immer giftig ist! Wie schön ist die Religion, welche die ganze Welt ihrem Urheber weiht und sich aller unserer Fähigkeiten bedient, um die heiligen Ritus des wundervollen Universums zu feiern!

Weit davon entfernt, daß ein solcher Glaube die Künste, die Wissenschaften verböte, gehört ihm die Theorie aller unserer Ideen, das Geheimniß aller Talente. Gott und die Natur müßten mit einander im Widerspruch stehen, wenn die aufrichtige Frömmigkeit den Menschen verböte, sich ihrer Fähigkeiten zu bedienen, und die Freuden zu genießen, von welchen jene die Quellen sind. In allen Werken des Genies ist Religion; in allen religiösen Gedanken ist Genie. Der Verstand ist weniger edlen Ursprungs; das Streiten ist seine Sache. Aber das Genie schafft. Die unerschöpfliche Quelle der Talente und Tugenden ist das Gefühl des Unendlichen , das seinen Antheil hat an allen großmüthigen Handlungen, an allen gründlichen Anschauungen.

Die Religion ist nichts, wenn sie nicht Alles ist, wenn das Daseyn damit nicht angefüllt ist, wenn man in dem Gemüth nicht unablässig jenen unsichtbaren Glauben, jene Demuth und jene erhabene Verlangen unterhält, welche über die niedern Neigungen, [217] denen uns unsere Natur blosstellt, triumphiren müssen.

Und doch, wie könnte die Religion uns immer gegenwärtig seyn, wenn wir sie nicht an Alles knüpfen, was ein schönes Leben beschäftigen kann, als da sind: liebende Gefühle, philosophische Betrachtungen und die Freuden der Einbildungskraft? Den Gläubigen sind viele Handlungen empfohlen, damit die Religion in allen Augenblicken des Tages durch die Verbindlichkeiten, welche sie auflegt, zurückgerufen werde. Aber würde es nicht besser seyn, wenn das ganze Leben ohne Anstrengung und auf eine ganz natürliche Weise ein Gottesdienst wäre? Da die Bewunderung für das Schöne sich immer auf die Göttlichkeit, und der Flug erhabener Gedanken uns zu unserm Ursprunge zurückführt: warum sollten die Macht zu lieben, die Poesie, die Philosophie nicht die Säulen des Glaubenstempels seyn?