BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. II. Abtheilung.

 

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[234]

Viertes Capitel.

 

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Vom Katholizismus.

 

In Deutschland ist die katholische Religion viel duldsamer, als in jedem anderen Lande. Nachdem der westphälische Frieden die Rechte der verschiedenen Religionen festgestellt hat, fürchten sie nicht länger ihre wechselseitigen Eingriffe, und außerdem hat die Vermischung der Gottesverehrungen in sehr vielen Städten die Gelegenheit herbeigeführt, sich zu sehen und sich zu beurtheilen. Bei religiösen, wie bei politischen Meinungen macht man sich aus seinen Gegnern ein Fantom, welches in der Regel durch ihre Gegenwart verschwindet. Die Sympathie zeigt uns in dem, den wir für unseren Gegner hielten, unseren Nächsten.

Da der Protestantismus der Aufklärung weit günstiger ist, als der Katholizismus, so haben sich die Katholiken in Deutschland in eine Art von Vertheidigungsstand geworfen, welcher den Fortschritten der Ideen nicht wenig schadet. In Ländern, wo die katholische Religion vorherrschend war, wie in Frankreich und Italien, hat man sie mit der Literatur und den schönen Künsten zu vereinbaren gewußt; aber in Deutschland, wo die Protestanten durch ihre Universitäten und durch ihre natürliche Tendenz sich alles dessen bemächtigt haben, was mit den literärischen und philosophischen Studien in Verbindung steht, haben die Katholiken sich für genöthigt erachtet, ihnen eine Art von Zurückhaltung entgegenzustellen, welche beinahe jedes Mittel, sich auf der Bahn der Einbildungskraft und des Gedankens auszuzeichnen, unwirksam macht. Von allen schönen Künsten ist die Musik die einzige, welche [235] im südlichen Deutschland auf einen höheren Grad von Vollkommenheit gebracht ist, als im Norden; es sey denn, daß man eine gewisse bequeme Lebensweise, deren Genüsse sich mit der Ruhe des Geistes sehr wohl vertragen, zu den schönen Künsten rechnen will.

Unter den Katholiken in Deutschland findet man eine aufrichtige, ruhige und mitleidsvolle Frömmigkeit; aber was man nicht findet, sind berühmte Kanzelredner und nahmhafte religiöse Schriftsteller. Nichts belebt die Bewegung des Gemüths. Man nimmt die Religion als etwas Gemachtes, woran der Enthusiasmus keinen Theil hat; ja, man möchte sagen, daß in dieser so sehr befestigten Gottesverehrung das andere Leben eine so positive Wahrheit sey, daß der Gedanke sich nicht mehr an ihr reibt.

Die Revolution, welche in den philosophischen Geistern Deutschlands seit ungefähr dreißig Jahren zu Stande gebracht ist, hat sie alle zu religiösen Gefühlen zurückgeführt. Sie hatten sich alle ein wenig entfernt, als der nothwendige Antrieb zur Fortpflanzung der Duldsamkeit über sein Ziel hinausgegangen war; aber indem man den Idealismus für die Metaphysik, die Begeisterung für die Poesie, die Anschauung für die Wissenschaften zurückrief, hat man die Herrschaft der Religion erneuert; und die Reform der Reformation, oder vielmehr die philosophische Richtung zur Freiheit, die sie gegeben hat – diese hat einmal für allemal, wenigstens in der Theorie, den Materialismus und alle seine verderbliche Anwendungen verbannt. Mitten in dieser intellectuellen Revolution, die an edlen Ergebnissen so fruchtbar gewesen ist, sind einige [236] Männer, wie es bei Schwankungen des Gedankens immer zu geschehen pflegt, zu weit gegangen.

Man möchte sagen, der menschliche Geist stürze sich immer von dem Einen Aeußersten in das andere, gerade als ob die Meinungen, die er so eben aufgegeben hat, sich in Gewissensbisse verwandelten, um ihn zu verfolgen. Die Reformation, sagen einige Schriftsteller der neuen Schule, ist die Ursache mehrerer Religionskriege geworden; sie hat das nördliche Deutschland von dem südlichen geschieden, sie hat den Deutschen die verderbliche Gewohnheit eingeimpft, sich unter einander zu bekämpfen, und diese Zwistigkeiten haben ihnen das Recht genommen, sich Eine Nation zu nennen. Endlich hat auch die Reformation, indem sie den Geist der Forschung in Gang brachte, die Einbildungskraft ausgetrocknet und den Zweifel an die Stelle des Glaubens gebracht. Man muß also, wiederholen diese Männer, zur Einheit der Kirche zurückgehen, indem man sich wieder zum Katholizismus wendet. –

Zunächst, wenn Karl der Fünfte den Lutheranismus angenommen hätte, so würde es eben wohl Einheit in Deutschland gegeben haben, und das ganze Land würde, wie der nördliche Theil, der Zufluchtsort der strengen und der schönen Wissenschaften seyn. Vielleicht hätte diese Uebereinstimnmng freier Institutionen, mit einer wirklichen Kraft verbunden, Daseyn gegeben; und vielleicht hätte man diese traurige Trennung des Charakters und der Aufklärung vermieden, die den Norden der Träumerei überliefert und den Süden in seiner Unwissenheit unterstützt hat. Aber ohne sich in Muthmaßungen über das, was geschehen seyn würde, [237] zu verlieren – wobei nie etwas herauskommt: – so kann man doch nicht läugnen, daß die Epoche der Reformation diejenige sey, wo die Wissenschaften und die Philosophie sich in Deutschland eingeführt haben. Das Land behauptet nicht den ersten Rang weder in Ansehung des Krieges, noch der Künste, noch der politischen Freiheit; aber stolz kann und darf es seyn auf seine Aufklärung und sein Einfluß aus das denkende Europa schreibt sich vom Protestantismus her. Dergleichen Revolutionen werden durch Raisonnements weder hervorgebracht noch aufgehoben; sie gehören dem historischen Gange des menschlichen Geistes an, und diejenigen , welche ihre Urheber zu seyn scheinen, sind immer nur ihre Werkzeuge.

Gegenwärtig entwaffnet, hat der Katholizismus die Majestät eines alten Löwen, welcher früher die Welt zittern machte. Als die Mißbräuche seiner Gewalt die Reformation herbeiführten, that er dem menschlichen Geiste Gewalt an; und weit entfernt, daß man sich damals seinem Uebergewicht aus Dürftigkeit des Herzens entgegengestellt hätte, verlangte man vielmehr die Freiheit zu denken, so kräftig zurück, um von allen Fähigkeiten des Verstandes und der Einbildungskraft Gebrauch machen zu können. Wenn durchaus göttliche Schickungen – solche, wobei die Hand der Menschen gar nicht fühlbar würde – mit der Zeit eine Annäherung zwischen beiden Kirchen herbeiführen sollten, so müßte man, dünkt mich, Gott mit neuer Bewegung neben den ehrwürdigen Priestern anrufen, die in den letzten Jahren des abgewichenen Jahrhunderts so viel für ihr Gewissen gelitten haben. Aber es ist zuverläßig nicht die Religionsveränderung einiger Männer, am [238] wenigsten ist es die Ungunst, welche ihre Schriften auf die reformirte Religion zu werfen sich bestreben, was zur Einheit der religiösen Meinungen führen könnte.

In dem menschlichen Verstande giebt es zwei durchaus verschiedene Kräfte, von welchen die eine das Bedürfniß zu glauben, die andere das Bedürfniß zu untersuchen einflößt. Keine von diesen Fähigkeiten soll auf Kosten der andern befriedigt werden. Protestantismus und Katholizismus haben ihre Wurzel im menschlichen Herzen; es sind moralische Mächte, die sich in den Nationen entwickeln, weil sie in jedem Menschen existiren. Wenn man in der Religion, wie in andern menschlichen Bestrebungen, das vereinigen kann, was Einbildungskraft und Vernunft wünschen, dann ist Friede im Menschen; oder in ihm, wie in dem Universum, folgen und bekämpfen sich die Macht zu schaffen und zu zerstören, der Glaube und die Forschung.

Um beide Neigungen zu vereinigen, hat man noch tiefer in den Schacht des menschlichen Gemüths eindringen wollen, und daraus sind die mystischen Meinungen entstanden, von welchen in dem nachfolgenden Capitel die Rede seyn wird. Aber die kleine Zahl Derer, die den Protestantismus abgeschworen haben, hat immer nur den alten Haß erneuert. Alte Benennungen beleben alte Zänkereien; die Magie bedient sich gewisser Worte, um Geister aufzurufen; man möchte behaupten, daß es in allen Dingen Wörter giebt, welche diese Macht ausüben – gerade diejenigen, welche dem Partheigeist zum Sammelpunkt gedient haben, und die man nicht aussprechen kann, ohne die Fackeln der Zwietracht von neuem zu schütteln. Die deutschen Katholiken [239] haben sich bis jetzt sehr gleichgültig bewiesen gegen alles, was in dieser Hinsicht im Norden vorging. Die literärischen Meinungen scheinen die Ursache der geringen Zahl von Religionsveränderungen zu seyn, welche Statt gefunden haben, und weder die alte noch die neue Kirche hat sich damit beschäftigt.

Ein durch Charakter und Talente gleich achtungswerther Mann, der, von seiner Jugend an, als Dichter, als leidenschaftlicher Bewunderer des Alterthums, und als Uebersetzer des Homer berühmt ist – mit einem Worte, der Graf Friedrich Stolberg, hat in Deutschland zuerst das Signal zu diesen neuen Bekehrungen gegeben, welche später viele Nachfolger gefunden haben. Die berühmtesten Freunde des Grafen Stolberg, ein Klopstock, ein Voß, ein Jacobi, haben sich von ihm um dieser Abschwörung willen getrennt, die alle Leiden und Kämpfe, welche die Reformirten seit drei Jahrhunderten bestanden haben, gewissermaßen der Lüge zeiht. Indeß hat Herr von Stolberg eine Geschichte der Religion Jesu Christi bekannt gemacht, welche die Billigung aller christlichen Gemeinden zu finden verdient. Zum ersten Male hat man die katholischen Meinungen so vertheidigt gesehen; und wenn der Graf von Stolberg nicht im Protestantismus erzogen worden wäre, so würde er nie die Unabhängigkeit des Geistes erworben haben, durch welche er so viel Eindruck auf aufgeklärte Menschen macht.

Man findet in diesem Buche eine vollkommene Kenntniß der heiligen Schriften und sehr anziehende Untersuchungen über verschiedene Religionen Asiens in ihrer Beziehung mit dem Christenthum. Die Norddeutschen verstehen, auch wenn sie sich den [240] positivsten Glaubenslehren unterwerfen, noch immer, ihnen das Gepräge ihrer Philosophie zu geben.

Der Graf von Stolberg schreibt dem alten Testamente in seinem Werke einen weit größeren Werth zu, als die protestantischen Schriftsteller gewöhnlich thun. Er betrachtet das Opfer als die Grundlage aller Religion, und den Tod Abels als den ersten Typus dieses Opfers, das das Christenthum begründet. Wie man auch über diese Meinung urtheilen möge: immer giebt sie viel zu denken. Die meisten alten Religionen haben Menschenopfer eingeführt. Auch in dieser Barbarei war etwas Merkwürdiges; nämlich das Bedürfnis einer feierlichen Sühnung. Nichts vermag, in der That, aus der Seele die Ueberzeugung zu tilgen, daß in dem Blute des Unschuldigen etwas Geheimnißreiches ist, und daß Himmel und Erde davon bewegt werden. Immer haben die Menschen geglaubt, daß, in diesem Leben sowohl als im zukünftigen, die Gerechten den Missethätern Verzeihung verschaffen könnten. Es giebt im menschlichen Geschlechte ursprüngliche Ideen, die bei allen Völkern und in allen Zeiten mehr oder weniger verunstaltet zum Vorschein treten. Ueber diese Ideen nachzudenken kann man deshalb nicht ermüden, weil sie sicher einige verlorne Ansprüche des menschlichen Geschlechts in sich schließen.

Die Ueberzeugung, daß die Bitten und die Ergebung des Gerechten den Schuldvollen retten können, schreibt sich unstreitig von den Gefühlen her, die wir in den Beziehungen des Lebens haben; aber in Sachen des religiösen Glaubens zwingt uns nichts, solche Inductionen zu verwerfen. Was kennen wir denn mehr, als unsere Gefühle, und warum [241] sollten sie nicht auf Glaubenswahrheiten angewendet werden? Was kann es in dem Menschen geben, als ihn selbst, und warum unter dem Vorwande des Anthropomorphismus, ihn verhindern, sich, nach seiner eigenen Seele, ein Bild von der Gottheit zu machen? Kein anderer Bote konnte ihm, denke ich, darüber Nachrichten bringen.

Eifrig beweiset der Graf von Stolberg, daß die Tradition von dem Sündenfalle des Menschen bei allen Völkern der Erde, besonders aber im Morgenlande, existirt hat, und daß alle Menschen in ihrem Herzen die Zurückerinnerung an ein verlornes Glück getragen haben. Wirklich giebt es in dem Menschen zwei Tendenzen, welche eben so wesentlich von einander verschieden sind, als Gravitation und Anziehungskraft in der physischen Welt; nemlich die Idee von Verfall und Vervollkommnung. Man möchte behaupten, wir empfänden zugleich das Bedauern über den Verlust einiger uns freiwillig zugestandenen schönen Gaben, und die Hoffnung von Gütern, die wir durch unsere Bemühungen erwerben können: dergestalt, daß die Lehre von der Vervollkommnung und die vom goldenen Zeitalter, vereinigt und vermengt, in dem Menschen zugleich den Kummer über den Verlust und das Bestreben nach Wiederbesitz anregen. Das Gefühl ist trübsinnig; der Verstand vermessen. Jenes blickt in die Vergangenheit, dieser in die Zukunft; und aus dieser Träumerei und diesem Aufschwunge erwächst die wahre Ueberlegenheit des Menschen; ich meine dies Gemisch von Selbstbeschauung und Thätigkeit, von Ergebung und Willenskraft, das ihm gestattet, sein irdisches Leben an den Himmel anzuknüpfen.

Nur Diejenigen nennt Stolberg Christen, welche [242] mit kindlicher Einfalt die Worte der heiligen Schrift in sich aufnehmen; aber in die Deutung eben dieser Worte trägt er einen philosophischen Geist, der den katholischen Meinungen das Dogmatische und Unduldsame nimmt. Worin unterscheiden sich also jene religiösen Männer, die Deutschland zur Ehre gereichen, und warum sollten die Benennungen von Katholiken und Protestanten sie trennen? Warum sollten sie den Gräbern ihrer Ahnen untreu werden, um diese Benennungen aufzugeben, oder wieder anzunehmen? Hat denn Klopstock nicht sein ganzes Leben angewendet, um aus einem schönen Gedicht den Tempel des Evangeliums zu erbauen? Ist Herder nicht, wie Stolberg , ein Verehrer der Bibel? Dringt er nicht in alle Schönheiten der Ursprache und in alle Kennzeichen himmlischen Ursprungs ein, die sie in sich schließt? Erkennt Jacobi nicht die Gottheit in allen großen Gedanken des Menschen? Würde irgend einer von diesen Männern die Religion als einen Zügel für das Volk, als ein Mittel öffentlicher Sicherheit, als eine Gewährleistung mehr bei weltlichen Verträgen empfehlen? Wissen sie nicht alle, daß alle vorzüglichen Geister der Frömmigkeit noch weit mehr bedürfen, als der große Haufen? Denn die Arbeit, von der gesellschaftlichen Autorität unterstützt, vermag die arbeitsame Classe in allen Augenblicken des Lebens zu beschäftigen und zu leiten, während die nicht beschäftigten Menschen immer im Kampf liegen mit Leidenschaften und Sophismen, welche das Daseyn beunruhigen und alles zweifelhaft machen.

Man hat behauptet, es sey eine Art von Leichtsinn in den deutschen Schriftstellern, den günstigen Einfluß der christlichen Religion auf die Künste, [243] die Einbildungskraft und die Poesie darzustellen; und derselbe Vorwurf ist dem schönen Werke des Herrn von Chateaubriant über den Genius des Christenthums gemacht worden. Die eigentlichen Leichtsinnigen sind Die, welche kleine Ansichten für große nehmen, und sich überreden, man könne mit der menschlichen Natur ausschließend zu Werke gehen und die meisten Verlangen und Bedürfnisse der Seele unterdrücken. In der Analogie der christlichen Religion mit allen unseren sittlichen Fähigkeiten liegt einer von den stärksten Beweisen der Göttlichkeit dieser Religion; nur glaube ich nicht, daß man die Poesie des Christenthums aus demselben Gesichtspunkte betrachten müsse, wie die des Heidenthums.

Da in dem heidnischen Cultus Alles äußerlich war, so war hier der Pomp der Bilder verschwenderisch angewendet; und da das Heiligthum der christlichen Religion im Innern des Herzens ist, so muß die Poesie, welche sie einhaucht, aus der Rührung hervorgehen. Nicht den Glanz des christlichen Himmels darf man dem Olymp entgegenstellen , wohl aber den Schmerz und die Unschuld, das Alter und den Tod, welche unter dem Schutze religiöser Hoffnungen, deren Fittiche sich über das Elend des Lebens ausbreiten, den Charakter der Erhebung und der Ruhe annehmen. Es ist also, wie es mir scheint, nicht an dem, daß die protestantische Religion von Poesie entblößt sey, weil die Uebungen dieses Cultus minder glänzend sind, als die der katholischen Religion. Ceremonien, die, je nach dem Reichthum der Städte und der Pracht der Gebäude, besser oder schlechter durchgeführt werden, können nicht die Hauptursache des Eindrucks seyn, den der Gottesdienst auf uns macht; [244] es sind vielmehr ihre Beziehungen auf unsere inneren Gefühle, die uns anregen: Beziehungen, welche sich eben so gut mit Einfachheit als mit Pomp vertragen. Ich befand mich vor einiger Zeit in einer Landkirche, die von allem Schmuck entblößt war; kein Gemälde zierte die weißen Wände; die Kirche war seit kurzem erbaut, und kein Gedanke an eine lange Vergangenheit machte sie ehrwürdig; sogar die Musik, welche die strengsten Heiligen als einen Genuß der Seeligen in den Himmel versetzt haben – sogar die Musik ließ sich kaum vernehmen, und die Psalmen wurden von unharmonischen Stimmen gesungen, welche die irdische Arbeit und die Last der Jahre heiser und verworren gemacht hatten. Aber mitten unter dieser ländlichen Versammlung, der es an allem menschlichen Glanze fehlte, sah man einen frommen Mann, dessen Herz voll war von der Göttlichkeit seiner Sendung 1). Seine Blicke, seine Physiognomie, konnten zum Muster dienen für einige von den Gemälden, womit andere Tempel geschmückt sind; seine Töne entsprachen einem Concert von Engeln. Da stand vor uns eine menschliche Creatur, welche überzeugt war von unserer Unsterblichkeit, von der unserer verlornen Freunde, von der unserer Kinder, die uns in der Bahn der Zeit nur wenig überleben werden! Die innige Ueberzeugung einer reinen Seele erschien als eine neue Offenbarung. Der Mann stieg von der Kanzel, um den Gläubigen, die im Schutze seines Beispiels leben, das Abendmahl zu reichen. Sein Sohn war, wie er, Geistlicher, und hatte in jüngeren Zügen, wie sein Vater, den Ausdruck der Frömmigkeit und [245] Andacht. Jetzt reichten sich, nach dem Gebrauche, der Vater und der Sohn das Brod und den Kelch, welche[r] bei Protestanten zur Erinnerung an das rührendste aller Mysterien dienen; der Sohn sah in seinem Vater nur den Hirten, in dem von ihm gewählten Stande ergraut; der Vater achtete in seinem Sohne den Beruf, dem er gefolgt war. Beide richteten, indem sie das Abendmahl genossen, an einander die Stellen des Evangeliums, welche Fremde wie Freunde mit demselben Bande umschließen sollen; und indem Beide ihre innigsten Gefühle in ihren Herzen bewahrten, schienen sie in Gegenwart der Gottheit; für welche Väter und Söhne gleich sehr Diener des Grabes und Kinder der Hoffnung sind, ihre persönlichen Verhältnisse zu vergessen.

Welche Poesie, welche Rührung, als Quelle aller Poesie, könnte in einem solchen Augenblicke dem Gottesdienste fehlen! Die Menschen, deren Wünsche uneigennützig, deren Gedanken religiös sind; die Menschen, welche im Heiligthum ihres Gewissens leben, und die Strahlen des Universums in demselben, wie in einem Brennspiegel, zusammenzufassen verstehn: diese, und nur diese, sind Priester des Cultus der Seele, und nichts vermag sie jemals zu veruneinigen. Eine unausfüllbare Kluft trennt die, welche sich von der Berechnung des Eigennutzes, und die, welche sich von ihren Gefühlen leiten lassen; alle übrigen Unterschiede der Meinungen sind nichts, aber dieser ist radical. Möglich, daß einst ein Schrei der Einheit sich erhebt, möglich, daß die Allgemeinheit der Christen dieselbe theologische, politische und moralische Religion zu bekennen verlangt; aber bis dies Wunder gezeitigt ist, sollen Alle, die ein Herz haben, dem sie folgen, sich gegenseitig achten.

 

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1) Herr Celerier, Pastor von Satigny, bei Genf.