BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

____________________________________________

 

 

 

am 1. Juli.

 

Was Lotte einem Kranken seyn muß, fühl ich an meinem eignen armen Herzen, das übler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet. Sie wird einige Tage in der Stadt bey einer rechtschaffenen Frau zubringen, die sich nach der Aussage der Aerzte ihrem Ende naht, und in diesen lezten Augenblikken will sie Lotten um sich haben. Ich war vorige Woche mit ihr [51] den Pfarrer von St. . . zu besuchen, ein Oertgen, das eine Stunde seitwärts im Gebürge liegt. Wir kamen gegen viere dahin. Lotte hatte ihre zweyte Schwester mitgenommen. Als wir in den, von zwey hohen Nußbäumen überschatteten, Pfarrhof traten, saß der gute alte Mann auf einer Bank vor der Hausthüre, und da er Lotten sah, ward er wie neubelebt, vergaß seinen Knotenstok und wagte sich auf ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm, nöthigte ihn, sich niederzusezzen, indem sie sich zu ihm sezte, brachte viel Grüsse von ihrem Vater, herzte seinen garstigen schmuzigen jüngsten Buben, das Quakelgen seines Alters. Du hättest sie sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie ihre Stimme erhub um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie ihm erzählte von jungen robusten Leuten, die unvermuthet gestorben wären, von der Vortreflichkeit des Carlsbades, und wie sie seinen Entschluß lobte, künftigen Sommer hinzugehen, und wie sie fand, daß er viel besser aussähe, viel munterer sey als das leztemal, da sie ihn gesehn. Ich hatte indeß der Frau Pfarrern meine Höflichkeiten gemacht, der Alte wurde [52] ganz munter, und da ich nicht umhin konnte, die schönen Nußbäume zu loben, die uns so lieblich beschatteten, fieng er an, uns, wiewohl mit einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon zu geben. Den alten sagte er, wissen wir nicht, wer den gepflanzt hat, einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der jüngere aber dorthinten ist so alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahre. Ihr Vater pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen Abend gebohren wurde. Er war mein Vorfahr im Amte, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen, mir ist er's gewiß nicht weniger, meine Frau sas drunter auf einem Balken und strikte, als ich vor sieben und zwanzig Jahren als ein armer Student zum erstenmal hier in Hof kam. Lotte fragte nach seiner Tochter, es hieß, sie sey mit Herrn Schmidt auf der Wiese hinaus zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzählung fort, wie sein Vorfahr ihn lieb gewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrern mit dem sogenannten Herrn Schmidt durch den Garten her[53]kam, sie bewillkommte Lotten mit herzlicher Wärme, und ich muß sagen, sie gefiel mir nicht übel, eine rasche, wohlgewachsne Brünette, die einen die Kurzeit über auf dem Lande wohl unterhalten hätte. Ihr Liebhaber, denn als solchen stellte sich Herr Schmidt gleich dar, ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht in unsere Gespräche mischen wollte, ob ihn gleich Lotte immer herein zog; und was mich am meisten betrübte, war, daß ich an seinen Gesichtszügen zu bemerken schien, es sey mehr Eigensinn und übler Humor als Eingeschränktheit des Verstandes, der ihn sich mitzutheilen hinderte. In der Folge ward dieß nur leider zu deutlich, denn als Friedrike beym Spazierengehn mit Lotten und verschiedentlich auch mit mir gieng, wurde des Herrn Angesicht, das ohne das einer bräunlichen Farbe war, so sichtlich verdunkelt, daß es Zeit war, daß Lotte mich beym Ermel zupfte, und mir das Artigthun mit Friederiken abrieth. Nun verdrießt mich nichts mehr als wenn die Menschen einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Blüthe des Lebens, da sie am offensten für alle Freuden seyn könnten, einander die [54] paar guten Tage mit Frazzen verderben, und nur erst zu spät das unersezliche ihrer Verschwendung einsehen. Mir wurmte das, und ich konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurükkehrten und an einem Tische gebroktes Brod in Milch assen, und der Diskurs auf Freude und Leid in der Welt roulirte, den Faden zu ergreifen, und recht herzlich gegen die üble Laune zu reden. Wir Menschen beklagen uns oft, fing ich an, daß der guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und wie mich dünkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz hätten das Gute zu geniessen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir würden alsdenn auch Kraft genug haben, das Uebel zu tragen, wenn es kommt. – Wir haben aber unser Gemüth nicht in unserer Gewalt, versezte die Pfarrern, wie viel hängt vom Körper ab! wenn man nicht wohl ist, ist's einem überall nicht recht. – Ich gestund ihr das ein. Wir wollens also, fuhr ich fort, als eine Krankheit ansehen, und fragen ob dafür kein Mittel ist! – Das läßt sich hören, sagte Lotte, ich glaube wenigstens, daß viel von uns abhängt; ich weis [55] es an mir, wenn mich etwas nekt und mich verdrüßlich machen will, spring ich auf und sing ein paar Contretänze den Garten auf und ab, gleich ist's weg. – Das war's was ich sagen wollte, versezte ich, es ist mit der üblen Laune völlig wie mit der Trägheit, denn es ist eine Art von Trägheit; unsere Natur hängt sehr dahin, und doch, wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu ermannen, geht uns die Arbeit frisch von der Hand, und wir finden in der Thätigkeit ein wahres Vergnügen. Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch wandte mir ein, daß man nicht Herr über sich selbst sey, und am wenigsten über seine Empfindungen gebieten könne. Es ist hier die Frage von einer unangenehmen Empfindung, versezt ich, die doch jedermann gern los ist, und niemand weis wie weit seine Kräfte gehn, bis er sie versucht hat. Gewiß, einer, der krank ist, wird bey allen Aerzten herum fragen, und die größten Resignationen, die bittersten Arzneyen, wird er nicht abweisen um seine gewünschte Gesundheit zu erhalten. Ich bemerkte, daß der ehrliche Alte sein Gehör anstrengte um an unserm Diskurs Theil [56] zu nehmen, ich erhub die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn wandte. Man predigt gegen so viele Laster, sagt ich, ich habe noch nie gehört daß man gegen die üble Laune vom Predigtstuhle gearbeitet hätte *) – Das müßten die Stadtpfarrer thun, sagt er, die Bauern haben keinen bösen Humor, doch könnts auch nichts schaden zuweilen, es wäre eine Lektion für seine Frau wenigstens, und den Herrn Amtmann. Die Gesellschaft lachte und er herzlich mit, bis er in einen Husten verfiel, der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach, darauf denn der junge Mensch wieder das Wort nahm: Sie nannten den bösen Humor ein Laster, mich deucht, das ist übertrieben. – Mit nichten gab ich zur Antwort, wenn das, womit man sich selbst und seinen Nächsten schadet, den Namen verdient. Ist es nicht genug, daß wir einander nicht glüklich machen können, müssen wir auch noch einander das Vergnügen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal selbst gewähren kann. [57] Und nennen sie mir den Menschen, der übler Laune ist und so brav dabey sie zu verbergen, sie allein zu tragen, ohne die Freuden um sich her zu zerstören; oder ist sie nicht vielmehr ein innerer Unmuth über unsre eigne Unwürdigkeit, ein Misfallen an uns selbst, das immer mit einem Neide verknüpft ist, der durch eine thörige Eitelkeit aufgehezt wird: wir sehen glükliche Menschen, die wir nicht glüklich machen, und das ist unerträglich! Lotte lächelte mich an, da sie die Bewegung sah mit der ich redte, und eine Thräne in Friederikens Auge spornte mich, fortzufahren. Weh denen sagt ich, die sich der Gewalt bedienen, die sie über ein Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst hervorkeimen. Alle Geschenke, alle Gefälligkeiten der Welt ersezzen nicht einen Augenblik Vergnügen an sich selbst, den uns eine neidische Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergällt hat.

Mein ganzes Herz war voll in diesem Augenblikke, die Erinnerung so manches Vergangenen drängte sich an meine Seele, und die Thränen kamen mir in die Augen.

[58] Wer sich das nur täglich sagte, rief ich aus: du vermagst nichts auf deine Freunde, als ihnen ihre Freude zu lassen und ihr Glük zu vermehren, indem du es mit ihnen geniessest. Vermagst du, wenn ihre innre Seele von einer ängstigenden Leidenschaft gequält, vom Kummer zerrüttet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?

Und wenn die lezte bangste Krankheit dann über das Geschöpf herfällt, das du in blühenden Tagen untergraben hast, und sie nun da liegt in dem erbärmlichen Ermatten, und das Aug gefühllos gen Himmel sieht, und der Todesschweis auf ihrer Stirne abwechselt, und du vor dem Bette stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten Gefühl, daß du nichts vermagst mit all deinem Vermögen, und die Angst dich inwendig krampft, daß du alles hingeben möchtest, um dem untergehenden Geschöpf einen Tropfen Stärkung, einen Funken Muth einflößen zu können.

Die Erinnerung einer solchen Scene, da ich gegenwärtig war, fiel mit ganzer Gewalt bey diesen Worten über mich. Ich nahm das Schnupftuch vor die Augen, und verlies die Gesellschaft, [59] und nur Lottens Stimme, die mir rief: wir wollten fort, brachte mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt, über den zu warmen Antheil an allem! und daß ich drüber zu Grunde gehen würde! Daß ich mich schonen sollte! O der Engel! Um deinetwillen muß ich leben!

 

_________

 

*)

Wir haben nun von Lavatern eine trefliche Predigt hierüber unter denen über das Buch Jonas.