BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

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[103]

am 10. Sept.

 

Das war eine Nacht! Wilhelm, nun übersteh ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn. O daß ich nicht an Deinen Hals fliegen, Dir mit tausend Thränen und Entzükkungen ausdrükken kann, mein Bester, all die Empfindungen, die mein Herz bestürmen. Hier sizz ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, und erwarte den Morgen, und mit Sonnen Aufgang sind die Pferde bestellt.

 

Ach, sie schläft ruhig und denkt nicht, daß sie mich nie wieder sehen wird. Ich habe mich losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem Gespräche von zwey Stunden mein Vorhaben nicht zu verrathen. Und Gott, welch ein Gespräch!

 

Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im Garten zu seyn. Ich [104] stand auf der Terrasse unter den hohen Castanienbäumen, und sah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmal über dem lieblichen Thale, über dem sanften Flusse untergieng. So oft hatte ich hier gestanden mit ihr, und eben dem herrlichen Schauspiele zugesehen und nun – Ich gieng in der Allee auf und ab, die mir so lieb war, ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft gehalten, eh ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als im Anfange unserer Bekanntschaft wir die wechselseitige Neigung zu dem Pläzgen entdekten, das wahrhaftig eins der romantischten ist, die ich von der Kunst habe hervorgebracht gesehen.

 

Erst hast du zwischen den Castanienbäumen die weite Aussicht – Ach, ich erinnere mich, ich habe dir, denk ich, schon viel geschrieben davon, wie hohe Buchenwände einen endlich einschliessen und durch ein daran stoßendes Bosquet die Allee immer düstrer wird, bis zuletzt alles sich in ein geschlossenes Pläzgen endigt, das alle Schauer der [105] Einsamkeit umschweben. Ich fühl es noch wie heimlich mir's ward, als ich zum erstenmal an einem hohen Mittage hinein trat, ich ahndete ganz leise, was das noch für ein Schauplaz werden sollte von Seligkeit und Schmerz.

 

Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in denen schmachtend süssen Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehns geweidet; als ich sie die Terrasse herauf steigen hörte, ich lief ihnen entgegen, mit einem Schauer faßt ich ihre Hand und küßte sie. Wir waren eben herauf getreten, als der Mond hinter dem büschigen Hügel aufgieng, wir redeten mancherley und kamen unvermerkt dem düstern Cabinette näher. Lotte trat hinein und sezte sich, Albert neben sie, ich auch, doch, meine Unruhe lies mich nicht lange sizzen, ich stand auf, trat vor sie, gieng auf und ab, sezte mich wieder, es war ein ängstlicher Zustand. Sie machte uns aufmerksam auf die schöne Würkung des Mondenlichts, das am Ende der Buchenwände die ganze Terrasse vor uns erleuchtete, ein herrlicher Anblik, [106] der um so viel frappanter war, weil uns rings eine tiefe Dämmerung einschloß. Wir waren still, und sie fieng nach einer Weile an: Niemals geh ich im Mondenlichte spazieren, niemals daß mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, daß nicht das Gefühl von Tod, von Zukunft über mich käme. Wir werden seyn, fuhr sie mit der Stimme des herrlichsten Gefühls fort, aber Werther, sollen wir uns wieder finden? und wieder erkennen? Was ahnden sie, was sagen sie?

 

Lotte, sagt ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen voll Thränen wurden, wir werden uns wieder sehn! Hier und dort wieder sehn! – Ich konnte nicht weiter reden – Wilhelm, mußte sie mich das fragen? da ich diesen ängstlichen Abschied im Herzen hatte.

 

Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen, fuhr sie fort, ob sie fühlen, wann's uns wohl geht, daß wir mit warmer Liebe uns ihrer erinnern? O die Gestalt meiner Mutter schwebt im[107]mer um mich, wenn ich so am stillen Abend, unter ihren Kindern, unter meinen Kindern sizze, und sie um mich versammlet sind, wie sie um sie versammlet waren. Wenn ich so mit einer sehnenden Thräne gen Himmel sehe, und wünsche: daß sie herein schauen könnte einen Augenblik, wie ich mein Wort halte, das ich ihr in der Stunde des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu seyn. Hundertmal ruf ich aus: Verzeih mir's, Theuerste, wenn ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! thu ich doch alles was ich kann, sind sie doch gekleidet, genährt, ach und was mehr ist als das alles, gepflegt und geliebet. Könntest du unsere Eintracht sehn, liebe Heilige! du würdest mit dem heissesten Danke den Gott verherrlichen, den du mit den lezten bittersten Thränen um die Wohlfahrt deiner Kinder batst. Sie sagte das! O Wilhelm! wer kann wiederholen, was sie sagte, wie kann der kalte todte Buchstabe diese himmlische Blüthe des Geistes darstellen. Albert fiel ihr sanft in die Rede: es greift sie zu stark an, liebe Lotte, ich weis, ihre Seele hängt sehr nach diesen Ideen, [107] aber ich bitte Sie – O Albert, sagte sie, ich weis, du vergißt nicht die Abende, da wir zusammen saßen an dem kleinen runden Tischgen, wenn der Papa verreist war, und wir die Kleinen schlafen geschikt hatten. Du hattest oft ein gutes Buch, und kamst so selten dazu etwas zu lesen. War der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles! die schöne, sanfte, muntere und immer thätige Frau! Gott kennt meine Thränen, mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er möchte mich ihr gleich machen.

 

Lotte! rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hände nahm und mit tausend Thränen nezte. Lotte, der Segen Gottes ruht über dir, und der Geist deiner Mutter! – Wenn sie sie gekannt hätten! sagte sie, indem sie mir die Hand drükte, sie war werth, von ihnen gekannt zu seyn. – Ich glaubte zu vergehen; nie war ein grösseres, stolzeres Wort über mich ausgesprochen worden, und sie fuhr fort: und diese Frau mußte in der Blüthe ihrer Jahre dahin, da [109] ihr jüngster Sohn nicht sechs Monathe alt war. Ihre Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig, resignirt, nur ihre Kinder thaten ihr weh, besonders das kleine. Wie es gegen das Ende gieng, und sie zu mir sagte: Bring mir sie herauf, und wie ich sie herein führte, die kleinen die nicht wußten, und die ältesten die ohne Sinne waren, wie sie um's Bett standen und wie sie die Hände aufhub und über sie betete, und sie küßte nach einander und sie wegschikte, und zu mir sagte: Sey ihre Mutter! Ich gab ihr die Hand drauf! Du versprichst viel, meine Tochter, sagte sie, das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter! Ich hab oft an deinen dankbaren Thränen gesehen, daß du fühlst was das sey. Hab es für deine Geschwister, und für deinen Vater, die Treue, den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trösten. Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen, den er fühlte, der Mann war ganz zerrissen.

 

[110] Albert, du warst im Zimmer! Sie hörte jemand gehn, und fragte, und forderte dich zu ihr. Und wie sie dich ansah und mich, mit dem getrösteten ruhigen Blikke, daß wir glüklich seyn, zusammen glüklich seyn würden. Albert fiel ihr um den Hals und küßte sie, und rief: wir sinds! wir werdens seyn. Der ruhige Albert war ganz aus seiner Fassung, und ich wußte nichts von mir selber.

 

Werther, fieng sie an, und diese Frau sollte dahin seyn! Gott, wenn ich manchmal so denke, wie man das Liebste seines Lebens so wegtragen läßt, und niemand als die Kinder das so scharf fühlt, die sich noch lange beklagten: die schwarzen Männer hätten die Mamma weggetragen.

 

Sie stund auf, und ich ward erwekt und erschüttert, blieb sizzen und hielt ihre Hand. Wir wollen fort, sagte sie, es wird Zeit. Sie wollte ihre Hände zurük ziehen und ich hielt sie fester! Wir werden uns wiedersehn, rief ich, wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns [111] erkennen. Ich gehe, fuhr ich fort, ich gehe willig, und doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich würde es nicht aushalten. Leb wohl, Lotte! Leb wohl, Albert! Wir sehen uns wieder. – Morgen, denk ich, versezte sie scherzend, ich fühlte das Morgen! Ach sie wußte nicht als sie ihre Hand aus der meinigen zog – sie giengen die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus, und sprang auf, lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort drunten im Schatten der hohen Lindenbäume ihr weisses Kleid nach der Gartenthüre schimmern, ich strekte meine Arme hinaus, und es verschwand.

 

 

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