B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Johann Wolfgang Goethe
1749 - 1832
     
   



Ü b e r   d e n   Z w i s c h e n k i e f e r

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Versuch
aus der
vergleichenden Knochenlehre
daß
der Zwischenknochen
der oberen Kinnlade
dem Menschen
mit den übrigen Thieren
gemein sey.

Jena 1784


Einige Versuche osteologischer Zeichnungen sind hier in der Absicht zusammen geheftet worden, um Kennern und Freunden vergleichender Zergliederungskunde eine kleine Entdeckung vorzulegen, die ich glaube gemacht zu haben.
     Bei Thierschädeln fällt es gar leicht in die Augen, daß die obere Kinnlade aus mehr als einem Paar Knochen besteht. Ihr vorderer Theil wird durch sehr sichtbare Nähte und Harmonien mit dem hintern Theile verbunden und macht ein Paar besondere Knochen aus.
     Dieser vorderen Abtheilung der oberen Kinnlade ist der Name Os intermaxillare gegeben worden. Die Alten kannten schon diesen Knochen *), und neuerdings ist er besonders merkwürdig geworden, da man ihn als ein Unterscheidungszeichen zwischen dem Affen und Menschen angegeben. Man hat ihn jenem Geschlechte zugeschrieben, diesem abgeläugnet **), und wenn in natürlichen Dingen nicht der Augenschein überwiese, so würde ich schüchtern sein aufzutreten und zu sagen, daß sich diese Knochenabtheilung gleichfalls bei dem Menschen finde.
     Ich will mich so kurz als möglich fassen, weil durch bloßes Anschauen und Vergleichen mehrerer Schädel eine ohnedieß sehr einfache Behauptung geschwinde beurtheilet werden kann.
     Der Knochen von welchem ich rede, hat seinen Namen daher erhalten, daß er sich zwischen die beiden Hauptknochen der oberen Kinnlade hinein schiebt. Er ist selbst aus zwei Stücken zusammengesetzt, die in der Mitte des Gesichtes an einander stoßen.
     Er ist bei verschiedenen Thieren von sehr verschiedener Gestalt und verändert, je nachdem er sich vorwärts streckt oder sich zurücke zieht, sehr merklich die Bildung. Sein vorderster, breitester und stärkster Theil, dem ich den Namen des Körpers gegeben, ist nach der Art des Futters eingerichtet, das die Natur dem Thiere bestimmt hat, denn es muß seine Speise mit diesem Theile zuerst anfassen, ergreifen, abrupfen, abnagen, zerschneiden, sie auf eine oder andere Weise sich zueignen; deßwegen ist er bald flach und mit Knorpeln versehen, bald mit stumpfern oder schärferen Schneidezähnen bewaffnet, oder erhält eine andere, der Nahrung gemäße Gestalt.
     Durch einen Fortsatz an der Seite verbindet er sich aufwärts mit der obern Kinnlade, dem Nasenknochen und manchmal mit dem Stirnbeine.
     Inwärts von dem ersten Schneidezahn oder von dem Orte aus den er einnehmen sollte, begibt sich ein Stachel oder eine Spina hinterwärts, legt sich auf den Gaumenfortsatz der oberen Kinnlade an und bildet selbst eine Rinne worin der untere und vordere Theil des Vomers oder Pflugscharbeins sich einschiebt. Durch diese Spina, den Seitentheil des Körpers dieses Zwischenknochens und den vorderen Theil des Gaumenfortsatzes der obern Kinnlade werden die Canäle (Canales incisivi oder naso-palatini) gebildet, durch welche kleine Blutgefäße und Nervenzweige des zweiten Astes des fünften Paares gehen.
     Deutlich zeigen sich diese drei Theile mit Einem Blicke an einem Pferdeschädel auf der zweiten Tafel, Fig. 1.

     A. Corpus.
     B. Apophysis maxillaris.
     C. Apophysis palatina.

     An diesen Haupttheilen sind wieder viele Unterabtheilungen zu bemerken und zu beschreiben. Eine lateinische Terminologie, die ich mit Beihülfe des Herrn Hofrath Loder verfertigt habe und hier beilege, wird dabei zum Leitfaden dienen können. Es hatte solche viele Schwierigkeiten, wenn sie auf alle Thiere passen sollte. Da bei dem einen gewisse Theile sich sehr zurückziehen, zusammenfließen und bei andern gar verschwinden, so wird auch gewiß, wenn man mehr in's Feinere gehen wollte, diese Tafel noch manche Verbesserung zulassen.


O s  i n t e r m a x i l l a r e .

A. Corpus.

a) Superficies anterior,
     1. Margo superior in quo spina nasalis.
     2. Margo inferior seu alveolaris.
     3. Angulus inferior exterior corporis.

b) Superficies posterior, qua os intermaxillare jungitur apophysi palatinae ossis maxillaris superioris.

c) Superficies lateralis exterior, qua os intermaxillare jungitur ossi maxillari superiori.

d) Superficies lateralis interior, qua alterum os intermaxillare jungitur alteri.

e) Superficies superior.
Margo anterior, in quo spina nasalis. vid. 1.
     4. Margo posterior sive ora superior canalis naso- palatini.

f) Superficies inferior.
     5 . Pars alveolaris.
     6. Pars palatina.
     7. Ora inferior canalis naso-palatini.

B. Apophysis maxillaris.

g) Superficies anterior.

h) Superficies lateralis interna.
     8. Eminentia linearis.

i) Superficies lateralis externa.

k) Margo exterior.

l) Margo interior.

m) Margo posterior.

n) Angulus apophyseos maxillaris.

C. Apophysis palatina.

o) Extremitas anterior.

p) Extremitas posterior.

q) Superficies superior.

r) Superficies inferior.

s) Superficies lateralis interna.

t) Superficies lateralis externa.

     Die Buchstaben und Zahlen, durch welche auf vorstehender Tafel die Theile bezeichnet werden, sind bei den Umrissen und einigen Figuren gleichfalls angebracht. Vielleicht wird es hier und da nicht sogleich in die Augen fallen, warum man diese und jene Eintheilung festgesetzt und eine oder die andere Benennung gewählt hat. Es ist nichts ohne Ursache geschehen, und wenn man mehrere Schädel durchsieht und vergleicht, so wird die Schwierigkeit, deren ich oben schon gedacht, noch mehr auffallen.


     Ich gehe nun zu einer kurzen Anzeige der Tafeln. Übereinstimmung und Deutlichkeit der Figuren wird mich einer weitläuftigen Beschreibung überheben, welche ohnedieß Personen, die mit solchen Gegenständen bekannt sind, nur uunöthig und verdrießlich sein würde. Am meisten wünschte ich, daß meine Leser Gelegenheit haben möchten, die Schädel selbst dabei zur Hand zu nehmen.




D i e  I t e  T a f e l

stellt den vorderen Theil der oberen Kinnlade des Ochsen, des Rehes und des Kameles verkleinert dar.

fig. 1 a b c
vom Reh.

fig. 2 a b c
vom Ochsen.

fig. 3 a b c
vom Kamel.

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D i e  I I t e  T a f e l

das Os intermaxillare des Pferdes
und des Babirussa verkleinert.

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T a b .  I I I .

fig. 1.
Das Os intermaxillare des Löwen von oben und unten. Man bemerke besonders die Sutur, welche Apophysin palatinam maxillae superioris von dem Osse intermaxillari trennt.

fig. 2.
vom Eisbär,

fig. 3.
vom Wolf.

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T a b .  I V .

fig. 1.
Das Os intermaxillare vom Walroß.

fig. 2.
Dasselbe von einem ganz jungen Walroß.

fig. 3.
Superficies lateralis interior des Ossis intermaxillaris des jungen Walrosses.

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Tab. V.
fig. 1
zeigt einen Affenschädel von vorn und von unten. Man sehe, wie die Sutur aus den Canalibus incisivis herauskommt, gegen den Hundszahn zuläuft, sich an seiner Alveole vorwärts wegschleicht und zwischen dem nächsten Schneidezahne und dem Hundszahne, ganz nah an diesem letzteren, durchgeht und die beiden Alveolen trennt.
fig. 2
sind die Theile eines Menschenschädels. Man sieht ganz deutlich die Sutur, die das Os intermaxillare von der Apophysi palatina maxillae superioris trennt. Sie kommt aus den Canalibus incisivis heraus, deren untere Öffnung in ein gemeinschaftliches Loch zusammen fließt, das den Namen des Foraminis incisivi oder palatini anterioris oder gustativi führt, und verliert sich zwischen dem Hunds- und zweiten Schneidezahn.

     Jene erste Sutur hatte schon Vesalius bemerkt ***) und in seinen Figuren deutlich angegeben. Er sagt, sie reiche bis an die vordere Seite der Hundszähne, dringe aber nirgends so tief durch, daß man dafür halten könne, der obere Kinnladenknochen werde dadurch in zwei getheilt. Er weist, um den Galen zu erklären, der seine Beschreibung bloß nach einem Thiere gemacht hatte, auf die erste Figur pag. 46, wo er dem menschlichen Schädel einen Hundeschädel beigefügt hat, um den an dem Thiere gleichsam deutlicher ausgeprägten Revers der Medaille dem Leser vor Augen zu legen. Die zweite Sutur, die sich im Nasengrunde zeigt, aus den canalibus naso-palatinis herauskommt und bis in die Gegend der conchae inferioris verfolgt werden kann, hat er nicht bemerkt. Hingegen finden sich beide in der großen Osteologie des Albinus bezeichnet. Er nennt sie Suturas maxillae superiori proprias.
     In Cheselden's Osteographia finden sie sich nicht, auch in John Hunter's Natural history of the human teeth ist keine Spur davon zu sehen; und dennoch sind sie an einem jeden Schädel mehr oder weniger sichtbar, und wenn man aufmerksam beobachtet, ganz und gar nicht zu verkennen.
     Tab. V. fig. 2 ist ein halber Oberkiefer eines gesprengten Menschenschädels und zwar dessen inwendige Seite, durch welche beide Hälften mit einander verbunden werden. Es fehlten an dem Knochen, wonach er gezeichnet worden, zwei Vorderzähne, der Hunds- und erste Backenzahn. Ich habe sie nicht wollen suppliren lassen, besonders da das Fehlende hier von keiner Bedeutung war, vielmehr kann man das Os intermaxillare ganz frei sehen. Man kann die Sutur von den Alveolen des Schneide- und Hundszahnes bis durch die Canäle verfolgen. Jenseits der Spinae oder Apophysi palatinae, die hier eine Art von Kamm macht, kommt sie wieder hervor und ist bis an die Eminentiam linearem sichtbar, wo sich die Concha inferior anlegt.
     Man halte diese Tafel gegen Tab. IV und man wird es bewundernswürdig finden, wie die Gestalt des ossis intermaxillaris eines solchen Ungeheuers, wie der Trichechus rosmarus ist, lehren muß denselben Knochen am Menschen zu erkennen und zu erklären. Auch Tab. III fig. 1 gegen Tab. IV fig. 2 gehalten, zeigt dieselbe Sutur bei'm Löwen wie bei'm Menschen auf das deutlichste. Ich sage nichts vom Affen, weil bei diesem die Übereinstimmung zu auffallend ist.
     Es wird also kein Zweifel übrig bleiben, daß diese Knochenabtheilung sich sowohl bei Menschen als Thieren findet, ob wir gleich nur einen Theil der Grenzen dieses Knochens an unserm Geschlechte genau bestimmen können, da die übrigen verwachsen und mit der oberen Kinnlade auf das genaueste verbunden sind. So zeigt sich an den äußeren Theilen der Gesichtsknochen nicht die mindeste Sutur oder Harmonie, wodurch man auf die Muthmaßung kommen könnte, daß dieser Knochen bei dem Menschen getrennt sei.
     Die Ursache scheint mir hauptsächlich darin zu liegen: dieser Knochen, der bei Thieren so außerordentlich vorgeschoben ist, zieht sich bei dem Menschen in ein sehr kleines Maß zurück. Man nehme den Schädel eines Kindes, oder Embryonen vor sich, so wird man sehen, wie die keimenden Zähne einen solchen Drang an diesen Theilen verursachen und die Beinhäutchen so spannen, daß die Natur alle Kräfte anwenden muß, um diese Theile auf das innigste zu verweben. Man halte einen Thierschädel dagegen, wo die Schneidezähne so weit vorwärts gerückt sind und der Drang sowohl gegen einander als gegen den Hundszahn nicht so stark ist. Inwendig in der Nasenhöhle verhält es sich eben so. Man kann, wie schon oben bemerkt, die Sutur des ossis intermaxillaris aus den canalibus incisivis bis dahin verfolgen, wo die ossa turbinata oder conchae inferiores sich anlegen. Hier wirkt also der Trieb des Wachsthumes dreier verschiedener Knochen gegeneinander und verbindet sie genauer.
     Ich bin überzeugt, daß denjenigen die diese Wissenschaft tiefer durchschauen, dieser Punct noch erklärbarer sein wird. Ich habe verschiedene Fälle, wo dieser Knochen auch bei Thieren zum Theil oder ganz verwachsen ist, bemerken können und es wird sich vielleicht in der Folge mehr darüber sagen lassen. Auch gibt es mehrere Fälle, daß Knochen, die sich bei erwachsenen Thieren leicht trennen lassen, schon bei Kindern nicht mehr abgesondert werden können.
     Bei den Cetaceis, Amphibien, Vögeln, Fischen, habe ich diesen Knochen theils auch entdeckt, theils seine Spuren gefunden.
     Die außerordentliche Mannichfaltigkeit, in der er sich an den verschiedenen Geschöpfen zeigt, verdient wirklich eine ausführliche Betrachtung und wird auch selbst Personen auffallend sein, die an dieser so dürr scheinenden Wissenschaft sonst kein Interesse finden.
     Man könnte alsdann mehr in's Einzelne gehen und bei genauer stufenweiser Vergleichung mehrerer Thiere, vom Einfachsten auf das Zusammengesetztere, vom Kleinen und Eingeengten auf das Ungeheure und Ausgedehnte fortschreiten.
     Welch eine Kluft zwischen dem os intermaxillare der Schildkröte und des Elephanten! Und doch läßt sich eine Reihe Formen dazwischen stellen, die beide verbindet. Das, was an ganzen Körpern niemand läugnet, könnte man hier an einem kleinen Theile zeigen.
     Man mag die lebendigen Wirkungen der Natur im ganzen und großen übersehen, oder man mag die Überbleibsel ihrer entflohenen Geister zergliedern: sie bleibt immer gleich, immer mehr bewundernswürdig.
     Auch würde die Naturgeschichte einige Bestimmungen dadurch erhalten. Da es ein Hauptkennzeichen unseres Knochens ist, daß er die Schneidezähne enthält: so müssen umgekehrt auch die Zähne, die in denselben eingefügt sind, als Schneidezähne gelten. Dem Trichechus rosmarus und dem Kamele hat man sie bisher abgesprochen, und ich müßte mich sehr irren, wenn man nicht jenem vier und diesem zwei zueignen könnte.
     Und so beschließe ich diesen kleinen Versuch mit dem Wunsche, daß er Kennern und Freunden der Naturlehre nicht mißfallen und mir Gelegenheit verschaffen möge, näher mit ihnen verbunden, in dieser reizenden Wissenschaft, soviel es die Umstände erlauben, weitere Fortschritte zu thun.

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*)
Galenus Lib. de ossibus. Cap. III.

**)
Campers sämmtliche kleinere Schriften, herausgegeben von Herbell. Ersten Bandes zweites Stück. S. 93 und 94.
Blumenbach, De varietate generis humani nativa, pag. 33.

***)
Vesalius de humani corporis fabrica (Basil. 1555) Libr. I. Cap. IX. Fig. 11. pag. 48, 52, 53.