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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Albrecht von Haller
Versuch Schweizerischer Gedichte
 


 






 







X I V .

U e b e r   d e n   U r s p r u n g  
d e s   U e b e l s.


Z w e y t e s   B u c h.

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Im Anfang jener Zeit, die Gott allein beginnet,
Die ewig ohne Quell und unversiegen rinnet,
Gefiel Gott eine Welt, wo nach der Weißheit Rath,
Die Allmacht und die Huld auf ihrem Schauplatz trat.
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Verschiedner Welten Riß lag vor ihm ausgebreitet,
Und alle Möglichkeit war ihm zur Wahl bereitet:
Allein die Weißheit gieng auf die Vollkommenheit,
Der Welten treflichste gewann die Würklichkeit.
Befruchtet mit der Kraft des Wesen=reichen Wortes
10
Gebiehrt das alte Nichts; den Raum des öden Ortes
Erfüllt verschiedner Zeug; den regende Gewalt
Erlieset, trennet, mischt und sammelt in Gestalt.
Das Dichte zog sich an, das Licht und Feuer ronnen,
Es nahmen ihren Platz die neugebohrnen Sonnen,
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Die Welten welzten sich und zeichneten ihr Gleiß,
Stäts flüchtig, stäts gesenkt, in dem befohlnen Kreiß.
Gott sah und fand es gut, allein das stumme Dichte,
Hat kein Gefühl von Gott, noch Theil an seinem Lichte:
Ein Wesen fehlte noch, dem Gott sich zeigen kan,
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Gott bließ, und ein Begrif nahm Kraft und Wesen an.
So ward die Geister=Welt. Verschiedne Macht und Ehre
Vertheilt, nach Stuffen Art, die unzälbaren Heere,
Die, ungleich satt vom Glanz des mitgetheilten Lichts,
In langer Ordnung stehn von Gott zum öden Nichts.
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Nach der verschiednen Reyh von fühlenden Gemüthern,
Vertheilte Gott den Trieb nach angemeßnen Gütern:
Der Art Vollkommenheit ward als zum Ziel gesteckt,
Wohin der Geister Wunsch aus eignem Zuge zweckt:
Doch hielt den Willen nur das zarte Band der Liebe,
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So daß zur Abart selbst das Thor geöfnet bliebe,
Und nie der Sinn so sehr zum Guten sich bewegt,
Daß nicht sein erster Wink die Wagschal überschlägt.
Dann Gott liebt keinen Zwang, die Welt mit ihren Mängeln,
Ist besser als ein Reich von Willen=losen Engeln;
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Gott hält vor ungethan, was man gezwungen thut,
Der Tugend Uebung selbst wird durch die Wahl erst gut.
Gott sah von Anfang wohl, wohin die Freyheit führet,
Daß ein Geschöpf sich leicht bey eignem Licht verlieret,
Und ein gemeßner Geist nicht stäts die Kette findt,
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Die den besonderen Satz an den gemeinen bindt.
Des äussern Zauber=Glanz verdeckt die innre Blösse,
Die stärkre Gegenwart erdruckt des fernern Grösse.
Wer ists, der allemal der Neigung Stuffe mißt,
Wo nur das Mittel gut, sonst alles Laster ist?
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Kein endlich Wesen kennt das Mitseyn aller Sachen,
Und die Allwissenheit kan erst unfehlbar machen.
Gott sah dieß alles wohl, und doch schuf er die Welt;
Kan etwas weiser seyn als das, was Gott gefällt?
Gott, der im Reich der Welt sich selber zeigen wollte,
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Sah daß, wann alles nur aus Vorschrift handeln sollte,
Die Welt ein Uhrwerk wird, von fremdem Trieb beseelt,
Und keine Tugend bleibt, wo Macht zum Laster fehlt.
Gott wollte, daß wir ihn aus Kenntniß sollten lieben
Und nicht aus blinder Kraft von ungewählten Trieben:
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Er gönnte dem Geschöpf den unschätzbaren Ruhm,
Aus Wahl ihm hold zu seyn, und nicht aus Eigenthum.
Der Thaten Unterscheid wird durch den Zwang gehoben,
Wir loben Gott nicht mehr, wann er uns zwingt zu loben;
Gerechtigkeit und Huld, der Gottheit Arme ruhn,
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So bald Gott alles würkt, und wir nichts selber thun.
Drum überließ auch Gott die Geister ihrem Willen,
Und dem Zusammenhang, woraus die Thaten quillen.
Doch so, daß seine Hand der Welten Steur behielt,
Und der Natur ihr Rad muß stehn, wann er befiehlt.
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So kamen in die Welt, die neu=erschafnen Geister,
Vollkommenes Geschöpf von dem vollkommnen Meister;
In ihnen war noch nichts, das nicht zum Guten trieb,
Kein Zug, der an die Stirn nicht ihren Ursprung schrieb;
Ein jedes Einzle war in seiner Art vollkommen.
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Dem war wohl mehr verliehn, doch jenem nichts benommen.

Der einen Wesen ward vom Irrdischen befreyt,
Sie blieben näher Gott an Art und Herrlichkeit.
Euch kennt kein Sterblicher ihr himmlischen Naturen!
Von eurer Treflichkeit sind in uns wenig Spuren:
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Nur dieses wissen wir, daß, über uns erhöht,
Ihr auf dem ersten Platz der Reyh der Wesen steht.
Vielleicht empfangen wir, bey trüber Dämmrung Klarheit,
Nur durch fünf Oefnungen den schwachen Strahl der Wahrheit;
Da ihr, bey vollem Tag, das heitere Gemüth
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Durch tausend Pforten füllt, und alles an euch sieht.
Daß, wie das Licht für uns erst wird mit unsren Augen
Ihr tausend Wesen kennt, die wir zu sehn nicht taugen;
Und wie sich unser Aug am Kleid der Dinge stößt,
Vor eurem scharfen Blick sich die Natur entblößt.
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Vielleicht findt auch bey uns der Eindruck der Begriffe
Im allzuseichten Sinn, nicht gnug Gehalt und Tieffe,
Da bey euch alles haft, und, sicher vor der Zeit,
Sich die lebhafte Spur, so oft ihr wünscht, verneut.
Vielleicht, wie unser Geist, gesperrt in enge Schranken,
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Nicht Platz genug enthält zugleich für zwey Gedanken,
In euch der ofne Sinn des Vielen fähig ist,
Und den zu breiten Raum kein einzler Eindruck mißt.
Doch unser Wissen ist hierüber nur Vermuthen,
Genug der Engel Sinn war ausgerüst zum Guten,
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Ihr Trieb zur Tugend war so stark als ihr Verstand,
Sie sehnten sich nach Gott als ihrem Vaterland,
Und ewiglich bemüht mit Loben und Verehren,
War all ihr Wunsch ihr Licht zu Gottes Ruhm zu mehren.

Fern unter ihnen hat das sterbliche Geschlecht,
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Im Himmel und im Nichts, sein doppelt Bürgerrecht.
Aus ungleich festem Stoff hat Gott es auserlesen,
Halb zu der Ewigkeit, halb aber zum Verwesen:
Zweydeutig Mittelding von Engeln und von Vieh,
Es überlebt sich selbst, es stirbt und stirbet nie.

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Auch wir, ach! waren gut: der Welt beglückte Jugend
Sah nichts, so weit sie war, als Seligkeit und Tugend;
Auch in uns prägte Gott sein majestätisch Bild,
Er schuf uns etwas mehr, als Herren vom Gewild.
Er legte tief in uns zwey unterschiedne Triebe.
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Die Liebe für sich selbst, und seines Nächsten Liebe.

Die eine niedriger, doch damals ohne Schuld,
Ist der fruchtbare Quell von Arbeit und Gedult:
Sie schwingt den Geist empor, sie lehrt die Ehre kennen,
Sie flammt das Feuer an, womit die Helden brennen,
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Und führt im steilen Pfad, wo Tugend Dornen streut,
Den Welt=vergeßnen Sinn nach der Vollkommenheit.
Sie wacht für unser Heil, sie lindert unsern Kummer,
Versöhnt uns mit uns selbst und stört des Trägen Schlummer.
Sie zeiget uns, wie heut für morgen sorgen muß,
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Und speiset ferne Noth mit altem Ueberfluß.
Sie dämpft des Kühnen Wuth, sie wafnet die Verzagten;
Sie macht das Leben werth im Auge des Geplagten;
Sie sucht im rauhen Feld des Hungers Gegengift;
Sie kleidet Nackende vom Raub der fetten Trift;
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Sie bahnete das Meer zur Beyhülf unsres Reisens;
Sie fund den ersten Brand im Zweykampf Stein und Eisens;
Sie grub ein Erzt hervor, das alle Thiere zwung;
Sie kocht aus einem Kraut der Schmerzen Leichterung;
Sie spähte der Natur verborgne Eigenschaften;
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Sie wafnete den Sinn mit Kunst und Wissenschaften.
O daß sie doch so oft, vor zartem Eifer blind,
In eingebildtem Glück ein würklich Elend findt!

Viel edler ist der Trieb, der uns für andre rühret,
Vom Himmel kömmt sein Brand, der keinen Rauch gebieret,
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Von seinem Ebenbild, das Gott den Menschen gab,
Drückt deutlicher kein Zug sein hohes Urbild ab:
Sie, diese Liebe, war der Menschen erste Kette,
Sie macht uns bürgerlich, und sammelt uns in Städte;
Sie öfnet unser Herz beym Anblick fremder Noth,
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Sie theilt mit Dürftigen ein gern gemisset Brodt,
Und würkt in uns die Lust, vom Titus oft verlanget,
Wann ein verwandt Geschöpf von uns sein Glück empfanget.
Die Freundschaft stammt von ihr, der Herzen süsse Kost,
Die Gott, in so viel Noth, uns gab zum letzten Trost:
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Sie stekt die Fackeln an, bey deren holdem Scheinen,
Zu beyder Seligkeit, zwey Seelen sich vereinen;
Das innige Gefühl, der Herzen erste Schuld,
Ist ein besondrer Zug der allgemeinen Huld.
Sie ist, was tief in uns für unsre Kinder lodert,
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Sie macht die Müh zur Lust, die ihre Schwachheit fodert,
Sie ist des Blutes Ruf, der für die Kleinen fleht,
Und unser innerstes, so bald er spricht, umdreht.
Ja auch dem Himmel zu gehn ihre reinen Flammen,
Sie leiten uns zu Gott, aus dessen Huld sie stammen,
155
Ihr Trieb zieht ewiglich dem liebenswürd'gen zu,
Und findt erst im Besitz des Höchsten Gutes Ruh.

Noch weiter wollte Gott für unsre Schwachheit sorgen:
Ein wachsames Gefühl liegt in uns selbst verborgen,
Das nie dem Uebel schweigt, und immer leicht versehrt,
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Zur Rache seiner Noth den ganzen Leib empört.
Im zärtlichen Gebäu von wunderkleinen Schläuchen,
Die jedem Theil von uns die Kraft und Nahrung reichen,
Bräch alles Uebermaß den schwachen Faden ab,
Und die Gesundheit selbst führt unvermerkt zum Grab.
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Allein im weichen Mark der zarten Lebens=Sehnen
Wohnt ein geheimer Reitz, der, zwar ein Brunn der Thränen,
Doch auch des Lebens ist, der wider einen Feind
Der sonst wohl unerkannt uns auszuhöhlen meint,
Uns zwingt zum Widerstand; er schließt die regen Nerven
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Vor Frost und Salze zu, verflösset alle Schärfen
Durch Zufluß süssen Safts, und kühlt gesalznes Blut
Durch Zwang vom heissen Durst, mit Strömen dünner Flut.
In allen Arten Noth, die unsre Glieder fäulet,
Ist Schmerz der bittre Trank, womit der Leib sich heilet.

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Weit nöthiger liegt noch, im innersten von uns,
Der Werke Richterin, der Probstein unsers Thuns:
Vom Himmel stammt ihr Recht; er hat in dem Gewissen
Die Pflichten der Natur den Menschen vorgerissen:
Er grub mit Flammenschrift in uns des Lasters Scheu
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Und ihren Nachgeschmack die bittre Kost der Reu.
Ein Geist, wo Sünde herrscht, ist ewig ohne Frieden,
Sie macht uns selbst zur Höll' und wird doch nicht gemieden!

Versehn zu Sturm und See, in allem wohl bestellt,
Betraten wir nunmehr das weite Meer der Welt.
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Die Werkzeug unsers Glücks sind allen gleich gemessen,
Jedweder hat sein Pfund, und niemand ist vergessen.
Zwar in der Seele selbst herrscht Maaß und Unterscheid,
Das Glück der Sterblichen will die Verschiedenheit;
Die Ordnung der Natur zeugt minder Gold als Eisen,
190
Der Staaten schlechtester ist der von eitel Weisen: 1)
Itzt findet jede Pflicht ihr eigen Maaß Verstand,
Der eingetheilte Witz wird ganz zum Nutz verwandt.

Dort würkt ein hoher Geist, betrogen vom Geschicke,
Nur um sich selbst besorgt, an seines Landes Glücke:
195
Wann hier ein niedrer Sinn, mit Schweiß und Brot vergnügt,
Des Grossen Unterhalt im heissen Feld erpflügt.
Hier sucht ein weiser Mann, bey Nacht und stillem Oele,
Des Körpers inn're Kraft, das Wesen seiner Seele,
Wann dort mit schwächrem Licht, gleich nützlich in der That,
200
Ein Weib sein Hauß beherrscht und Kinder zieht dem Staat.

Doch nur im Zierath herrscht der Unterscheid der Gaben,
Was jedem nöthig ist, muß auch ein jeder haben:
Kein Mensch verwildert so, dem eingebohrnes Licht,
Nicht, wann er sich vergeht, sein erstes Urtheil spricht.
205
Die Kraft von Blut und Recht erkennen die Huronen,
Die dort an Mitschigans beschneyten Ufern wohnen, 2)
Und unterm braunen Sud fühlt auch der Hottentott
Die allgemeine Pflicht und der Natur Gebott.

 
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    1)
Dans une Isle remplie de parfaits stoiciens chaque Philosophe, ignorant les douceurs de la confiance & de l'amitié, ne pense qu'à se sequestrer des autres humains. Il a calculé ce qu'il en pouvoit atendre; les avantages qu'ils pourroient lui procurer, & les torts qu'ils pourroient lui faire, & a rompu tout commerce avec eux. Nouveau Diogene, il fait consister sa perfection a occuper un tonneau plus étroit que celui de son voisin. Essais de Phil. Mor. par Mr. de Maupertuis. Diese Stelle ist eine so genaue Erklärung meines Gedankens, daß ich mich über das Glücke verwundre, welches mir sie durch einen so berühmten Mann, zugeschikt zu haben scheint. Ich erinnere mich hier eines Unbills, den der verstorbene Herr Präsident in seinen Oeuvres Philosophiques mir angethan hat. Er sagt, ich seye über seine Erklärung wegen des berüchtigten La Mettrie nicht zu befriedigen gewesen, da doch die gröste Eigenliebe sich daran hätte sättigen können. Wie hat doch diese Anklage dem Herrn von Maupertuis entfahren, und von andern ihm nachgeschrieben werden können, da ich nicht nur eben diese Erklärung selbst in Göttingen habe abdrucken und meinen Freunden austheilen lassen, sondern ihr auch in meinen kleinen deutschen Schrifften eine Stelle gelassen habe, ohne dabey das geringste Merkmal eines Misvergnügens zu bezeigen. Wohl aber sind andre berühmte, und zumal Hr. König, der mit dem Hrn. v. M. im Streit lebte, der Meinung gewesen, er hätte über die Verläumdungen und offenbare Erdichtungen seines Landsmanns mehr Abscheu bezeugen können. Aber wie kan ich für andrer Gesinnungen hafften?
 
    2)
See in Nord=Amerika, woran vormals die Huronen gewohnt.
 
 
 
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