B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Anna Louisa Karschin
1722 -1791
     
   



B r i e f e   a n   G o e t h e

Brief vom 4. September 1775
Briefgedicht vom 18. Mai 1778

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[An Goethe]
[Berlin,] am 4. September 1775.

      Ich kam gestern bei Sternenlicht hier; ich fand Ihr Briefchen, wußte nicht, von wem es war, aber mein Pulsschlag sagte mir's, daß eine feine, gute, liebe Seele mich grüßen würde. Der mildselige Mond schien nicht in die Kammer, sonst hätte ich's gelesen. Ich wollte meine Kinder nicht im Schlaf stören, ließ mir kein Feuer schlagen, legte mein Gefundenes unters Kopfkissen und schlief ein. Heute, beim ersten Sonnenglanz, erwachte ich und las. Lieber Goethe, lassen Sie sich's Ihr Herz sagen, wie mir's gefiel, daß Sie so ohne Zier, so von Herzen geradeweg mich grüßen. Ich möchte gern meinem Tochtersöhnchen Flügel anzaubern, der Bub sollte morgen nach Frankfurt durch die Sonnenluft reisen, er sollte Ihnen meine Antwort bringen. Er ist bräunlich und krausköpfig, hat Sprache in den Augen und Geschwätz auf den Lippen und würde dem Menschenkenner Goethe traun so gut gefallen als dem liebhabenden Werther das kleine Vetterchen, das ihm mit freimütiger Miene die Hand gab. Sie hören hier die Großmutter sprechen, aber auch die Wahrheit. Ich freue mich unmäßig übers Knäbchen, aber wer mag wissen, was aus ihm wird. Viele Freude hatte ich vor 12 Tagen über ein gemaltes Mädchen, von dessen Original Ihr Genie Vater gewesen ist. Ich ging zum Zeichner Chodowiecki; ich bat ihn um eine Elmire in kleinem Format, in himmlischen Farben, leichtem Gewande, mit fliegendem Haar und entzückten Augen. Ich kam Tages darauf wieder hin und fand das Mädchen, wie Du sie gedacht hast, wie sie vom Berg herabgeflogen kommt, ihre Arme ausbreitet und singt, ‹er ist nicht weit!› Guter, schöpferischer Goethe! wärest Du hier gewesen, ich hätte Dich bei der nächtlichen Lampe gestört, Du hättest mit mir die Freude teilen müssen, denn ich lief des abends noch zu jedem Freund, jeder Freundin, die ich erreichen konnte. «Seht Ihr's», rief ich, «seht Ihr's, Kinder, so dachte sich Goethe das hoffnungsglühende Mädchen, das den totgeglaubten Erwin suchte, das ihn wiederfinden sollte; so war Lotte gebildet, so flügelleicht ihr Fuß, so seelenvoll ihr Auge, als Werther mit ihr tanzte!» Ich war närrisch froh. Das Bildchen sollte zum Geschenke für das 21jährige Mädchen, welches uns die Schattenzüge Deiner Elmire vorstellt. Sie macht's gut genug, hat Feuer und Gefühl, moduliert auch die Redestimme, wie sich's gebührt, aber die Töne der Musik werden nicht erreicht, davor kann die Mutter Natur. Ich wollte durchs Bild die Spielerin aufmuntern. Eine von ihren Kameradinnen gab es ihr, und es wird, in Kupfer gestochen, allen Kenneraugen des weiten Deutschlands gefallen. Mir hat es ein Fest gegeben. Du siehst wohl, daß ich mir Freude zu haschen weiß, und Du würdest mich darum neiden, wenn Du weniger edel wärest, denn ich bin schon in dem Alter, wo man gewöhnlicherweise stumpf von Empfindungen wird. Dank sei es meinem Geiste, der mich vor diesem Schlappsein, vor dieser schläfrigen Trägheit bewahrt. Ich kenne das häßliche Ding, das man bösen Humor nennt, nicht in mir; ich habe keine Sonderlingslaunen, ich bin mir fast immer gleich. Es fehlt mir nicht an Kümmernissen, meine Glücksumstände, meine häuslichen Angelegenheiten sind noch mit manchen Sorgen vermischt; ich aber hänge den Kopf nicht. Ich denke, der Vater des Ganzen wird's auch mit mir einzelnem Teil bis ans Ende gut machen. Ich lege meine Leiden und Freuden auf eine Waage, und die zweite Schale behält stets ein großes Übergewicht. Ich schreibe nicht für die Ewigkeit, weil ich's nicht kann; das verdreußt mich auch nicht. Eine rührende Bittschrift, die mir aus dem Herzen fließt, welches an fremdem Kummer eignen Anteil nimmt, eine solche Schrift und ihre Wirkung macht mir mehr warm als dem ewigen Milton sein vollendetes Heldengedicht gemacht haben mag. Ich kenne nichts Süßeres, und schreibe nichts Lieberes, und frage wenig danach, ob mir von den Geholfenen Dank oder Undank gesagt wird. Siehe, so bin ich voller kleiner Torheiten, voller Fehler und über dies alles noch ein geschwätziges Weib. Das mußt Du schon merken an diesem Brief, der zehnmal mehr sagt, als Du hören wolltest und noch hinzusetzt, daß ich Dich lieb habe wie eine Mutter den Sohn.

 
An Goethe
zu Berlin, Montags den 18. Mai 1778

Schön' guten Morgen, Herr Doktor Goeth'!
Euch hab ich gestern grüßen wollen.
's ist wieder's Weiber-Etikett;
Ich hätt's von Euch erwarten sollen,
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Daß Ihr, wie sich's gebührt und ziemt,
Mich aufgesucht und mich gegrüßet.
Ihr aber seid gar weltberühmt;
's war möglich, daß Ihr's bleiben ließet.
Ihr seid des Herzogs Spießgesell,
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Habt mehr zu thun und mehr zu schaffen
Als mit Eurem Auge groß und hell
Nach einem alten Weib zu gaffen.
Drum sprang ich über's Ceremoniell
Hinweg mit Leichtmut und mit Lachen,
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Zog mir mein Sonntags-Kleidchen an
Und ging, Euch meinen Knix zu machen,
So tief ich immer kann
Mit dorfgebornen Kniee.
Ich ging umsonst; Ihr wart
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Schon fort in aller Frühe
Zu Männern feiner Art.
Nun will ich's nicht mehr wagen.
Mein Geist, ein fixes Ding,
Soll guten Morgen sagen
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Dir Musendämmerling, -
Dir Sekretär des Fürsten,
Der auf dem Parnaß sitzt
Und, wenn die Dichter dürsten,
Mit Wasser sie besprützt
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Aus Einem Born, der mächtig
Und wunderthätig ist -
Er macht's, daß du so prächtig,
So stark im Ausdruck bist,
Daß dir's vom Munde fließet
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Wie Honig, den im Wald
Ein Wandersmann genießet,
Dem seine Kräfte bald
Erschöpft sind wie die meinen.
Jüngst sollt ich im Revier
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Des Pluto schon erscheinen;
Ein Schiffer winkte mir.
Ich ward ihm noch entrissen
Durch des Apollon Gunst,
Wie's nachzuzeichnen wissen
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Des Chodowieki Kunst.
Ich sollte dich noch sehen.
Geschieht es nicht bei mir,
Kann's beim Andrä geschehen.
Der ist ein Freund von dir,
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Wie's wenige nur giebet;
Von Herzen schätzt er dich,
Und bei dem allen liebet
Er dich nicht mehr als ich.