BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Samuel Reimarus

1694 - 1768

 

Ein Mehreres

aus den Papieren des Ungenannten,

die Offenbarung betreffend

 

1777

 

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II.

 

Das zweyte Fragment sagt eine Menge vollkommen richtiger, ganz ungezweifelter Dinge. Es mag nichts als solche Dinge enthalten! Der Beweis, daß eine Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten, unmöglich sey, sey mit aller Strenge geführt. Und er ist es wirklich. [506]

Führt er aber seine Beantwortung nicht gleich mit sich? Wenn eine solche Offenbarung unmöglich ist, – nun freylich: so hat sie auch Gott nicht möglich machen können. Allein, wenn nun gleichwohl eine Offenbarung nützlich und nöthig ist: sollte Gott dem ohngeachtet lieber gar keine ertheilen, weil er keine solche ertheilen konnte? Sollte Gott dem ganzen menschlichen Geschlechte diese Wohlthat vorenthalten, weil er nicht alle Menschen zu gleicher Zeit, in gleichem Grade daran Theil nehmen lassen konnte? Wer hat das Herz, hierauf mit Ja zu antworten?

Genug, wenn die höchste Weisheit und Güte bey Ertheilung der Offenbarung, die sie in jener Allgemeinheit und Allklarheit nicht gewähren konnte, nur denjenigen Weg gewählet hat, auf welchem in der kürzesten Zeit die meisten Menschen des Genusses derselben fähig wurden. Oder getraut sich jemand zu zeigen, daß dieses nicht geschehen? daß die Offenbarung, zu einer andern Zeit, einem andern Volke, in einer andern Sprache ertheilet, mehrere Menschen in kürzerer Zeit mit den Wahrheiten und den Bewegungsgründen zur Tugend hätte ausrüsten können, deren sich itzt die Christen, als Christen, rühmen dürfen?

Wer sich dieses getraut, der nenne mir vorläufig doch nur erst ein Volk, in dessen Händen das anvertraute Pfund der Offenbarung wahrscheinlicher Weise mehr gewuchert haben würde, als in den Händen des Jüdischen. Dieses unendlich mehr verachtete als verächtliche Volk ist doch, in der ganzen Geschichte, schlechterdings das erste [507] und einzige, welches sich ein Geschäft daraus gemacht, seine Religion mitzutheilen und auszubreiten. Wegen des Eifers, mit welchem die Juden dieses Geschäft betrieben, bestrafte sie schon Christus, verlachte sie schon Horaz. Alle andere Völker waren mit ihren Religionen entweder zu geheim und zu neidisch, oder viel zu kalt gegen sie gesinnt, als daß sie für derselben Ausbreitung sich der geringsten Mühwaltung hätten unterziehen wollen. Die christlichen Völker, die den Juden in diesem Eifer hernach gefolgt sind, überkamen ihn blos, in so fern sie auf den Stamm des Judenthums gepfropft waren.

Wenn denn nun aber gleichwol, würde unser Verfasser insistiren, eine gegründete Kenntniß der Offenbarung, die alle Menschen unmöglich haben können, allen Menschen zur Seligkeit unumgänglich nöthig ist: wie kommen die Millionen dazu –?

Laßt uns einen so grausamen Gedanken auch nicht einmal ausdenken! – Weh dem menschlichen Geschlechte, wenn nichts diesem Gedanken entgegen zu setzen, als etwa, – daß der Verfasser die Summe gezogen, ehe die Rechnung noch geschlossen, und man zu ihm sagen könnte: „das Christenthum ist auf ewige Zeiten; es gewinnt alle Jahre neuen Boden, obgleich weder Missionen noch gelehrte Erweise seiner Wahrheit diesen neuen Boden gewinnen helfen; wenn schon in den letzten Jahrhunderten der christlichen Völker nicht viel mehr geworden, so sind unter diesen christlichen Völkern doch gewiß mehr Christen geworden; die Zeit muß kommen, da dieses unmerkliche Wachsthum der Welt mit Erstaunen [508] in die Augen leuchten wird; der glückliche Windstoß muß kommen, welcher die noch zerstreueten Flammen in Einen alles umfassenden Brand vereiniget; so daß am Ende die Zahl der Verlornen sich zu der Zahl der Geretteten eben so verhalten wird, als noch itzt die Zahl der Geretteten sich zu der Zahl der Verlornen verhält.“ –

Weh dem menschlichen Geschlechte, wenn nur dieses – oder etwa noch irgend ein armseliges Distinctiönchen, es trösten soll! – Daß man zwischen der Offenbarung und den Büchern der Offenbarung einen Unterschied machen müsse; daß jene nur eine einzige sehr faßliche Wahrheit sey, deren Geschichte in diesen enthalten; daß die Seligkeit nicht an die mühsame Erforschung dieser, sondern an die herzliche Annahme jener gebunden sey, welches in den einzeln Posten der Rechnung große Ausfälle machen müsse. –

Denn Weh dem menschlichen Geschlechte, wenn in dieser Oekonomie des Heils auch nur eine einzige Seele verloren geht. An dem Verluste dieser einzigen müssen alle den bittersten Antheil nehmen, weil jede von allen diese einzige hätte seyn können. Und welche Seligkeit ist so überschwänglich, die ein solcher Antheil nicht vergällen könnte?

Aber wozu dieser Parenthyrsus? – Eine so unverschuldete Niederlage der Menschen, ein von Gott selbst der Hölle so in die Hände gespielter Sieg, ist ein elendes Hirngespinst. Man gehe dem blinden Lärmen nur auf den Grund. Ein Wort: und er ist beygelegt. [509]

Daß nehmlich die Offenbarung auch für diejenigen Menschen zur Seligkeit nöthig sey, die gar keine, oder doch keine gegründete Kenntniß davon erlangen können: ist weder die Lehre Christi, noch jemals die allgemein anerkannte Lehre der Kirche gewesen. Selbst die, die sich, in allen den verschiedenen Gemeinden derselben, am härtesten darüber ausgedrückt haben, die jener allgemeinen Nothwendigkeit nichts vergeben zu dürfen geglaubt, sind den traurigen Folgerungen doch ausgewichen, und haben mit der andern Hand wiedergegeben, was sie mit der einen genommen. Es ist gleichviel, mit wie guter oder schlechter Art sie dieses gethan; wie unphilosophisch sie dabey gedacht; wie treu oder nicht treu sie ihrem eignen System dabey geblieben: genug, sie haben es doch gethan, und haben es gern und freudig gethan. Ihr bloßer Wunsch rechtfertiget ihr Herz: und ihr Geständniß, daß Gott dispensiren könne, wo es der Theolog nicht könne, daß Gott Auswege wissen werde, wo es auch nicht einmal der Dispensation bedürfe, versöhnet mit ihrem System.

Und hier ist es, wo ich die allgemeine Anmerkung gegen unsern Verfasser, die ich schon angedeutet, ausdrücklich wiederholen muß; die ihm aber eben so wohl zur Entschuldigung als zum Tadel gereicht. Er nimmt alles, was ein gewisses in gewissen symbolischen Büchern vorgetragenes System des Christenthums begreift, für das einzig wahre, eigentliche Christenthum. Sätze, ohne welche das Christenthum nicht bestehen kann, welche von dem Stifter mit ausdrücklichen Worten gelehret worden, und Sätze, welche man blos zur bessern Verbindung jener [510] eingeschaltet, oder aus ihnen folgern zu müssen vermeynet, sind ihm Eins. Gleichwohl ist billig und recht, daß bey Bestreitung des Christenthums alle Secten für Einen Mann zu stehen angenommen werden, und eigentlich nichts wider das Christenthum für gültig zu achten, als worauf keine von allen diesen Secten antworten kann. Aber von dieser Art sind doch wahrlich nicht, weder die Lehre von der gänzlichen Verderbniß der menschlichen Vernunft in göttlichen Dingen, gegen welche er in dem ersten Fragmente so gutes Spiel hatte; noch die Lehre von der unumgänglichen Nothwendigkeit eines klaren und deutlichen Glaubens zur Seligkeit, auf welche dieses zweyte Fragment hinaus läuft; noch auch die Lehre von der Theopne[u]stie, wie er sie (S. 358.) vorträgt, aber freylich auch vortragen mußte, um allen seinen Einwürfen, selbst den geringfügigsten, einen gleich hohen Grad des Belangs zu verschaffen. – So wenigstens muß ich aus dem, was vor uns liegt, urtheilen.