BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 – 1791

 

Ideen zu einer Ästhetik

der Tonkunst

 

Einleitung

 

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Man hat bisher behauptet, nur der mathematische Teil der Tonkunst lasse sich auf Grundsätze bringen; der ästhetische aber liege ganz und gar nicht im Gebiete der Kritik. Daher haben sich die Werke ersterer Art bis zum Ekel aufgehäuft, und von letzteren besitzen wir kaum einige matte zitternde Versuche. Das Totengerippe der Musik ist, wie alle Totengerippe, ekelhaft anzusehen, doch hat es für die kritischen Zergliederer seinen großen Nutzen. Hingegen der ästhetische Teil der Tonkunst, der sich mehr mit der Erfindung der Melodie als mit der Harmonie und mit Modulation beschäftigt oder, welches eins ist, der diesem Totenkörper Karnation und Kolorit gibt, ist zwar viel schwerer, aber desto fruchtbarer und angenehmer. Nachstehende Abhandlung ist dazu bestimmt, diesen wichtigen Teil der Kunst zu bearbeiten und die ästhetischen Grundsätze der Musik so deutlich als möglich darzustellen. Nicht dem Virtuosen und Kenner allein, sondern jedem, der in dieser göttlichen Kunst nicht ganz unwissend sein möchte, muß ein Versuch willkommen sein, der ganz deutlich zeigen soll, wie man musikalische Schönheiten auf der Tat erhaschen und beurteilen kann. Um die zwei großen Fragen: Was ist das musikalische Schöne? Wie wird dies Schöne hervorgebracht? soll sich die ganze Abhandlung drehen. -

Der Einwurf, über Töne dürfe man nicht urteilen, sie müßten blitzschnell mit dem Ohre aufgesaugt und mit dem Herzen empfunden werden, denn jede künstliche Zergliederung vermindere die Täuschung, dieser Einwurf verliert alle Kraft, wenn man bedenkt, daß es sonst auch nicht erlaubt sein würde, über die Gegenstände der Malerei zu urteilen, deren Eindrücke gewiß ebenso transitorisch*) sind als die Eindrücke der Tonkunst. Indes liest man eine Menge, Hagedorn, Lippert, Füeßli, Addison, D'Argenville, Caylus, Winkelmann, Goethe, Herder, über dieses und andere schöne Künste mit Entzücken. Es kommt daher alles darauf an, ob man die Schönheiten der Tonkunst selbst im Innersten fühle. Ob man wenigstens auf einem Instrumente Meister sei, ob man philosophisch über diese Kunst nachgedacht habe und ob man endlich die Gabe besitze, eine Folge von Tönen zu haschen und in schickliche Worte einzukleiden dem Phantasieschwunge und Herzensergusse des Tonsetzers zu folgen und dem Leser zu zeigen, warum dieser Tonsatz wirklich schön sei. Vor allen Dingen aber muß der musikalische Ästhetiker den Wirkungen der Tonkunst sorgfältig nachspüren und nach richtigen Prinzipien zu zeigen wissen, warum dieser oder jener Gang so große und einschneidende Wirkungen hervorbringe und warum ein anderer Satz kraftlos vom Herzen des Menschen abgleite.

 

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 *)

Der Einwurf, das Gemälde bleibt, Töne verhallen, ist falsch; die genaue Ansicht einer Partitur bringt mir die Töne so genau ins Ohr, als wenn das Stück wirklich aufgeführt würde. (Der Verfasser.)