BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 – 1791

 

Ideen zu einer Ästhetik

der Tonkunst

 

Die Geschichte der Tonkunst

 

____________________________________________________________

 

 

 

[Drei Fragen zum Schluß]

 

Und hiermit endigen wir diese kurze Geschichte der Tonkunst; an ihrer heiligen Schwelle sind nur noch die Fragen übrig:

 

I. Was haben wir getan?

II. Was tun wir jetzt?

III. Was sollen wir noch tun?

 

Was die erste Frage betrifft, so muß jeder Denker einsehen, daß in der Tonkunst schon unendlich viel getan wurde. Man hat nicht nur den  G e s a n g  gebildet, dem Strome der Empfindungen Dämme und Gesetze vorgeschrieben, den Einsturz oder die Begleitung der Instrumente berichtigt und dem Akkompagnement mit dem Flügel die höchste Richtung gegeben, sondern man hat auch Instrumente eingeführt, von denen die Vorwelt keinen Laut hörte; man hat neue Bewegungen erfunden in Moll und Dur; man hat endlich mechanisch einen Kanal erfunden, wodurch Herzblut ins andere Herzblut überströmen soll.

Auch ist die Orgel in Frankreich ziemlich stark kultiviert worden; nur wäre es Undank, jemals einen französischen Orgelspieler an deutsche Kraft und Kunst setzen zu wollen. Der Franzose winselt in weibischen Tönen, der Deutsche schreitet daher in männlichen; der Deutsche denkt und handelt, der Franzmann handelt viel aber denkt nicht so viel; der Deutsche ist kalt und tief raffinierend, der Franke glitscht an der Oberfläche der Dinge ab; Frankreich goutiert, Deutschland empfindet, Welschland schmückt. Dies uralte Sprichwort ist noch heute wahr und wirft auf alle musikalischen Schulen Licht.

Die zwei letztern Fragen: Wo sind wir?, und: Was haben wir zu erwarten? sind von ungeheurer Bedeutung. Wir wollen sie beleuchten.

1. Den gegenwärtigen musikalischen Geschmack in Europa betreffend, so ist er wirklich noch groß und hebt sich über alles hinaus, was jemals über Musik gedacht oder geschrieben wurde.

2. Wenn  T i m o t h e u s,  der den Alexander bezauberte, heutzutage aufträte, so würde er kaum als Kolophoniumbube zu gebrauchen sein. Geschwindigkeit, Stetigkeit, Tiefgefühl und Hochgefühl, Kunsteinsicht und das leiseste Gemerk auf das, was Herz und Geist weckt – hat jetzt unter uns so überhandgenommen, daß die Griechen und Römer hoch aufschauen würden, wenn sie vor unsern Orchestern stünden. Die Theorie ist durch alle ihre Adern, Zweige und Arterien so blitzscharf anatomiert worden, daß der Künstler stutzt und kaum etwas mehr herausstammeln kann als die Worte: «Was ließ Philipp dem Alexander übrig?»

3. Es war einmal eine Zeit, wo man sehr unverschämt behauptete, daß nichts mehr zu tun übrig wäre.

Da keine Kunst sich weniger erschöpfen läßt als die Musik, da das Gebiete der Harmonie das Universum ist, da sich noch unzählig viel neue Tonstücke, Instrumente und Bewegungen denken lassen, so sieht man von selbst, wie unphilosophisch diese Behauptung sei. Weil der Geschmack am  K o m i s c h e n  große Verheerungen unter uns anrichtet, so müßte unsere erste Bemühung dahin gehen, diesen Geschmack so viel möglich einzuschränken und dem Ernsten, Heroischen und Tragischen, dem Pathos und dem Erhabenen wieder Platz zu machen. Der  K i r c h e n s t i l  muß die freche Miene, in die er ausgeartet ist, wieder ablegen und Glut der Andacht im himmelschauenden Auge verraten. Man muß auf der einen Seite nicht so viel grübeln, auf der andern nicht aller Theorie spotten; man muß zwar die Tonkunst simplifizieren, aber sie nicht nackt in die Welt hmausjagen. Sonderlich wird es nötig sein, einen neuen Rhythmus ausfindig zu machen, damit nicht die immer vorkommenden Einschnitte, Monotonie in unserer Tonkunst veranlassen. Man muß endlich auf  n e u e  T o n s t ü c k e  raffinieren, die alten Taktarten wieder in Gang bringen, die Volksmelodien genauer studieren und mit dem Geniusstrahl in der Seele setzen und vortragen – so wird die Tonkunst nicht nur zu ihrer alten Würde und Hoheit zurückgeführt werden, sondern bald einen Sonnenpunkt erreichen, zu dem sie noch nie aufflog.

 

 

Hymnus

 

Heilige Tonkunst, göttlichen Stammes!

Gespielin der Engel; Vertraute desHimmels

Die gefallene Menschheit klagte;

Des Lebens Dornenpfad verwundet ihre Sohle

Eine blutige Träne fiel auf die sengende Nessel:

Da tratst du Himmlische, im Schwanenkleide

Vor sie hin und hauchtest ihr  L i e d e r g e i s t  ein. –

Nun klang die Saite unter dem ziehenden Bogen

Nun klang das Goldgeweb der Harfe;

Nun klang der Lyra Silbergewebe;

Nun schmetterte Trompetenklang,

Und es wieherte das Streitroß drein.

Nun tönte das schallende Horn

Nun flistert die weiche, lydische Flöte; Nun wirbelt der Tanz,

Nun schmolz der Jüngling in Liebe,

Zerfloß das bleichere Mädchen in Liebe.

Im Tempel scholl Jehovas Lob;

Die Hallposaune tönte drein,

Und die Asoor und die Githit und die schallende Cymbal

Der Donner des  H y m n u s  stieg zum Olympus.

Der  P s a l m  flog blitzbeschwingt ins Allerheiligste:

Und Jehova lächelte Gnade!

 

Laß mich dich, göttliche  P o l y h y m n i a! -

Denn auch mich hast du in den Stunden der Weihe besucht:

Du gabst mir männlichen Gesang, und Flügelspiel

Daß ich gebiete den Tränen des Hörers zu fließen

Daß ich färbe das Antlitz des fühlenden Jünglings

Mit der Begeisterung Glut;

Daß ich dem lauschenden Mädchen

Seufzer der Lieb' entlocke;

Daß ich durch Wodansgesang schwelle den Busen des Mannes -

O laß mich dich, göttliche Polyhymnia,

Und deines Geschenkes himmlischen Wert nie entweihen

Laß mich singen Jehova –

Der ist, der war und der kommt!

- Dir o Tugend, dir frömmeren Liebe,

Dir traulicher Scherz bei unentweihten Pokalen,

Und, ach dir, o Vaterland, Vaterland,

Das ich liebe, wie der Jüngling die Braut -

Dir, o Vaterland der Helden und der Feuerseelen,

Weih' ich mein Flügelspiel und meinen Sang!

 

Wenn ich einst schlummere nach meines Lebens Mühen,

Wenn über meinem Gebein sich der Grabhügel türmt;

Wenn ich meiner Ketten Last

Am Grabgeklüft zurückeließ:

So weil' ein zärtlicher Jüngling am Grabe,

So weil' ein fühlendes Mädchen am Grabe;

Sie schauen himmelan und sprechen

Mit dem Schimmerblick des tiefsten Herzgefühls:

Weht sanfter Lüfte um diesen Aschenhügel,

Hier ruht Polyhymnias Freund!

Ihm gab Gott Sang und Flügelspiel,

Doch entweihte er nie die köstliche Gabe.

Die Harfe hing er im Tempel auf;

Und seine Telyn in Thuiskons Hain!