BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 – 1791

 

Ideen zu einer Ästhetik

der Tonkunst

 

Die Geschichte der Tonkunst

 

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Skizzierte Geschichte der Musik

 

Die Tonkunst ist so alt als die Welt. Man könnte ebenso wohl den Menschen ein singendes Geschöpf als mit Aristoteles ein redendes Geschöpf nennen. Alle Menschen werden mit einer Anlage zum Gesang geboren. Nur wird diese Anlage mehr oder weniger ausgebildet oder gewisse Gebrechen an den Werkzeugen der Stimme oder eine ganz unmusikalische Erziehung verhindern diese Ausbildung der natürlichen Anlage bei den meisten. In einer Gemeinde von tausend und mehreren Menschen wircl kaum ein einziger gefunden werden, der nicht vom Strome des Tempelliedes mächtig ergriffen und auf seinen Wogen mit fortgewälzt wird. Es ist also kindisch und ganz und gar gegen die Würde der Menschheit, wenn man mit einigen alten musikalischen Geschichtsschreibern annehmen wollte, der Mensch hätte das Singen von den Vögeln gelernt oder Musik sei nachahmende Kunst. Das ewige Einerlei des Vogelgesanges ist zu ermüdend, als daß die Menschen anders als in gewissen launigen Stunden auf die Nachahmung desselben verfallen könnten. Die Schwalbe auf unserer Dachrinne zwitschert noch heute wie zu Adams Zeiten; die steigende Lerche singt noch jetzt über dem Haupte des Pflügers, wie sie sang über dem Haupte Abels des Schäfers; und die Nachtigall gluckt zu unseren Zeiten nicht anders, als sie dem (ersten) liebenden Paare auf dem Schattenhain Edens zugluckte. Hingegen welche unendliche Veränderung hat die Tonkunst unter dem Menschengeschlechte erlitten! Wie richtet sich der Geschmack nach allen Himmelszonen! Vom kunstlosen Volksliede einer Grasnymphe bis zur Bravourarie einer Mara oder Gabrieli – welche Abstufung, welcher Tonwechsel! Und vom Dorffiedler bis zu einem Lolli oder Cramer hinaus – welche Verschiedenheit des Geschmackes, der Fertigkeit! Auch hier zeigt sich der Mensch in der hohen Würde, die ihm der Schöpfer anschuf. Die sieben Töne liegen zwar auch in der Kehle der Vögel; aber was hat der Mensch aus diesen sieben Tönen gemacht! Er ahmt damit das Säuseln des Frühlingslüftchens wie das Heulen des Nachtwindes und den waldbeugenden Sturm nach. Er liebt, er zürnt, er klagt, er tobt, raset, bebet, verflucht, er lacht, er weint, er mischt sich ins Halleluja der Engel und ins dumpfe Getöse der Harfen des Todes vom Donner gespalten – und dies alles mit sieben Tönen!!

Das Göttliche der Tonkunst ist also ganz unverkennbar. Dem Menschen ist das musikalische Genie angeboren, nur von der Kultur hängt es ab, wie weit dies sein musikalisches Genie kreisen soll. Wir haben noch heutiges Tages unzählige Beispiele, daß Menschen mit der Gabe, den Alt, Tenor oder Baß zu einer Melodie aufzufinden, geboren werden. Das Bauernmädchen sekundiert ihrer Freundin, ohne zu wissen, daß dies der Sekund sei. Der Handwerker summt seinen Strohbaß zum Liede seines Weibes, ohne jemals in einer Singschule die Verhältnisse des Basses erlernt zu haben. (Im Kapitel vom musikalischen Genie soll dieser Punkt weitläufiger auseinandergesetzt werden.)

Unstreitig ist also die Gesangmusik lange vor der Instrumentalmusik hergegangen, denn die Untersuchung tongebender Körper ist zu schwer für das Kinderalter der Menschheit. Der Gesang hingegen ist so natürlich und entquillt so frei und so kunstlos unseren Herzen; daß jedes Gefühl von Heiterkeit oder von süßer Schwermut oder jeder Ieidenschaftliche Drang hinreichend ist, uns die Lippen zum Gesang zu öffnen. Ganz gewiß hat also das erste Menschenpaar schon gesungen; ihre Abkömmlinge hallten ihre Töne nach, und erst nach vielen Jahrhunderten war es einem Jubal vorbehalten, den Grund zur Erfindung der Instrumentalmusik zu legen. Die Schalmei oder die Hirtenflöte und die Leyer wegen ihrer simplen Zusammensetzung gehören mit Recht unter die ersterfundenen Instrumente; und wenn die Heilige Schrift von Jubal sagt, von ihm sind herkommen die Pfeifer und Geiger, so ist gewiß die Hirtenflöte und Leyer und ganz und gar nicht unsere Geige darunter zu verstehen. Denn welchen Reichtum menschlicher Erkenntnis erfordert nicht die Geige, so wie wir sie heutiges Tages besitzen! Die Symmetrik des Bauches, der Stimmstock, die äußerst simple Stimmung, der Einfall, einem verächtlichen Schafdarm durch einen mit Kolophonium bestrichenen Roßschweif himmlische Töne zu entlocken ist sicher erst in weit spätern Zeiten reif geworden.

Gewiß aber ist's, und es kann aus der Natur der Menschheit unumstößlich erwiesen werden, daß schon vor der Sündflut die Tonkunst unter dem Menschengeschlechte sehr stark getrieben worden; und schwerlich hat Bodmer in seiner «Noachide», diesem göttlichen Gemälde der ersten Welt, die Schilderung vom Zustande der Musik in diesem Zeitalter übertrieben. Gleich nach der Sündflut findet man wieder Spuren der auflebenden Tonkunst. –