BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Charlotte von Stein

1742 - 1827

 

Dido, ein Trauerspiel

in fünf Aufzügen.

 

Vierter Aufzug.

 

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Sechste Scene.

Albicerio. Feldherr.

 

Feldherr.

Reich' mir deine Hand! – Du bist ein edler Mann! Sag' an: womit kann ich dir dienen?

 

Albicerio.

Mich befreien von dem ungerechten Befehle deines Königs, der hier keine Gebote zu geben hat.

 

Feldherr.

Mein Wille übereilte meine Kräfte. Aber laß uns überlegen; endlich muß doch der verständige Wille über den bösartigen die Herrschaft erhalten. – Glaube nicht, daß ich meinem König beifalle; ich entsage laut seinen Gesinnungen und will es ihm frei erklären; jetzt komm 1) ich, dich zu befreien. Noch gehorcht mir das Heer, und die Wache, die dich hier festhält, wird dich durchlassen; ich gehe mit dir. Komm!

 

Albicerio.

Aber dir erwächst eine Gefahr; versuche Vorstellungen!

 

Feldherr.

Die sind zu ungewiß; er hat nur rührbare Saiten von Gefühl und Vernunft nach Launen; vergeblich suchst du in ihm eine Folge. Die glänzenden Ansichten von Feinheit des Herzens und Verstandes hatten mich an ihn gezogen; aber da sich seine Gesinnungen untereinander, und so auch seine Handlungen, widersprechen, so ist mein Herz von ihm abgefallen, wie die Frucht vom Baume, der ihr nicht den gehörigen Saft 2) gibt.

 

Albicerio.

Ich überlasse mich dir. (Gehen ab.)

 

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1) So schrieb Frau von Stein statt «geh». Gleich darauf stand irrig «bewegen» statt «befreien». Für «jetzt» hat die Handschrift «izt». 

2) So verbesserte Frau von Stein das vom Abschreiber geschriebene «Schatten».