BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Charlotte von Stein

1742 - 1827

 

Gedichte

 

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Ob's unrecht ist, was ich empfinde – –

und ob ich büßen muß die mir so liebe Sünde,

will mein Gewissen mir nicht sagen;

vernicht' es Himmel, du!, wenn mich's je könnt anklagen.

 

Geschrieben auf die Rückseite dieses Briefs von Goethe:

Leben Sie wohl beste! Sie gehen und weis Gott was werden wird! ich hätte dem Schicksaal danckbaar seyn sollen, das mich in den ersten Augenblicken da ich Sie wiedersah so ganz rein fühlen lies wie lieb ich Sie habe, ich hätte mich damit begnügen und Sie nicht weiter sehen sollen. Verzeihen Sie! Ich seh nun wie meine Gegenwart Sie plagt, wie lieb ist mir's dass Sie gehn, in einer Stadt hielt ichs so nicht aus. Gestern bracht ich Ihnen Blumen mit und Pfirsichen, konnts Ihnen aber nicht geben wie Sie waren, ich gab sie der Schwester. Leben Sie wohl. Bringen Sie das Lenzen. Sie kommen mir eine Zeither vor wie Madonna die gen Himmel fährt, vergebens dass ein rückbleibender seine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens dass sein scheidender thränenvoller Blick den ihrigen noch einmal niederwünscht, sie ist nur in den Glanz versuncken der sie umgiebt, nur voll Sehnsucht nach der Krone die ihr überm Haupt schwebt. Adieu doch Liebe!

Weimar, d. 7. Okbr. 76.