BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Annette von Droste-Hülshoff

1797 - 1848

 

Joseph

Eine Criminalgeschichte

 

um 1844

 

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Joseph.

Eine Criminalgeschichte.

(Fragment.)

 

Nach den Erinnerungen einer alten Frau mitgetheilt von einem alten Moortopf,

der auf seinem eigenen Herd sitzt und sich selbst kocht.

 

Die Zeit schreitet fort. Das ist gut, wenigstens in den meisten Beziehungen. Aber wir müssen mitrennen, ohne Rücksicht auf Alter, Kränklichkeit und angeborene Apathie. Das ist mitunter sehr unbequem.

In meiner Kindheit, wo das Sprichwort: «Bleib im Lande und nähre Dich redlich» seine strenge Anwendung fand; wo die Familien aller Stände ihre Sprossen wie Banianenbäume nur in den nächsten Grund steckten und die Verwandtschaften so verwickelt wurden, daß man auf sechs Meilen Weges jeden Standesgenossen frischweg: «Herr Vetter» nannte und sicher unter hundert mal kaum einmal fehlte; in jener Zeit kannte ein ordinairer Mensch mit zehn Jahren jeden Ort, den seine leiblichen Augen zu sehn bestimmt waren und er konnte achtzig Jahre nach einander sich ganz bequem seinen Pfad austreten.

Jetzt ist es anders. Die kleinen Staaten haben aufgehört; die großen werfen ihre Mitglieder umher wie Federbälle, und das ruhigste Subjekt muß sich entweder von allen Banden menschlicher Liebe lossagen oder sein Leben auf Reisen zubringen, je nach den Verhältnissen umherfahrend wie ein Luftballon, oder noch schlimmer immer denselben Weg angähnend wie ein Schirrmeister; kurz, nur die Todtkranken und die Bewohner der Narrenspitäler dürfen zu Hause bleiben, und Sterben und Reisen sind zwei unabwendbare Lebensbedingungen geworden. Ich habe mich nicht eben allzuweit umgesehen, doch immer weiter, als mir lieb ist. Es gibt keine Nationen mehr, sondern nur Kosmopoliten und sowohl Marqueurs als Bauernmädchen in fremdländischen Kleidern. Französische und englische Trachten kann ich auch zu Hause sehen, ohne daß es mir einen Heller kostet. Es macht mir wenig Spaß einer Schweizerin mit großen Hornkämmen in den Haaren fünf Batzen zu geben, damit sie sich in ihre eigene Nationaltracht maskirt oder mir für die nächste Bergtour Tags vorher einen Eremiten in die Klause zu bestellen. Wäre nicht die ewig große, unwandelbare Natur in Fels, Wald und Gebirg (den Strömen hat man auch bunte Jacken angezogen), ich würde zehnmal lieber immer bei den ewigen alten guten Gesichtern bleiben, die mit mir gelebt, gelitten und meine Todten begraben haben.

Nur zwei Gegenden, – ich sage nur, was ich gesehen habe; wo ich nicht war, mögen meinetwegen die Leute Fischschwänze haben, ich bin es ganz zufrieden – mir selbst sind nur zwei Landstriche bekannt geworden, wo ich den Odem einer frischen Volksthümlichkeit eingesogen hatte, ich meine den Schwarzwald und die Niederlande. Dem Erstern kommt wohl die Nähe der Schweiz zu statten. Wer vor dem Gebirge steht, will nichts, als hinüber ins Land der Freiheit und des Alpglühens, der Gems- und Steinböcke, und wer von drüben kommt, nun, der will nichts, als nach Hause oder wenigstens recht weit weg. So rollt das Verderben wie eine Quecksilberkugel spurlos über den schönen, reinen Grund des stolzen Waldes, um erst jenseits zu oxydiren. (Wenn nämlich Quecksilber Oxyd niederschlägt, was ich nicht bestimmt behaupten mag, da ich es nur bis zu Salomon's Weisheit, d. h. zum Bewußtsein schmählicher Unwissenheit in vielen Dingen zwischen Himmel und Erde gebracht habe.)

Die Niederlande hingegen, dieser von Land- und Wasserstraßen durchzogene und von fremden Elementen überschwemmte Landstrich, bewahrt dennoch in der Natur seines Volksschlages einen Hort Alles abwehrender Eigenthümlichkeit, der besser schützt als Gebirge, die erstiegen und Thalschluchten, die durchstöbert werden können, und den man, nachdem er die neuern Ereignisse überstanden, wohl für unzerstörbar halten darf. Ich war sehr gern in Belgien und hatte alle Ursache dazu, freundliche Aufnahme, noch freundlichere Bewirthung, gänzliche Zwanglosigkeit hinsichtlich meiner Zeitanwendung; es versleht sich, daß ich auf dem Lande und in einer Privatwohnung war. – In Städten und Gasthöfen ist mir immer elend; frische stärkende Spaziergänge durch die Wiesen am Ufer der Maas und vor jedem Hause, jeder Mühle Scenen Wynants und Wouvermanus, Bilder so treu, als wären sie eben von der Leinwand einer niederländischen Meisterschule gestiegen. Das ist es eben, was ich mag. Ob mein alter Tuinbaas vom Kasteel (Gärtner vom Edelhof) noch wohl lebt? Jetzt müssen seine Tulpen im Flore stehen; aber zehn Jahre sind ein bedenkliches Stück Menschenleben, wenn man sie mit weißen Haaren anfängt – ich fürchte sehr, er hat längst seine Gartenschürze ab- und seine letzte Zipfelmütze angelegt; oder meine gute Nachbarin auf ihrem kleinen Landsitze, dem sie genau das Aussehn eines saubern Wandschränkchens mit Pagodenaufsatz gegeben hatte? Sie war vielleicht nur um sieben bis acht Jahre älter als ich, trug Sommers und Winters Pelzschuhe, und ich konnte barfuß durch den Schnee traben, d. h. ich konnte es vor zehn Jahren, ehe ich mich in einer schwachen Stunde vom faselhänsigen Volk verführen und bereden ließ, auf den Schnepfenstrich zu gehn und ich die Gicht bekam, und wenn ich vollends bedenke, daß ich mich vor einigen Jahren noch verheirathen wollte und zwar an ein blutjunges Mädchen! Doch das sind Thorheiten, corrupte Ideen.

Mevrouw van Ginkels Andenken ist mir werth; sie hatte viel und früh gelitten, und auch von ihrer spätern glücklichern Lage an der Hand eines geachteten und wohlhabenden Gatten, von Brüdern und Schwestern, war ihr nur in einem anständigen Auskommen die Möglichkeit geblieben, ungestört des Vergangenen zu gedenken und jedem Lieblinge unter ihren zahllosen Aurikeln den Namen eines geliebten theuren Verstorbenen geben zu können. Sie war gewiß schön gewesen, so fromme, traurige Augen müssen ja jedes Gesicht schön machen, und gewiß sehr anmuthig, hätte sie auch nichts gehabt, als den bezaubernden Wohlklang ihrer Stimme, die das Alter wahrscheinlich um einige Töne tiefer gestimmt, aber ihr nichts von der jungfräulichen Zartheit genommen hatte, und die jeden Gedanken ihrer Seele zugleich umschleierte und enthüllte und einem Blinden das beweglichste Mienenspiel ersetzen konnte. Welch ein Unterschied, wenn sie bei einer dunklen Aurikel verweilte und in jugendlichem Entzücken sagte: «Das ist meine gute Frau Gaudart,» und bei einer der blondesten mit großen lichtblauen Augensternen: «Julchen,» und schnell weiter ging, als fürchte sie, ein fremdes kaltes Auge möge in das Todte ihres Lebens niedersinken.

In meinem Leben bin ich nicht so in Gefahr gewesen, ein sentimentaler Narr zu werden, als bei dieser alten, pünktlichen Mevrouw, die nie klagte, nicht einmal über Migraine oder schlechtes Wetter, deren ganze Unterhaltung sich um Blumenflor, Milchwirthschaft und sonstige kleine Vorfälle ihrer Häuslichkeit bewegte, so z. B. um einige Nachbarskinder, die sie mit Butterbrod und Milch an sichgewöhnt hatte.

Ich glaube wahrhaftig, ich war nahe daran, mich in die alte Person zu verlieben oder wenigstens in eine unbegreiflichc Ueberfülle von Verehrung zu gerathen, weshalb ich denn am liebsten Abends zu ihr ging, wo sie steif hinter der Theemaschine saß, sich mit den Schnörkeln eines Stickmusters abmühend, das die größte Aehnlichkeit mit einem holländischen Garten voll Ziegelbeeten und Taxuspfauen hatte; vor ihr die kleine, goldene Tabatière, rechts und links Etageren voll Pagoden und Muschelhündchen und alles überträufelt von dem feinen Aroma des Kaiserthees.

O VIVANT die Niederlande! das war ein ächter Gerhard Dow, ohne Beimischung, die einen ruhigen Philister hätte stören können – dann wand sich auch das Gespräch fließend ab, und Mevrouw gab sogar mitunter Einiges aus ihren Erlebnissen zum Besten, offenbar mehr in dem Bestreben, einen Gast nach seinem Geschmacke zu unterhalten, als aus eigentlichem Vertrauen, das sie im weiteren Sinne gegen Jedermann im Uebermaß hatte, im engeren Sinne aber Niemand schenkte. Es waren meistens kleine Züge, aber sehr wahre.

Wäre ich ein romantischer Hasenfuß gewesen und hätte ich die Gewohnheit gehabt, meine guten Augen (NB. Wenn mich Jemand sollte zufällig mit Brillen gesehen haben, ich trage nur Conservationsbrillen.) Nachts mit Tagebuchschreiben zu verderben, es stände doch jetzt wohl Manches darin, was ich gerne nochmals läse und was in seiner einfachen Unscheinbarkeit mehr Aufschlüsse über Volk, Zeit und das Menschenherz gäbe, als Manches zehnmal besser Geschriebene. Eine Begebenheit jedoch, vielleicht die einzig wirklich auffallende in Mevrouws Leben habe ich mir später vor und nach notirt und, da meine gute Frau van Ginkel ohne Zweifel längst in ihren Pelzschuhen verstorben ist, mir ferner kein Umstand einfällt, der ihr die Veröffentlichung unangenehm machen könnte, und mein jüngster Neffe, der, Gott sei's geklagt, sich auf die Literatur geworfen hat, jedoch ein artiges Geld damit verdient, gerade sehr um einen Beitrag in gemüthlichem Stile verlegen ist, so mag er denn den Aufsatz nehmen, wobei ich jedoch bestimmt erkläre, daß ich nur wörtlich der würdigen Frau nachgeschrieben habe und mich sowohl gegen alle poetischen Ausdrücke als überhaupt gegen den Verdacht der Schriftstellerei, als welcher mich bei meiner übrigen Lebensweise und Persönlichkeit nur lächerlich machen könnte, auf's kräftigste verwahre.

Caspar Bernjen, Rentier.

 

NB. Den Nachbarn, zu dem Mevrouw redet, und der natürlich Niemand ist, als ich, Caspar Bernjen, Rentier und Besitzer eines artigen Landgutes in Niedersachsen, müssen der Neffe und der Leser sich als einen ansehnlichen, corpulenten Mann mit gesunden Gesichtsfarben in den besten Jahren mit blauem Rock mit Stahlknöpfen und einer irdenen Pfeife im Munde, an der linken Seite des Theetisches denken. Es geht Nichts über Deutlichkeit und Ordnung in allen Dingen.

 

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Sie erwähnten gestern eines Umstandes, lieber Herr Nachbar, der sich in Ihrem vierzigsten Jahre ereignet, und über den Sie damals an Ihre Eltern geschrieben. Da hat Ihnen der Himmel ein großes Glück gegeben.

Ich weiß, was es heißt, keine Mutter haben und den Vater im fünfzehnten Jahre verlieren. Von meiner Mutter habe ich nur ihr lebensgroßes Portrait gekannt, das im Speisesaale hing: eine schöne Frau in weißem Atlas, einen Blumenstrauß in der Hand und auf dem Schooß ein allerliebstes Löwenhündchen. Ich weiß nicht, ob es daher kommt, daß es meine Mutter war, aber mich dünkt, ich habe nie ein so schönes Gesicht gesehen und nie so sprechende Augen. Ich mag noch nicht daran denken, wie einfältig ich um das Bild gekommen bin, und wie es jetzt vielleicht für Nichts geachtet wird. Warum mein Vater nicht wieder heirathete, begreife ich eigentlich nicht; seine Lage hätte es wohl mit sich gebracht; ein Kaufmann, der den ganzen Tag im Comptoir und auf der Börse zubringt und der Handelsverbindungen wegen fast täglich Gäste zu Tische hat, ist ohne Hausfrau ein geschlagener Mann, allen Arten von Veruntreuungen und Verschleuderungen ausgesetzt, die er unmöglich selbst controliren kann, und sogar seine Commis scheuen sich weniger vor ihm, als vor der Madame, die sie aus- und eingehen sieht, ihre Kleidung und ihr Benehmen gegen die Dienstboten beobachtet und überall in der Stadt Dinge gewahr wird, die dem Herrn sein Lebtage nicht zu Ohren kommen.

Indessen war freilich meine Mutter schon des Vaters zweite Frau gewesen. Die erste hatte ihm ein schönes Vermögen eingebracht und eine erwachsene, damals bereits verlobte Tochter, auf deren Hochzeit sie sich bald nachher ihre tödtliche Krankheit holte durch dünne Kleidung, – man sagt, weil sie als sogenannte junge Frau nicht gar zu matronenhaft neben der Braut hatte aussehen wollen, was sich denn auch in Rücksicht auf ihren Mann wohl begreift; kurz, sie lag acht Tage nachher völlig contract im Bette und hat so sechs Jahre gelegen, zuletzt so elend, daß ihre besten Freunde ihr nur den Tod wünschen mußten.

Nachdem mein Vater anderthalb Jahre Wittwer geblieben, heirathete er ein junges Mädchen von guter Herkunft, aber gänzlich ohne Vermögen. Dies war meine Mutter, und ich mag, Gottlob, fragen, wen ich will, ich höre nur Gutes und Liebes von ihr; aber den Keim zur Schwindsucht soll sie schon in die Ehe mitgebracht haben. Man sieht es auch dem Bilde an, das doch gleich nach der Hochzeit gemalt ist.

Ein Jahr lang bis zu meiner Geburt hielt sie sich noch so leidlich, obwohl das unruhige Leben und die Unmöglichkeit, sich zu schonen, ihr Uebel soll sehr beschleunigt haben. Ich wollte, sie hätte nicht geheirathet; Gott hätte mich ja doch anderwärts erschaffen können; denn, Mynheer, man kommt doch nie ganz darüber weg, seiner Mutter den Tod gebracht zu haben. Man hat mir viel von dem Kummer meines Vaters erzählt und wie er ferner eine Menge Heirathsanträge von der Hand gewiesen. Ich glaube es wohl, denn ich habe nie gesehen, daß er für irgend ein Frauenzimmer das geringste Interesse gezeigt hätte, außer was ihm von der Höflichkeit geradezu auferlegt wurde, und da waren es immer die Mamas und Großmamas, deren Unterhaltung er vorzog; sonst lebte er nur in seinem Geschäfte. Morgens um fünf auf und in seiner Stube gearbeitet, um sechs in's Comptoir, um elf auf die Börse, von eins bis zweie zu Tische, was vielleicht die schwierigsten Stunden waren, wo er, den Kopf voll Gedanken, den angenehmen Wirth machen mußte.

Nachmittags wieder gearbeitet, Speculationen nachgegangen und zuletzt noch bis Mitternacht in seinem Zimmer geschrieben. Er hat ein saures Leben gehabt.

Ich wuchs indessen in ein paar hübschen Mansardenzimmern bei einer Gouvernante, Madame Dubois, heran und sah mancherlei im Hause, was mir nach und nach anfing wunderlich vorzukommen, so z. B. fast Jeder hatte irgend einen Nachschlüssel, dessen er sich vor mir nicht gerade sehr vorsichtig, aber doch mit einer Art Behutsamkeit bediente, die mich endlich aufmerksam machen mußte. Selbst Madame Dubois hatte einen zur Bibliothek, denn sie brachte ihr Leben mit Romanlesen zu, weßhalb ich denn auch nichts gelernt habe.

Man nimmt sich vor Kindern nicht in Acht, bis es zu spät ist. Hier war es aber leider nicht zu spät; denn als Madame Dubois, die NB. von meiner Kenntniß ihres Schlüssels nichts wußte und nur in Bezug auf Andere sprach, mir auseinandersetzte, daß Schweigen besser sei, als Verdruß machen, war ich noch viel zu jung, um einzusehn, wie höchst nöthig Sprechen hier gewesen wäre. Ich fühlte mich durch ihr Vertrauen noch sehr geehrt, und habe nachher leider Manches noch mit vertuschen helfen. Kinder thun, wie sie weise sind.

Ich sah, so oft mein Vater auf die Börse ging, die Commis wie Hasen am Fenster spähen, bis er um die Gassenecke war, und dann forthuschen, Gott weiß, wohin. Ich sah den Bedienten in meines Vaters seidenen Strümpfen und Schuhen zum Hinterpförtchen hinausschleichen; ich hörte Nachts den Kutscher an meiner Thür vorbeistapfen in den Weinkeller hinunter und wälzte mich vor Aerger im Bette, aber wiedersagen – um Alles in der Welt nicht. Dazu war ich viel zu verständig.

Ich hörte sogar, wie Jemand der Madame Dubois erzählte, unser Kassirer, Herr Steenwick spiele jeden Abend und habe in der vorigen Nacht zwei tausend Gulden verloren und wie die Dubois antwortete:

«Um Gotteswillen, woher nimmt der Mensch das Geld? Da sollte Einem hier im Hause doch schwarz vor den Augen werden!»

Dies war kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag und das erste mal, daß sich mir der Gedanke aufdrängte, Schweigen könne doch auch am Ende seine bedenkliche Seite bekommen.

Das Ding lag mir den ganzen Abend im Kopfe woher H. Steenwick das Geld nehme, ich wußte daß er arm war, er bekam nur 1000 Gulden Gehalt und ich hatte oft gehört daß seine Eltern arme Fischersleute bey Saardam wären. – Ich hatte bey van Gehlens mahl von einem COMMIS gekört, der aus seines Herrn Casse gespielt hatte, und obwohl ich mir das nicht mit einem alten bekannten Gesichte zusammen stellen konnte, was ich im Hause kannte soweit meine Erinnerung reichte, und auch Madame so besonders viel hielt, und noch neulich ein Paar Tragbänder für ihn gestickt hatte, so überfiel mich doch eine instinktartige Angst, die nicht ganz frey von Mistrauen war, und doch immer wieder mit der Erzählung von jenem Commis verschmolz. Madame war still und noch zerstreuter als gewöhnlich, sie zog zehnmal einen Roman unter der Näharbeit hervor, las ein paar Zeilen, steckte ihn wieder zurück und warf endlich fast die Lampe um, und trieb dann hastig zu Bette. Als wir ungefähr eine Stunde zu Bette gewesen waren, Madame und ich, hörten wir uns gegenüber H. Steenwicks Thüre gehn, und dann rasch Tritte über den Gang weg, die Stiege hinunter – es war nicht das erstemahl daß er so spät sein Zimmer verließ, und ich eingeschlafen war ohne ihn zurück kommen zu hören, aber zum ersten Mal bemerkte ich daß er viel schneller ging und seine Stiefel viel weniger knarrten als bey Tage, ich drückte die Kissen von meinem Ohre weg und horchte, im selben Augenblick hörte ich auch Madame ihre Gardine zurück schieben und sich halb im Bette aufrichten, unten im Hausflure schlich ein leises behutsames Knistern, dann ward die Hausthüre erst halb leise dann mit einem raschen Ruck vollends geöffnet, und dann fiel jenseits auf der Gasse ein Schlüssel aufs Pflaster, – Madame seufzte tief, und murmelte «Schweigen schweigen – nur schweigen» – Ich fühlte einen plötzlichen Muth in mir, und rief, «nein, Madame, Alles an den Papa sagen!» Sie können sich den Schrecken der armen Frau nicht vorstellen. «Stanzchen!» rief sie «Stanzchen, schläfst du nicht?» – und gleich darauf hörte ich sie bitterlich schluchzen, – mir wurde todtangst, ich wußte x-x nicht, daß die arme Person, die in der That eine sehr schlechte Gesundheit und mit ihren 48 Jahren betrübte Aussichten in die Zukunft hatte, ihre ganze Hoffnung auf H. Steenwick setzte, der ihr so lange Bücher voll zarter Liebe die sich nur durch Blicke und feine Aufmerksamkeiten, Blümchen et cet. verrieth, zugeschleppt hatte, bis sie sich um so mehr als halb verlobt ansah, da sie mahl in einem der Bücher an einer sehr bedeutsamen Stelle ein zufälliges Eselsohr fand.

Sie war sonst eine gute ehrbare Person, aber MYNHEER wissen wohl, der Ertrinkende hält sich an einem Strohhalm! – Als Madame sich ein wenig gefaßt bat sie mich vom Himmel zur Erde zu schweigen und log mir sogar etwas vor von einer reichen Tante die dem Cassier oft große Geldgeschenke mache, aber mit so unsicherer Stimme, daß es selbst mir auffiel, endlich versprach sie genau Acht zu geben, sie werde ihr Gewissen sicher nicht mit einer so wichtigen Sache beschweren, obwohl Schweigen sonst immer am Gerathensten sey, wo bey der Untersuchung doch unfehlbar nichts als Verdruß ohne Nutzen herauskommen und aller Schaden und Aufwand auf den Ankläger zurückfallen würde. – «Hat der Herr denn Zeit zu untersuchen?» sagte sie «frägt er je Jemanden Andren als den Cassier und die Haushälterin? und wenn diese sprechen wollten, haben sie nicht hundertmal die Gelegenheit und die Macht obendrein? – auf Kleinigkeiten, ein paar Steinkohlen mehr oder weniger verbrannt, ein paar Flaschen mehr oder weniger getrunken, kömmt es in einem solchen Hause auch gar nicht an, – aber dies ist zu arg! – Schweig nur, Kind, ich will aufpassen, und wenn es mir vom Himmel auferlegt ist, daß ich mich daran wagen soll, dann in Gottes Namen in Gottes Namen!» Wenn ich bedenke, in welchem betrübten herzzerreißenden Tone sie dies sagte, so muß ich der armen Frau alle ihre Schwächen vergeben, und bin überzeugt daß sie entschlossen war ihrer Pflicht ein ganzes Lebensglück zu opfern, was freylich nur in der Einbildung bestand, aber MYNHEER, der Wille ist doch so gut wie die That. – Wirklich ging Madame am andern Morgen, gegen ihre Gewohnheit, sehr früh aus, sie kam blaß und niedergeschlagen zurück, packte sogleich ihre Romane und ließ sie H. Steenwick bringen, mit der Bitte ihr keine andern zu schicken, da es ihr vorläufig an Zeit zum Lesen fehle. Von jetzt an horchte ich jeden Abend im Bette, und bemerkte auch daß Madame jeden Abend horchte, aber verstohlen, erst nachdem sie durch die Gardine geschielt hatte ob ich schlafe, und jeden Abend hörte ich H. Steenwick vorbey schleichen und Madames verhaltenes betrübtes Weinen, oft die halbe Nacht durch, den Tag über war Madame wie zerschlagen, griff Alles verkehrt an, hielt die Unterrichtsstunden noch nachlässiger als gewöhnlich, sie saß beständig am Fenster, nähte wie ums Brod, und so oft die COMPTOIRthüre ging fiel eine zerbrochene Nähnadel auf den Boden, auch halb verstohlene Ausgänge wurden mitunter gewagt. – Nach etwa acht Tagen sagte Madame Abends «Stanzchen Morgen spreche ich mit dem Papa» sie sah hierbey überaus blaß aus, und hatte etwas Edles im Gesicht das mir mehr IMPONIRTE als würde ich gescholten. – Ich legte mich so leise und rücksichtsvoll zu Bette wie in Gegenwart einer Prinzessin, Madame ließ das Licht brennen und laß lange und eifrig im Thomas A KEMPIS; plötzlich fuhren wir Beyde auf, H. Steenwicks Thüre wurde mit Geräusch auf und zu gemacht, und er stampfte einen Gassenhauer pfeifend über den Gang, dann stand er mit einem Mahle still und schien sich zu besinnen oder zu horchen, und dann gings leise leise mit Katzenschritten die Treppe herunter. Der Sand im Flur knirrte, die Hausthür ging, Alles leiser als je, ich sah Madame an, und begegnete einem Ausdrucke des Schreckens der mich betäubte, sie saß aufrecht im Bette, die Hände gefaltet «Jesus Maria!» war Alles was sie sagte, dann stand sie auf, öffnete das Fenster und lauschte eine Weile hinaus, kam dann schnell zurück, legte sich, und löschte das Licht. – Ich hörte Madame in dieser Nacht nicht weinen, aber so oft ich wach wurde, heftig athmen und sich im Bette bewegen, und ich hörte es oft, denn obwohl ich mir von meinen Gefühlen eigentlich nicht Rechenschaft zu geben wußte hatten doch dieser polternde Gang, dies wilde abgebrochne Pfeifen durch die Stille, und das darauf folgende Katzenschleichen mich mit einem Grausen überrieselt, daß ich mich fast vor den Schnörkeln am Betthimmel und der Gardine fürchtete. – Als es kaum Tag geworden war saß Madame schon wieder aufrecht und sah nach ihrer Taschenuhr, – so mehrere Male – um halb sieben klingelte sie und gab der Magd einen CONFUSEN Auftrag an H. Steenwick – das Mädchen kam zurück – er war noch nicht im COMPTOIR, – «so geh auf sein Zimmer» – die Thür war verschlossen. – Wir standen auf – von Unterrichtstunden war keine Rede – ich saß mit meinem Strickzeuge in einem Winkel – und Madame saß mit ihrem Nähzeug am Fenster – drey oder viermahl stand sie auf ging in's Haus hinunter und kam immer blasser wieder. Gesprochen wurde nicht.

Als wir um zwei ins Speisezimmer traten, war mein Vater anfangs nicht da und ließ sagen, wir möchten nur anfangen zu essen. Wir fragten nach dem Buchhalter; er sei bei dem Herrn. Wir aßen um der Domestiken willen einige Löffel Suppe, so sauer es uns wurde.

Da kam der Vater herein, sehr roth und aufgeregt. Er legte sich, gegen seine Gewohnheit, selbst vor, spielte mit dem Löffel und fragte dann, als der Bediente gerade herausging, wie hingeworfen:

«Madame, Sie wohnen doch dem Cassirer gegenüber; wissen Sie nicht, wann er diesen Morgen ausgegangen ist?»

Ueber Madames Gesicht flog eine glühende Röthe, die einem wahrhaft edlen Ausdrucke Platz machte. Sie stand auf und sagte mit fester Stimme:

«Mynheer, Herr Steenwick ist diese Nacht nicht im Hause gewesen.»

Mein Vater sah sie an mit einem Gesichte, das mehr Angst als Bestürzung verrieth. Er stand auf, gab draußen einige Befehle und setzte dann sein Verhör fort.

«Haben Sie gestern bemerkt, wann er fortging?»

«Ja, Mynheer, um halb zwölf,» und nach einigem Zögern setzte sie hinzu, «haben wir, Stanzchen und ich, ihn fortschleichen hören.»

«Fortschleichen?» rief mein Vater und wurde fast eben so blaß als Madame. «Also doch wahr! Seien Sie aufrichtig, Madame, war es zum ersten Male?» Es war, als sinke die arme Frau in sich zusammen, als sie stammelnd antwortete:

«Nein, Mynheer, nein, schon seit acht Tagen jeden Abend.»

Mein Vater sah sie starr an.

«O Mynheer, fragen Sie Stanzchen. Stanzchen weiß, daß ich es Ihnen heute sagen wollte.»

Mein Vater antwortete nicht. Er ging hastig an einen Wandschrank, der Feile, Kneifzangen und allerlei Schlüssel enthielt. Dann rief er an der Thür heftig nach dem Buchhalter. Thüren gingen und als eben ein Bedienter Speisen hereintrug, hörten wir an einem Krach, daß im Kabinet neben dem Comptoir die Kasse erbrochen wurde.

Wir saßen wie Bildsäulen am Tische, ließen eine Speise nach der andern abtragen und hatten weder den Muth, das Zimmer zu verlassen, noch darin zu bleiben.

Der Vater kam nicht wieder, auch zum Abendessen nicht, auch zum nächsten Mittagessen nicht, der Buchhalter eben so wenig.

Die jungen Commis schlenderten im Hause umher, und wir merkten aus einzelnen Worten, daß Herr Steenwick für in wichtigen Geschäften verschickt galt; denn zum Nachfragen hatte Keines von uns Muth.

Am zweiten Abend stürzte der Buchhalter aus dem Kabinet und rief: »Wasser! Um Gottes Willen, Wasser! Und geschwind zum Doktor Velten; der Herr hat einen Blutsturz bekommen.«

Madame und ich hörten das Geschrei auf unserm Zimmer, und ich weiß nicht, wie wir die Treppen hinuntergekommen sind, ich weiß nur, daß mein lieber Vater in seinem ledernen Arbeitssessel saß, bleich wie der Tod, die Augen halb gebrochen, ängstlich umherfahrend und daß er mich noch mit einem langen, traurigen Blicke ansah, daß mich schauderte, als ich in einen Blutstrom trat, der uns schon auf dem Entree entgegen floß.

Als Doktor Velten kam, war ich eine arme, verlassene Waise.

Von dem, was zunächst geschah, kann ich nur wenig sagen. Ich verstand das Meiste nur halb, und es schien mir Alles wie Nichts nach dem, was geschehen.

Das Gesinde mußte wohl wissen, wie mir zu Muthe war; denn wenn ich einmal zufällig mein Zimmer verließ, sah ich sie ziemlich offen silberne Bestecke, Becher und dergleichen auf ihre Kammern tragen. Ich sah es und sah es auch nicht; hätte ich nachher darüber aussagen sollen, ich hätte die Thäter nicht zu nennen gewußt.

Es war mir, als müßte ich ersticken, wenn der Weihrauchdampf bis oben in's Haus zog. Ich hörte unter unsern Fenstern die Trauermusik, sah die Fackeln wiederscheinen und verkroch mich hinter's Bett mit dem glühendsten Wunsch zu sterben.

Dann zog man mir schwarze Kleider an, und mein Vormund, der Banquier van Gehlen, holte mich vorläufig in sein Haus.

Madame Dubois mußte zurückbleiben. Unser Abschied war sehr schmerzlich, und es vergingen mir fast die Sinne, als diese Frau, der ich so lange gehorcht hatte, auf den Knieen zu mir hinrutschte, meine Hand küßte und rief:

«Stanzchen, Stanzchen vergib mir! Ich bin an Allem Schuld! O Gott, ich bin eine alte Thörin gewesen!«

Es war mir, als sollte ich ihr um den Hals fallen, aber ich blieb steif stehen mit vor Scham geschlossenen Augen und als ich sie aufmachte war Madame fort, und statt ihrer hielt Herr van Gehlen mich bei der Hand.

Unsere Vermögensumstände stellten sich dann, wie Sie wohl erwartet haben, sehr traurig heraus. Mein Vater hatte eine Staatsanleihe übernommen und sich sehr um dies Geschäft beworben, da wir keineswegs zu den ersten Häusern in Gent gehörten. Ob schon Gelder eingegangen und versendet waren, weiß ich nicht, aber 600,000 Gulden waren aus der Kasse verschwunden. Das war gerade unser eigenes Vermögen, den Brautschatz meiner Schwester, den sie im Geschäft gelassen hatte, eingerechnet; so blieb mir nicht das Salz auf dem Brode.

In van Gehlens Hause wollte man gütig gegen mich sein; aber es war dort nichts wie Glanz und Pracht. Man ließ mir Freiheit auf meinem Zimmer, aber das Lachen, Klavierspielen und Wagenrollen schallte von unten herauf und, wenn ich mich sehen ließ, gab es eine plötzliche Stille, wie wenn ein Gespenst erschien, und Aller Augen waren auf mich gerichtet, als gäbe es außer mir keine verarmte Waise in Gent.

Mevrouw van Gehlen that zwar ihr Möglichstes, mir über solche Augenblicke weg zu helfen; aber selbst ihr Bestreben that mir weh und ließ es mich erst recht fühlen, wie viel hier zu verbergen war.

Täglich hoffte ich auf die Ankunft meiner Stiefschwester; sie kam nicht, auch mein Schwager nicht, sondern nur ihr Geschäftsmann, Herr Pell, der mich so quer ansah, als hätte ich seinen Patron bestohlen, – schon gleich anfangs und noch schlimmer, nachdem er sich einige Stunden mit Mynheer van Gehlen eingeschlossen.

Dennoch hatte er den Auftrag, mich mitzuhringen, wenn sich nämlich kein anderes Unterkommen fände.

Ich stand bei dieser Verhandlung zitternd wie Espenlaub und nahm jeden lieblosen Ausdruck des kleinen, hagern Mannes für direct aus dem Munde meiner Schwester; woran ich doch gewiß sehr Unrecht hatte. Denn ich bin später, nach meiner Verheirathung, öfters mit ihr zusammen gewesen in ihrem Hause und auch in dem meinigen, und sie war zwar eine etwas förmliche Frau, aber immer voll Anstand und verwandtschaftlicher Rücksicht, und sie hat es mir sogar viel zu hoch angerechnet, als ich ihr nach meines Mannes Tode ihre durch unser Unglück erlittenen Verluste zu ersetzen suchte, was doch nicht mehr als meine allerstrengste Pflicht war.

Die Conferenz im Fenster war noch im besten Gange, als Herrn van Gehlen ein Besuch gemeldet wurde. Den Namen verstand ich nicht und benutzte diesen Augenblick, mich unbemerkt fortzuschleichen.

Im Vorzimmer traf ich den Fremden, einen kleinen, geistlich gekleideten, hagern Mann, der beschäftigt war, sich mit einem bunten Schnupftuche den Staub von den Aermeln zu putzen. Er sah scharf auf und seine Augen .verfolgten mich bis in die Thür mit lebhafter Neugierde.

Hast Du auch noch keine verarmte Waise gesehen? dachte ich.

Nach einer halben Stunde, die mir unter großer Gemüthsbewegung und unter Nachdenken über meine Schwester verging, ward ich heruntergerufen.

Ich fand die drei Herrn zusammen. Mynheer van Gehlen und Herr Pell saßen vor dem Tisch und blätterten in dicken Papierstößen. Sie sahen roth und angegriffen aus. Herr Pell schlug die Augen nicht vom Papier auf. Van Gehlen lächelte verlegen und schien mir etwas sagen zu wollen, als der Fremde aus der Fensternische trat, meine beiden Hände ergriff und mit bewegter Stimme sagte:

«Stanzchen, Stanzchen, ich bin Dein Ohm. Hat Dir denn Papa niemals von dem alten Herrn Ohm Pastor erzählt, dem alten Pastor in G.?«

Ich war ganz verwirrt; doch kamen mir einige dunkle Erinnerungen, obwohl mein Vater selten frühere Verhältnisse berührte.

So küßte ich dem Onkel die Hand und sah ihn auf eine Weise an, die ohne Zweifel etwas kümmerlich gewesen sein muß, denn er sagte:

«Sei zufrieden, Kind; Du sollst nicht nach Roeremonde. Du gehst mit mir;» und dann mit erhöhter Stimme halb zu den Andern gewendet:

«Wenn ich gleich keine feine Juffrouw erziehen kann, so sollst Du doch rothe Backen kriegen und auch nicht wild aufwachsen, wie eine Nessel im Hagen.»

Mynheer van Gehlen nickte zustimmend. Pell schlug seine Actenstöße zu und sagte:

«Wenn Ewr. Ehrwürden das so wollen – vorläufig wenigstens. Ich will es an meinen Patron berichten; vielleicht – sonst steht der Juffrouw Roeremonde alle Tage offen.»

Mein Ohm machte eine feierliche Verbeugung: «Gewiß, ja, wir lassen Mevrouw danken. Roeremonde steht alle Tage offen – aber Mevrouw muß mir das Kind lassen. Es ist meiner Schwester Kind, die ich sehr lieb gehabt habe, wenn sie auch nur meine Stiefschwester war.»

Niemand antwortete. Ich fühlte, daß hier irgend ein drückendes Mißverständniß herrschte, und war froh, als mein Onkel gütig fortfuhr:

«Nun, Stanzchen, ich kann aber nicht lange von Hause bleiben; pack Deine Siebensachen und dann danke Mynheer und Mevrouw van Gehlen, daß sie Dich armes, verlassenes Kind so treulich aufgenommen haben.»

Zwei Stunden darauf saßen wir im Wagen. So bin ich von Gent gekommen. Noch muß ich Ihnen sagen, daß Herr Steenwick nicht, nachdem er des Vaters Kasse zum Theil verspielt, mit dem Ueberreste durchgegangen war, wie Sie ohne Zweifel glauben und auch Jedermann damals glaubte.

Nach drei Wochen kam sein Leichnam auf in der Schelde. Er hatte nichts in der Tasche, als seine gewöhnliche grüne Börse mit 6 Stuyvern darin und einen kleinen leeren Geldsack, den er aus angewöhnter Pünktlichkeit mußte mechanisch wieder eingesteckt haben. Man hätte eigentlich zuerst hierauf verfallen sollen, da von seinen Habseligkeiten nicht das Geringste vermißt wurde, nichts als die Kleider, die er am Leibe trug und seine alte silberne Uhr.

Aber die Leute denken gern immer das Schlimmste. Lieber Gott, es ist freilich schlimm genug, Anderer Leute Geld zu verspielen und dann – ein solches Ende! Aber Mynheer wissen wohl, es kommt einem doch nicht so schimpflich vor, als ein anderer Diebstahl.

Ein Spieler ist wie ein Betrunkener, wie ein Besessener, aus dem der Böse handelt wie eine zweite fremde Seele. Habe ich nicht Recht? Herr Steenwick hatte unserm Hause zwanzig Jahre lang gedient, hatte so manche Nächte durchgearbeitet und auch nicht ein Endchen Bindfaden verkommen lassen; er war wahrhaftig noch grimmiger auf's Geschäft verpicht, als der Herr selbst, und nun ein solches Ende!

Indessen hat er, Gottlob, doch noch ein ehrliches Grab bekommen, weil sich mehrere Leute fanden, die ihn in der Morgendämmerung hatten taumeln sehen, wie einen Betrunkenen, und zwar in der Richtung nach Hause zu. So wurde denn angenommen, er habe, wie unglückliche Spieler häufig, sich zu viel Courage getrunken und sei so ohne Absicht dem Scheldeufer zu nahe gekommen.

Madame Dubois soll nachher auch noch heimlich auf sein Grab ihren Balsaminenstock gepflanzt haben, ist aber doch dabei belauscht worden – die arme Seele! Sie war wirklich gut von Natur, nur durch Romanenlesen etwas confus geworden; und wußte nicht recht mehr, ob sie alt oder jung war, und auch zu furchtsam geworden durch das Gefühl ihrer abhängigen Lage und noch mehr ihrer täglich abnehmenden Fähigkeit, sich selbst zu ernähren. Aber ihr Wille war immer der beste, und sie suchte mich vor jedem schädlichen Eindruck mit einer Treue zu hüten, für die ich ihr im Grabe noch dankbar bin.

Jetzt ist sie lange, lange todt; sie starb schon das Jahr darauf, als ich zu meinem Ohm kam, und ihre Ersparnisse in unserm Dienste haben übrig ausgereicht bis an ihr Ende.

So quälen wir uns oft umsonst, und unser Herrgott lacht dazu. –

 

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Hier schien Mevrouw van Ginkel ihre Mittheilungen endigen zu wollen. Sie schüttete frischen Thee auf, nahm eine Prise aus ihrem goldenen Döschen und sah mich mit jenem wohlwollenden Blicke an, der bei höflichen Leuten den Wunsch, auch den Andern zu hören, ausdrückt. Ihr Gesicht war völlig ruhig, sogar lächelnd; doch hing etwas Glänzendes in ihren Augwimpern, das aber nicht weiter kam.

Ich hingegen war in eine Stimmung gerathen, worauf ich eigentlich gar nicht für diese Stunde gerechnet hatte, und hätte für mein Leben gern Mevrouw in ihrer Dorfwirthschaft gesehen, um so mehr, da unschuldige Kinder sowohl wie alte Junggesellen mir ein gleich starkes Interesse erregen und man beide selten, wie hier, vereinigt findet

So that ich einige blinde Fragen nach der Lage des Dorfes und wie viel Diensthoten und wie viel Kühe u.s.w. Mevrouw errieth meine Absicht und sagte sehr freundlich:

«Ich sehe wohl, Mynheer interessiren sich für meinen guten Ohm und gewiß hat es auch nie einen bessern Mann gegeben – und keinen ehrwürdigern,» fügte sie hinzu mit einem Ausdruck kindlicher Scheu, der ihr fast wieder das Ansehn einer kleinen, wohlerzogenen Jungfer von vierzehn Jahren gab.

«Indessen läßt sich wenig von unserm Leben sagen. Es war sehr einfach und so einförmig, daß, wenn nicht die Kirchenfeste und die Jahreszeiten gewesen wären, unsere Tage einander so gleich gewesen wären wie Wassertropfen.»

Hier schüttete sie Wasser auf den Thee, und ich betrachtete einen am Kessel hängenden Tropfen, der allerdings wenig Unterhaltung zu versprechen schien.

«Aber,» fuhr sie fort, «so sollte es nicht bleiben, und ich möchte dem Herrn Nachbar wohl die Catastrophe von meines Ohms, ich kann wohl sagen, von meinem Schicksal erzählen, damit Sie sehen, was der, dem ich am meisten in der Welt zu danken habe, für ein Mann war. Aber da ist eine andere kuriose Geschichte hinein verflochten, die Mynheer gewiß interessiren würde, aber etwas lang ist. Haben Mynheer sich auch gut gegen die Abendluft verwahrt?»

Ich versicherte, daß ich alle nöthigen Maßregeln getroffen, obwohl ich, ehrlich gesagt, heute zum ersten Mal meine dritte Weste ausgelassen hatte und mit einiger Sorge an den Thau dachte.

Jedoch hatte ich Mevrouw noch nie in so mittheilender Stimmung gesehn und war entschlossen, diese zur Erweiterung meiner Menschenkenntniß um jeden Preis zu benutzen. So betheuerte ich, daß ich nie nach dem Thee noch zu Abend esse, – was auch wahr ist – und mir längst eine gelegentliche Mondscheinpromenade am Maasufer vorgenommen hätte, was allerdings nicht ganz mit meinem sonstigen Geschmacke und meinen sonstigen Gewohnheiten übereinstimmte.

Mevrouw sah mich auch so verwundert an, als mache vor ihren Augen eine Schildkröte Vorbereitungen auf den Hinterbeinen zu spazieren; jedoch fuhr sie ohne weitere Bemerkungen in ihren Mittheilungen fort, nur zuweilen kleine Pausen machend, um mir einzuschenken oder ihrem goldenen Döschen zuzusprechen, wobei sie mich in so wohlwollender Weise zum Mitgenuß einlud, daß ich bei mir an die Friedenspfeife der Indianer denken mußte; welche Unterbrechungen ich durch Absätze bezeichne und dem Leser die Ausmalung der kleinen Zwischenspiele überlassen werde. Also Mevrouw fuhr fort:

 

(Das Uebrige fehlt.)