BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[88]

VI.

 

Beleuchtung des Umstandes, das sich H. nicht in dem Maße fortentwickelte, als es seine anfängliche Erscheinung versprach. Diätetischer Grund dieser Thatsache. Beweis, daß H. gleichwohl auch noch späterhin sehr intelligent war und zum Theil bewundernswürdige Geisteskräfte verrieth.

 

Aus dem Umstande, daß H. sich nicht in dem Maße fortentwi­ckelte, als man seinen anfänglich zu Tage kommenden außer­ordentlichen Fähigkeiten nach erwarten konnte, und daß er in den späteren Zeiten seines kurzen Lebens in der Menschenwelt das Maß des Gewöhnlichen nicht mehr zu übersteigen schien, zieht H. E. den Schluß, daß seine Begabung überhaupt nicht diejenige gewesen, für die sie gehalten worden war, und daß man dieselbe nur schwärmerisch beurtheilt und übertrieben habe. Aber man sehe sich die so einstimmigen, so bestimmten Aussagen der verschiedensten Beobachter und Zeugen unbefangen an; man erinnere sich der einzelnen Züge und Thatsachen, die ich so eben unter V. angeführt, und die nicht nur eine wunderbar rasche Entwicklung der Intelligenz bezeugen, sondern auch ein offenbar schon von vorn herein vorhandenes, [89] mehr als normales und gewöhnliches Maß derselben vorauszusetzen! Man wird sich überzeugen, daß Hauser's geistige Kraft wirklich in nicht geringem Grade hervorgetreten und mit Recht bewundert worden sei, wie sich dieselbe auch späterhin gestaltet und dargestellt, und welchen Grund diese Veränderung auch gehabt haben möge. Die Wendung, die die Sache in der That nahm, und die Differenz der beiden Erscheinungsweisen ist ein Problem, wofür eine Erklärung zu suchen; eine solche findet sich indessen schon in meinen „Mittheilungen“ mehrfach begründet und angedeutet. 1) Die Sache ist nehmlich diese.

Die ungemeinen Befähigungen, die H. in den ersten Zeiten offenbarte, so wie die ihn damals auszeichnende ganz eigenthümliche Feinheit und Zartheit seines ganzen Wesens standen in offenbarem Zusammenhange mit seiner reinen und unschuldigen Kost. Es blieben ihm jene besonderen Eigenschaften auch dann noch, als er nicht mehr, wie Anfangs, nur Wasser und Brod, sondern auch Wassersuppen, Chocolade und Milchspeisen genoß. Er büßte sie aber ein, so wie er sich an Fleisch gewöhnte, welche Nahrung, wiewohl man ihn mit der äußersten Vorsicht und Allmähligkeit dazu überführte, doch eine merkwürdig abstumpfende und depotenzirende Wirkung hatte. Es verlor [90] sich die beispiellose Empfindlichkeit für animalische und mineralische Einflüsse, die ihm so lästig und qualhaft war. Darauf hatte man gerechnet und fand seine Erwartung auch vollkommen gerechtfertigt. Aber es zeigte sich noch etwas Anderes, was man nicht gewollt. Es nahm auch die erstaunliche Feinheit und Schärfe seiner Sinnesorgane, namentlich seines weithin erkennenden Auges und Ohres ab; es verschwand leider auch seine große Fassungs- und Gedächtnißkraft. Er wurde nicht dumm und stumpf; auch war und wurde er niemals faul, wie ihm H. E. vorwirft; 2) aber er begriff und lernte nicht mehr mit der früheren Leichtigkeit; er offenbarte im Ganzen seiner Erscheinung und Entwicklung keine außerordentlichen Seelenkräfte und Begabungen mehr und erschien fast in jeder Beziehung als ein gewöhnlicher Mensch.

Ich finde in meinen Aufzeichnungen Folgendes bemerkt: Mit der größten Schnelligkeit entwickelte sich H. in den ersten Zeiten bis zu seiner Erkrankung im Thurme. Dann trat eine Zeit ein, in der er zwar noch sehr gut [91] zu fassen vermochte und im Allgemeinen auch große Fortschritte machte, wegen Ueberreiztheit der Nerven aber zu bestimmten Arbeiten und Anstrengungeu sehr wenig fähig war, so wie es vorkommt, daß ein krankhaft gereiztes Auge zwar klar zu erkennen, aber Nichts ohne Schmerz und nachtheilige Folgen zu leisten vermag. Mit der Gewöhnung an Fleischkost trat ein andersartiger Zustand ein. Seine geistige Regsamkeit verlor sich, die Augen büßten ihren Glanz und Ausdruck ein, sein Trieb zur Thätigkeit ließ nach, das Intensive seines Wesens ging in Zerstreuungssucht und Gleichgültigkeit über, seine Fassungskraft war herabgesetzt. Sein Zustand war nicht sowohl der der Ueberreiztheit und Schmerzhaftigkeit, als der der Abstumpfung.“

Das ist indessen nicht so zu fassen, als wenn von nun an gar keine Spur von Geist und Talent mehr an ihm wahrzunehmen gewesen. Es ist mehr von der ersten, gewaltsamen Wirkung jener Kost zu verstehen. Daß bei ihm auch späterhin Momente lichtvollerer, geistig erhöhter Art vorgekommen, Zeiten, wo alle die früher an ihm bewunderten geistigen Eigenschaften wenigstens eine Zeit lang wieder ihre Rolle spielten, habe ich schon in meinen „Mittheilungen“ angegeben. Es fehlten zwischendurch selbst nicht Blitze von aufleuchtender poetischer Begabung und speculativer Denk- und Erkenntnißkraft, welche zum Theil die höchste Bewunderung zu erregen geeignet waren. Ein [92] wieder regeres Seelenleben und energischeres Denken zeigte sich z. B. im März 1829; sein Auge leuchtete, wie ehedem, und sein Gesicht bekam den früheren Ausdruck von Geistigkeit wieder: sein Kopf arbeitete unaufhörlich, er dachte sich namentlich über religiöse Gegenstände manches Eigene mit großer Klarheit und Bestimmtheit aus; s. Mittheilungen I. S. 94 f. 103. Wie er eigenthümliche Gedanken über Dreieinigkeit und Unsterblichkeit faßte, ist daselbst II. S. 22 erzählt. Ein im Frühling 1829 von ihm verfaßtes Gedicht mit dem Anfang:

 

„Mein erstes Jahr begrüß' ich heut,

In Dank und Liebe hoch erfreut“ –

 

habe ich daselbst I. S. 45 abdrucken lassen. Er spricht darin von dem ihm obliegenden Anbau seines Gartenbeetes, was er bildlich von der Ausbildung seines Geistes verstand. Im Ganzen erschien er als ein nüchtern verständiger Mensch, dem sehr wenig Poesie und Phantasie eigen; er hatte aber sehr poetische Träume, und es schwebten ihm zuweilen auch im Wachen merkwürdige Bilder vor. Das angeführte, im Frühling des Jahres 1829 entstandene Gedicht, drückt Zufriedenheit und Lebenshoffnung aus; er schrieb es an einem Tage nieder, wo es ihm besonders wohl war und wo er einer heiteren Zukunft entgegensah. Um diese Zeit hatte er jedoch einen symbolisch-prophetischen Traum, der ganz das Gegentheil ausdrückte. Eine schöne männliche Gestalt in weißem Gewande trat vor sein Bett [93] und reichte ihm einen Kranz mit der Ankündigung eines frühen Todes. H. wollte den Kranz, das Symbol dieses Todes, nicht nehmen; er sei noch nicht lange auf der Welt, sagte er, und möchte noch nicht gern sterben. Die Gestalt erwiederte: es sei um so besser, wenn er, ohne lange gelebt zu haben, von der Welt scheide. Sie legte darauf den Kranz auf den Tisch; H. stand auf; da fing der Kranz an zu glänzen und immer heller und heller zu werden. Bei diesem Anblick sagte Hauser: „Ja, ich will sterben,“ und wachte auf.

Merkwürdig war ferner sein geistiger Zustand nach der Verwundung, die er den 17. Oetober 1829 in meinem Hause erlitten hatte. Ich habe darüber in meinen „Mittheilungen“ I. S. 64 Folgendes berichtet: „Als das Bewußtsein zurückkehrte, verlangte er nach mir und erzählte in der reinsten Aussprache und in gewählten, oft poetischen Ausdrücken zusammenhängend und periodisch, wie er zuvor nie gethan, 3) das Vorgefallene, indem er scharfsinnige Vermuthungen und Erkärungen untermischte.“ Ich berief mich auf den damals noch lebenden Dr. Osterhausen, einen ganz ruhigen, besonnenen Mann, der dieser Scene beiwohnte und dieselben Beobachtungen machte. Hauser's Verwundung hatte die Folge, ihn überhaupt wieder [94] in den Zustand zurückzuversetzen, in welchem er sich vor dem Fleischessen befand, so daß sich mit geistiger Begabung und Erhöhung auch wieder z. B. seine Empfindlichkeit gegen Metall, Glas und animalische Einwirkungen zeigte.

H. hatte Momente, wo ihm eine plötzliche Erleuchtung und Offenbarung zu kommen schien und wo ihm symbolische Bilder voll tiefen Sinnes in visionärer Weise vor Augen traten. So war es einmal im Winter 1830 auf 1831, wo er einen großen Drang nach Erkenntniß verspürte. Da sei ihm, erzählte er, auf einmal Alles klar geworden und zwar durch ein Bild, das sich ihm darstellte und dessen Bedeutung er zugleich vollkommen verstand. Es sei ihm gewesen, „als sei Alles Eins, die Menschheit mit der Natur zusammen,“ doch aber so, „daß eigentlich erst die Menschheit das Ganze ausmache.“ Das Bild, das er gesehen, sei eine Art von Baum gewesen, dessen Aeste sich bewegt und allerlei Figuren gebildet hätten, die ihm nicht mehr klar seien; denn er sei in seiner Betrachtung gestört worden und dann durch einen Kamphergeruch erkrankt; da sei ihm jene Klarheit getrübt worden, und es sei ihm jetzt, als wäre ein Flor darüber. So viel wisse er noch: entgegengesetzte Aeste hätten sich ineinander bewegt, und es sei ihm gewesen, als entstehe dadurch erst das Ganze. Der Baum sei auf einer Basis, auf etwas Festem gestanden, das er nicht mehr näher zu bezeichnen wisse, von unten auf sei wie eine [95] Stange gegangen, auf deren Spitze sich ein Krönlein mit einer rothen Beere darin befunden; es habe ihm geschienen, als sei das die Hauptsache.

Es zeigen sich hier speculative Gedanken; namentlich ist es der eines einheitlichen Weltganzen mit einer Entwicklung, die von unten nach oben geht und eine höchste Spitze der Vollendung erreicht; es ist auch die Einheit erkannt, die aus dem sich aufhebenden Gegensatze resultirt. Hiebei ist wohl zu bemerken, daß in dem Unterrichte, den H. damals genoß, von solchen Ideen Nichts vorkam, und daß auch früherhin keiner stattgefunden hatte, aus welchem dergleichen abzuleiten war. H. war mit philosophischen Systemen ganz unbekannt; er wußte Nichts von einem Hegel, Schelling, Spinoza u. s. w.; es kamen ihm solche Bilder und Ideen, wie die beschriebenen, ganz aus dem eigenen Innern und in einer Weise, die an Jakob Böhme zu erinnern geeignet ist. Ich selbst habe Nichts unterschoben, dazugethan und ausgeschmückt, und das mit Anführungszeichen Versehene sind Hauser's eigene Worte, wie er sie brauchte, als er mir gelegentlich von jenem Gesichte sprach. Ich ließ ihn in solchen Fällen ohne Unterbrechung reden, bis er selbst aufhörte, oder auf Anderes übersprang, und erlaubte mir nur dann erst Einiges zu fragen, aber ohne alle Suggestion. Wie selbstständig sich seine Seele verhielt, und wie rein und frei sie aus sich selber schöpfte, sieht man auch aus folgenden [96] Umständen. Er quälte sich damals in Folge des ihm ertheilten Religionsunterrichtes, bei welchem man ihn so ganz seiner Natur zuwider, auf bloßes Glauben verwies und über das Dunkle darin nicht zu forschen und zu grübeln ermahnte, gleichwohl gar sehr für sich selber ab, um das Verhältniß Gottes zur Menschheit, insbesondere zu dem Bösen im Menschen und dem Ursprung des Bösen, zu fassen. In dem aber, was er über jenes Gesicht mittheilte, kam weder eine Erwähnung Gottes, noch des Bösen vor, während er dennoch versicherte, es sei ihm zu der Zeit jener Vision und Betrachtung Alles, was ihm sonst zu schaffen mache, vollkommen klar gewesen und die Lösung der schwierigen Räthsel, die ihn ängsteten, ganz leicht vorgekommen; „wenn es ihm nur wieder so würde!“

In dem Gemälde, das Feuerbach S. 141 von Hauser aus der Zeit entwirft, da dieser in seiner unmittelbaren Nähe zu Ansbach lebte, heißt es: „er sei an Einsichten ein kleiner Knabe, in Manchem noch weniger, als ein Kind, aber an Verstand ein Mann.“ Ferner: „er sei in Beziehung auf das, was in dem Kreise seiner Kenntnisse und Erfahrungen liege, von so richtig treffendem Urtheil und Scharfsinn, daß er damit manchen gelehrten Schulfuchs beschämen oder in Verlegenheit bringen könne.“ Feuerbach hat manches Tiefere nicht gekannt und hält sich bloß an die trocken verständige Außenseite. Gleichwohl ist auch [97] diese Schilderung mit Herrn Eschricht's Behauptungen in unvereinbarem Widerspruch.

Pfarrer Fuhrmann in seiner Schrift über Kaspar Hauser schildert dessen Benehmen bei dem ihm in Ansbach ertheilten Religionsunterricht. Er hatte damals schon ein ganz anderes Verhältniß zu Religion und Geistlichkeit, als im Anfang, wo er sich so starr verständig und abweisend dagegen verhielt. Dennoch sagt Fuhrmann S. 29: „Es fehlte nicht an Opposition und Einwendungen,“ und man merkt es auch an der ganzen Schilderung, daß er eine nicht geringe Mühe hatte, diesem wunderlichen Schüler die nöthigen Glaubenspunkte beizubringen, und daß ihm derselbe mit seinen Einwürfen sehr viel zu schaffen machte. Doppelt merkwürdig ist, was S. 42 zu lesen. Die Rachsucht schien Hausern etwas sehr Thörichtes zu sein; er fand es inconsequent, wenn man an einem Andern dasselbe zu thun begehre, was man für so unrecht und böse halte, sofern es dieser Andere gethan. Hier zeigt sich mit einer gewiß nicht idiotischen Schärfe des Verstandes zugleich das schönste Herz gepaart, ein Herz, in welchem für eine so häßliche und doch so gewöhnliche Empfindung, Begierde und Leidenschaft, wie die der Rachsucht ist, gar kein erfahrungsgemäßes Bewußtsein und Verständniß vorhanden.

 

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1) Siehe daselbst I. S. 21. 65. 79. 94 f. 97. 

2) Herr v. Tucher sagt in der am 5. Dec. 1830 geschehenen Vernehmung: „Seine Begierde zu lernen und sich zu entwickeln, ist ungemessen, und wird von der grenzenlosesten Beharrlichkeit, die an Eigensinn grenzt, begleitet, so daß ich hierbei nur zu sorgen habe, allzu große Anstrengungen von ihm ferne zu halten.“ Siehe Hitzig's Annalen Bd. IX. S. 441. In den letzten Zeiten seines Lebens trieb er, den mir aus Ansbach zugekommenen Nachrichten zu Folge, mit besonderem Eiser und Fleiß das Lateinische. 

3) Früher hatte er sich den Volksdialekt, in welchem er sprach, nie ganz abgewöhnt.