BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[153]

XI.

 

Das Capitel von den Salpen. Diese wunderlichen Seethiere haben mit Nürnberger Findlingen das gemein, daß Kopenhagener Professoren über sie, wie über besagte Findlinge, die allerabsurdesten Hypothesen aufstellen. Sehr sonderbar und dennoch wahr.

 

Ich weiß nicht, ob dem geneigten Leser bekannt ist, was Salpen sind. Es heißen so gewisse curiose Seethiere, die mit Nürnberger Findlingen wenig Aehnlichkeit haben und daher auch hier gar nicht am Orte zu sein scheinen, die aber mit dem Gegenstande, der uns be­schäftigt, doch insofern zusammenkommen, als königl. dänische Etats­räthe und Professoren über Beide ganze Abhandlungen geschrieben, dabei dem Romantischen, Wunderbaren und Märchenhaften aufklärend entgegengearbeitet, dasselbe durch rationelle Auffassungen zu ver­drängen unternommen, jedoch das Unglück gehabt haben, sich so gewaltig zu irren und zu blamiren, daß die scharfsinnige Theorie wie Wasser zerrann, das unglaubliche Faktum [154] aber blieb und Recht behielt; denn „Nichts ist hartnäckiger, als die Thatsache, und Nichts ist hinfälliger, als die Hypothese,“ wie Carl Vogt bemerkt.

„Ueber die Fortpflanzungsart der Salpen war man lange im Dunkeln,“ sagt ebenderselbe. „Und selbst als die Wahrheit gefunden war, sollte sie lange nicht anerkannt werden, weil sie als eine sonderbare Ausnahmserscheinung dastand, zu der sich kein Analogon finden lassen wollte. Und dann war es ja ein Dichter, der auf seiner Fahrt als Peter Schlemihl um die Welt diese Thatsache gefunden hatte. Der Stolz eines Professors mußte sich gegen einen solchen Eingriff empören. Erst die neuere Zeit gab dem armen Peter Schlemihl wieder Recht, indem sie bei Eingeweidewürmern, Quallenpolypen und einer Menge anderer Thiere ähnliche Phänomene nachwies, so die Reihe der Thatsachen vergrößerte und verallgemeinerte und von der Aus­nahmsstellung zum Falle einer Regel erhob.“

Chamisso hatte sonderbare Dinge gesehen. Es waren Flossen­salpen, durch Fortsätze zu ringförmigen Ketten vereinigt. Jede dieser Salpen trug in ihrem Innern einen Embryo, der aber anders organisirt und gestaltet war, als die Muttersalpe.“ Ich umgehe der Kürze wegen das Nähere, das man bei Vogt nachsehen kann. Es fehlten namentlich gewisse Organe, die sich später entwickeln mochten. „Chamisso fand jedoch andere Individuen, [155] einzelne, nicht zu Ketten vereinigt, so groß, daß sie die größten Kettenthiere, die er gefunden, noch übertrafen und dennoch vollkommen jenen Embryonen ähnlich. Aus Einzelthieren wuchsen wieder Radkränze von jungen Kettenthieren hervor, die in Gestalt und Struktur ganz den älteren Kettenthieren glichen, welche die jungen Einzelthiere im Innern trugen.“

„So war es klar: es gab bei diesen Salpen zweierlei abwechselnde Generationen; die Kettenthiere brachten in sich einzelne, der Gestalt und Struktur nach von ihnen verschiedene Junge hervor und die so erzeugten und beschaffenen Einzelthiere ließen aus ihrem Körper junge Kettenthiere hervorwachsen. Das Kind glich nicht der Mutter, sondern der Enkel der Großmutter, die entsprechenden Generationen folgten sich nicht unmittelbar; es war eine Wechselfolge. Kettenthier, Einzelthier, Kettenthier, Einzelthier u. s. f.“

„Der Kopenhagener Professor fand diese Ansicht des Dichters allzu romantisch. Er erklärte die Sache aus dem Nachlaß der älterlichen Kräfte. Die junge Salpe, im Vollgenuß ihrer Gesundheit, sollte sich mit einfacher Nachkommenschaft nicht begnügen, sondern gleich ganze Ketten produciren; im Alter, ruhiger und gesetzter geworden, erlaubte sie sich von Zeit zu Zeit eine Reminiscenz ihrer Jugendfreunden in Gestalt eines einzelnen Embryo. – Doch nein, ich irre mich bei meinen Querfahrten durch die [156] dänische Bastardsprache. Im Gegentheil, die Salpe fing dem Professor zu Folge erst schüchtern, gleichsam versuchsweise mit vereinzelten Jungen an, später aber, in der sittlichen Verkommniß und Unkeuschheit weiter fortgeschritten, unterstand sie sich, ganze Ketten von Jungen auf einmal in die Welt zu schleudern.“

Ich bin nur froh, daß ich nie Etwas mit Erziehung und Leitung der Salpen zu thun hatte, sonst würde mir H. E. ihre moralische Verderbniß ebenfalls mit großem Geschrei zur Last gelegt haben; kein anderer Mensch als ich hätte sie so üppig gemacht, und „Unverstand und schlechte Erziehung“ würde auch der Titel seiner glorreichen Abhandlung über die Salpen sein.

„Bis in die neueste Zeit schwankten die Gelehrten zwischen dem Dichter und dem Professor, zwischen der Romantik und der positiv-socialen Theorie; die nüchterne Untersuchung gab dem Dichter Recht. Krohn stellte unwiderleglich fest, daß alle Salpen gleichen Generationswechsel zeigen, daß jede Art in zwei verschiedenen Gestalten, als Ketten- und Einzelthier, auftrete.“ 1)

Wohlgemerkt! Die nüchterne Untersuchung gab dem Poeten, dem Phantasten, dem Märchen­schreiber [157] gegen die rationellen Erklärer und Hypothesenmacher, die Fanatiker der Nüchter­heit und Vertreiber aller mystischen Nebel und Dunkelheiten in Natur und Geschichte Recht. Das ist denkwürdig und instruktiv, so Etwas sollte man sich wohl merken und zur Warnung dienen lassen. Aber diese Leute lernen Nichts. So wie ihnen Etwas vorkommt, was nur irgend den Schein des Wunderbaren und Romantischen hat, so werden sie toll, jenen mit Hörnern geschmückten, doch nicht mit Geist gesegneten Thieren ähnlich, wenn sie ein rothes Tuch erblicken. Sie vergessen die Lektion, die ihnen die Salpen gegeben und stürzen sich auf Nürnberger Findlinge und „narrenhafte Professoren,“ die sich unterstehen, nicht bloß Professoren, lederne Fachgelehrte und aufgespreizte Kathederfiguren, sondern auch Menschen, ja sogar Dichter zu sein, und in einem Falle, wo nicht willkürlich erfindende Phantasie und träumende Einbildung, sondern Wirklichkeit und Geschichte selbst einen Roman spielt und eine Art von Wunder bietet, das interessanter, als alle erdichteten ist, dies willig anzuerkennen und nicht mit aller Gewalt und um jeden Preis gleichwohl nur die allergemeinste Realität daraus zu machen. Das Resultat dürfte dasselbe sein. Denn Wahrheit und Natur ist tausendmal lieber auf der Seite des kindlich anschauenden, sich der Thatsache gläubig hingebenden Poeten und Romantikers, als auf der des eitlen [158] Klüglings und wüthigen Meinungstyrannen, der den Dingen apriorisch vorschreibt, wie sie sein und nicht sein sollen, und der Jeden, der anders denkt und sieht, als er, in's Narrenhaus sperrt oder moralisirend und theologisirend dem Teufel übergiebt.

 

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1) Vogt, Bilder aus dem Thierleben, Frankf. a. M. 1852 S. 59 ff.