BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[159]

XII.

 

Graf Stanhope kommt an die Reihe. Sein anfängliches Betragen in der Hauserischen Angelegenheit und die räthselhafte Umwandlung desselben in das extreme Gegentheil, Die Sache ist ohne Annahme eines geheimen Grundes höchst unnatürlich und unbegreiflich.

 

Ich glaube mich nun mit Herrn Eschricht's „Unverstand,“ lügenhafter Darstellung und unglücklicher Hypothesensucht genugsam beschäftigt zu haben, und wende mich nun einem anderen, intelligenteren, aber um so bedenklicheren Charakter zu. Es ist der bis jetzt nur gelegentlich erwähnte englische Graf Stanhope, der eine so höchst auffallende und sonderbare Rolle gespielt, indem er sich aus dem anscheinend liebevollsten, ja verliebtesten Freund und Beschützer des Findlings, in den feindseligsten Gegner, Ankläger und Beschimpfer desselben verwandelt hat, ohne daß in den offen da liegenden Umständen und Thatsachen ein natürlicher und genügender Grund zu einer solchen Umwandlung zu entdecken ist. Diese Erscheinung muß beleuchtet werden, erstlich weil sich, wie ehemals Merker, so jetzt auch wieder Eschricht ganz vorzüglich auf die [160] gräflichen Berichte und Mittheilungen stützt, hiebei aber die von Beiden ihrem Interesse gemäß total umgangene, von mir aber um so mehr zu erörternde Frage nach dem Werthe und der Brauchbarkeit dieser Geschichtsquellen entsteht; zweitens weil man hier allem Anscheine nach auf den Punkt trifft, wo das ganze Hauserische Problem in seiner Wurzel zu erfassen und zu seiner wahrhaften Lösung zu bringen ist. Ich führe hier nicht nur meine Sache, und nicht nur die Sache derjenigen, die mit mir aus gleichem Grunde und in ähnlicher Weise angefochten und herabgesetzt werden. Ich glaube auch den Manen des Gemordeten, mit dem ich einst so nahe verbunden war, Etwas schuldig zu sein. Wenn es erlaubt ist, wider diesen fort und fort jeden noch so niedrigen Verdacht, jede noch so entwürdigende und beschimpfende Ansicht und Beschuldigung öffentlich auszusprechen. – Herr Eschricht nennt ihn sogar einen „Elenden“ – so wird es auch gestattet sein, bemerklich zu machen und nachzuweisen, daß es noch andere in diese dunkle Geschichte verwickelte Personen giebt, bei welchen nicht Alles einfach klar und faßlich ist, und deren Benehmen die Annahme begründet, daß sie aus ganz anderen Beweggründen gehandelt, als diejenigen sind, die sie der Welt gegenüber offen zu erkennen gegeben.

Besagter Graf Stanhope zeigte sich Anfangs von Hauser's Person und Wesen dermaßen bezaubert und hingerissen, daß er in das innigste und vertrauteste Verhältniß [161] zu ihm trat, ihm kostbare Geschenke machte, und ihn sogar, nachdem die deßhalb mit dem Nürnberger Magistrate gepflogenen Verhandlungen zu ihrer Reife gediehen, förmlich an Kindesstatt annahm, wie es sich vom Mai 1831 bis zum Januar 1832 ereignete und ein neues, außerordentliches Aufsehen machte. Auch nahm ihn St. von Nürnberg hinweg, versetzte ihn nach Ansbach, gab ihn daselbst bei dem Lehrer Meyer in häusliche Pflege und Obhut und stellte ihn übrigens unter die Aufsicht des Gendarmerie-Lieutenants Hickel, den er als einen speziellen Freund bezeichnete, zu welchem er das größte Vertrauen hege. Dann verreiste er wieder und sandte seinem Pflegesohn Briefe aus der Ferne zu. Im December 1833 sollte er, seiner Ankündigung nach, wieder in Ansbach eintreffen; da aber, am 14. des Monates, ward H. zum Tode getroffen, am 17. verschied er, am 20. ward er begraben. Jetzt war der Graf zur Hand. Am 22. December, zwei Tage nach dem Begräbnisse, wie ich in Druckschriften angegeben finde, erschien er zu Ansbach und begann seine neue Rolle zu spielen, indem er den ehemaligen Liebling und Adoptivsohn, den man so eben erst in's Grab gesenkt, als Betrüger und Selbstmörder bezeichnete.

Er ging hierauf nach München, ward hier gerichtlich vernommen und erklärte auch hier, daß er sich in H. getäuscht habe und daß er nun in allen Stücken der Ansicht [162] des Polizeirathes Merker in Berlin sei, der in dem Findling den Betrüger entdeckt und entlarvt habe. Doch auch damit begnügte er sich nicht; er entfaltete den brennendsten und rührigsten Eifer, von all den meist ganz obskuren Personen, die mit H. bei dessen erstem Auftreten in Berührung gekommen, Aussagen zu erhalten, welche die Sache noch nachträglich aufklären, d. h. wider den Unglücklichen sprechen und zeugen konnten, trat in hülfreiche Verbindung mit Merker, streute verschiedene Broschüren aus, welche zum Zwecke hatten, das Publikum in seinem Glauben an H. irre zu machen und ihm die Merkerische Ansicht aufzudringen, und that überhaupt Alles, was nur immer geschehen konnte, um vor aller Welt den Beweis zu führen, daß der junge Mensch, dessen er sich so feurig und zärtlich angenommen, nichts weiter, als ein gemeiner Bursche, elender Gaukler und schmählicher Selbstmörder gewesen.

Ich frage: Ist das natürlich und begreiflich, wenn nicht ein geheimer Grund vorhanden war, welcher diesen Mann zu einem so ungleichen und inconsequenten, ihm selbst zu so großer Beschämung gereichenden Benehmen trieb?– Die pure Wahrheitsliebe, behauptete er, sei sein Motiv, als er der Welt auf alle nur ersinnliche Weise eine Ansicht beizubringen bemüht war, die mit der, zu welcher er sich früher bekannt und die durch ihn eine neue, glänzende Stütze erhalten hatte, in so directem Gegensatze [163] stand. Wer aber den Menschen kennt, wem bewußt ist, welche Rolle in ihm Rechthaberei, Eigensinn und Eitelkeit spielen, und wie sehr es selbst die Besseren und Besten zu scheuen pflegen, sich für betrogen zu erklären und sich ein ihrem Verstande zur Unehre gereichendes Dementi zu geben, der wird die Sache keineswegs so einfach und arglos hinnehmen können. Es ist möglich, daß sich eines Menschen Ansicht und Stimmung ändert und eine ganz entgegen­gesetzte in ihm herrschend wird. Wenn nun derselbe ein redlicher und wahrheitsliebender Charakter ist, so wird er diese Metamorphose, in dem Falle, daß er darüber eine Erklärung zu geben hat, auch nicht verläugnen; er wird die Wahrheit sagen, sei sie auch noch so verdrießlich und beschämend für ihn. Er wird sich aber ein solches Ge­ständniß so viel als möglich zu ersparen suchen, wird sich am liebsten ruhig und stille verhalten und nicht die leidenschaftlichsten Anstren­gungen machen, dasjenige, wofür er früher eine schwärmerische Liebe und Begeisterung öffentlich an den Tag gelegt, nun eben so öffentlich anzufeinden, schlecht zu machen und in den Koth zu treten. „Sie wissen,“ sagt Stanhope in einem Schreiben an den Lehrer Meyer, „daß ich nicht die Absicht gehabt, mir Hausern als eine Merkwürdigkeit abtreten zu lassen; ich nahm einen hülfsbedürftigen Jüngling in meinen Schutz, für den ich viel Freundschaft empfand und der sich immer mit der größten Anhänglichkeit, [164] Dankbarkeit und Gelehrigkeit gegen mich betragen hat.“ Aber so maßvoll und kühl nahm sich die Sache gar nicht aus. Der Graf betrug sich gegen H. in der Art, daß die böse Welt eine gewisse unnatürliche Zuneigung und Absicht darin zu erkennen meinte. Ich glaube nicht, was man damals geschwatzt hat, da ich der Meinung bin, daß ein ganz anderes Geheimniß im Hintergrunde gestanden. Aber man sieht daraus, was die Sache für eine Gestalt und für einen Anschein hatte. Es sind ferner in meinem Besitze einige Briefe, welche H. von Tucher zu Nürnberg als damaliger Vormund Hauser's an Stanhope und Feuerbach schrieb und welche die größte Unzufriedenheit mit der Art ausdrücken, in welcher H. von dem Grafen behandelt wurde, sofern dieser gegen alle Regeln einer vernünftigen Erziehung und Leitung der Jugend verstieß und Alles that, was insbesondere einem jungen Menschen, wie H., zu Grunde richten mußte. Er stellte diesen ganz auf die Stufe eines reifen Mannes, einer fertigen, selbstständigen Persönlichkeit, eröffnete ihm glänzende Aussichten, gab ihm ansehnliche Geldsummen in die Hände, veranlaßte ihn, sich den Magen zu verderben u. s. [f]., worüber H. v. Tucher gewiß mit Recht die bitterste Klage erhob. Man wird einen Auszug aus diesen documentalen Briefen im Anhange finden. Im grellsten Contraste mit dieser zunächst hervortretenden unstatthaften Höherstellung und maßlosen Verhätschelung steht das tyrannische und gewalthätige [165] Verfahren, welches nachher zu Ansbach auf Stanhope's Anstif[t]en gegen H. in Anwendung gebracht worden ist, und welches ich unten Cap. XIV. schildern werde.

H. hat sich gegen Stanhope, wie dieser selbst bezeugt, immer mit der „größten Anhänglichkeit, Dankbarkeit und Gelehrigkeit“ betragen. Sieht das einem Betrüger, und nicht vielmehr einem einfach guten Kinde gleich? Und wenn sich H. so betragen hat, woher denn die Wuth, die den Grafen zu so angelegentlicher und angestrengter Verdächtigung und Beschimpfung desselben trieb?

Ebenso ist die Frage, was ihn denn so sehr gegen den Präsidenten von Feuerbach in Harnisch gebracht. Dieser hatte ihm sein edles, warmes Herz erschlossen, hatte ihm öffentlich, wie besonders in der Dedication zu seinem „Kaspar Hauser“ die größte Ehre angethan. Wie mochte Stanhope nach dessen Tode gleichwohl so feindselig gegen ihn auftreten, die ärgsten Beschuldigungen gegen ihn schleudern und ihn auf alle nur erdenkliche Weise verfolgen und heruntersetzen? Nach S. 53 der „Materialien“ enthält der „Feuerbachische Roman“ zahllose Unrichtigkeiten; nach S. 71 hat F. sogar wissentlich ganz falsche Thatsachen angegeben, hat solche ohne allen realen Anlaß förmlich erdichtet, was doch ganz unglaublich ist; und S. 57 heißt es, er habe die Geschichte nach Art eines Dichters oder Romanschreibers verfälscht, [166] und die Wahrheit auf eine ganz unverzeihliche Weise mit Füßen getreten. Wie soll man sich eine solche Metamorphose, eine solche Undankbarkeit und Gereiztheit erklären?

So lange Feuerbach lebte, hütete sich der Graf, Behauptungen der angegebenen Art auszusprechen; er wartete, bis der treffliche, vielverehrte Mann in's Grab gesunken. Eben so ging er auch nicht eher daran, seinen einst so theueren Adoptivsohn und Liebling zu beschimpfen, als bis derselbe, vom Dolche des Mörders getroffen, in der Erde lag. Es ist recht hübsch, wenn man so gleichsam mit dem Schicksale im Bunde steht und die Menschen, deren Ehre man zu vernichten im Sinne hat, vorher so wegsterben lassen kann.

Stanhope hat sich bemüht, wider Feuerbach's Bericht­erstattung eine Reihe na[h]mhafter Zeugen aufzubringen, deren Aussagen von ihm und Merker nach Kräften ausgebeutet werden. Er beruft sich aber auch häufig auf Personen, die er nicht einmal mit Namen nennt und denen er daher alles Mögliche in den Mund legen kann – eine Art von Beweisführung, die sehr bequem, aber auch vollkommen null und nichtig ist, ja bei Verständigen vielmehr das Gegentheil dessen bewirkt, was sie bezweckt. Um ein Paar Belege zu geben, so heißt es z. B. in Bezug auf den Nürnberger Mordversuch S. 67 der „Materialien“: „Es ist nicht wahr, daß H., weiler sich unwohl fühlte, auf Geheiß seines Erziehers, zu Hause [167] blieb; denn der Spe­cereihändler N. zu Nürnberg erzählte mir“ u. s. w. Wie lächerlich! S. 42 weiß er Etwas durch einen Professor, der ebenfalls ungenannt bleibt. S. 67 hat er eine sonst völlig unbekannte Gaukelei des Findlings von einer gewissen, auch wieder namenlosen Dame erfahren. Zuweilen versichert er, daß die Personen, deren Namen er verschweigt, alles Zutrauen verdienten. So will er ebendaselbst S. 44 etwas zu Hauser's Nachtheil Gereichendes von einem „ganz glaubwürdigen, sehr angesehenen Rathsherrn zu Nürnberg“ vernommen haben. S. 50 hat er eine wichtige Concession, die Feuerbach gemacht haben soll, von einem „ganz glaubwürdigen“ Zeugen erfahren. S. 59 ist ihm eine ganz unglaubliche Thatsache von einem „sehr erfahrenen, ganz glaubwürdigen“ Polizei­beamten berichtet worden, u. s. w.

St. konnte nicht glauben, daß er durch solche Bemühungen und Publikationen etwas Gutes stiften werde und daß es deßhalb seine Pflicht sei, so zu verfahren; denn er sagt in seinen „Materialien“ S. 116: „Hauser's berühmte Geschichte ist unheilbringend für seine Mitmenschen und wird immer Mißtrauen erregen, auch gegen Viele, die unschuldig, wenn auch nicht ganz unverdächtig sind. Eine unbillige Beurtheilung und eine daraus fließende fühllose Behandlung wird nur zu oft das traurige Loos von Menschen sein, die, wenn diese merkwürdige, warnende Geschichte unbekannt geblieben wäre, Nachsicht und [168] Menschenliebe erfahren hätten.“ Da wäre es doch bei Gott verzeihlich, ja eine gute That gewesen, wenn St. seine veränderte Meinung möglichst für sich behalten, nicht aber mit solchem Eifer und Aufsehen zu verkünden und zu verbreiten gesucht hätte.

Schon aus diesen Betrachtungen, glaube ich, wird erhellen, daß hier ein Geheimniß steckt, welches, so viel als möglich, aufzudecken, die dringende Aufgabe Desjenigen ist, der sich mit der Lösung des Hauserischen Problemes befaßt. Es ist das aber noch lange nicht Alles, was ich beizubringen habe. Ich werde im Folgenden einige Thatsachen und Umstände berichten, die dem rätselhaften Wesen des englischen Grafen ein noch pikanteres Ansehen geben.