BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[177]

XIV.

 

Feuerbach soll seine Ansicht geändert haben. Inwiefern und nach welcher Seite hin dies möglich und wahrscheinlich ist. Feuerbach's Verhalten zu Stan­hope, seine gutmüthige Täuschung über diesen Mann und über die durch ihn dem Findling bereitete Zukunft in England. Eben deßhalb, damit H. dorthin nicht komme, mußte er sterben.

 

Stanhope behauptet, auch Feuerbach's Ueberzeugung sei wankend geworden und er habe gesagt: „Vielleicht hat Feuerbach in seinen alten Tagen einen Roman geschrieben.“ Dies habe er, Stanhope, von einem ganz glaubwürdigen Zeugen erfahren. 1)

Solche Zeugen müssen genannt werden, sonst ist die Berufung auf sie gewichtlos, ist um so lächerlicher, wenn man selbst eine so zweifel- und räthselhafte Person, wie Graf Stanhope ist. Gleichwohl schreibt ihm das Herr Eschricht in seinem „Unverstande“ ganz unbe­denklich nach. Hätte dieser Mann nur einen Funken von wirklichem Scharfsinn, so hätte er nicht die sehr einfache und harmlose Rolle des Findlings, sondern [178] die in jeder Beziehung anstößige und bedenk­liche des Grafen seiner Kritik unterworfen.

Daß sich Feuerbach geirrt habe und zwar recht arg, das ist auch meine Meinung; wahrscheinlich hat er seinen Irrthum auch selbst schon allmählig eingesehen, und ist dadurch auf ganz andere Spuren ge­kommen, weßhalb man es denn auch für um so nöthiger gefunden, vor allen Dingen ihn zu beseitigen. Der Gegenstand seiner gutmü­thigen Selbsttäuschung war aber wohl keineswegs der arme Findling Ka­spar Hauser, für den er einen vollkommen klaren und tiefen Blick hatte, sondern der vornehme englische Edelmann, dem man An­fangs ein so allgemeines und unbedingtes Zutrauen schenkte, und der durch sein imponirendes Auftreten, wie alle Anderen, so auch jenen edlen und geistvollen Mann hinterging. Es ist traurig, zu sehen, wie warm und begeistert F. für den großmüthigen Freund und Beschützer des unglücklichen Jünglings schwärmte, dessen Sache und Person ihm so innig am Herzen lag. So spricht er einmal von der „Großmuth des edlen Grafen Stanhope, der denselben in eine bessere Lage gebracht und zu seinem Pflegesohn förmlich angenommen habe. „Er lebt jetzt,“ so fährt er fort, „zu Ansbach, wo er einem tüchtigen Schullehrer über­geben wurde, in dessen häuslicher Pflege er sich zugleich befindet. Später wird er seinem geliebten Pflegevater unter siche­rer Begleitung nach England [179] folgen.“ F. widmete „Seiner Herrlichkeit, dem Herrn Grafen Stanhope, Pair von Groß­britannien etc.“ sogar sein Werk. „Niemand,“ sagt er, „hat nähere Ansprüche auf diese Schrift, als Eure Herrlichkeit, in dessen Person die Vorsehung dem Jüngling ohne Kindheit und Jugend einen väterlichen Freund, einen vielvermögenden Beschützer gesendet hat. Jenseits des Meeres, im schönen Alt-England, haben Sie ihm eine Freistätte bereitet, bis die aufgehende Sonne der Wahrheit die Nacht verdrängt, die über dem geheimnisvollen Schicksale dieses Menschen liegt. Vielleicht, daß den Rest seines zur Hälfte gemordeten Lebens noch Tage erwarten, um deren willen er nicht mehr beklagen wird, das Licht der Welt gesehen zu haben. 2) Eine solche That kann Ihnen nur der Genius der Menschheit vergelten. In der großen Wüste unserer Zeit, wo unter den Gluten eigensüchtiger Leidenschaft die Herzen immer mehr verschrumpfen und verdorren, endlich wieder einem wahren Menschen begegnet zu sein, ist eines der schönsten und unvergeßlichsten Ereignisse meines abendlichen Lebens.“ Ja, eine Stätte war ihm bereitet, dem armen Schlachtopfer ruchloser, mörderischer Ungeheuer; diese Stätte war das Grab, und über diesem, kaum daß er blutend hineingesunken, sollte ihn [180] „sein geliebter Pflegevater“ einen elenden Lügner, Betrüger und Selbstmörder schimpfen. „Das schöne Alt-England,“ sein vermuthliches Vaterland, sollte sein Auge nicht mehr sehen; und um das zu bewirken, sollte sich dieses erst seit wenigen Jahren zum Spiegel der Welt gewordene Auge rasch wieder im Tode schließen.

 

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1) Materialien S. 50.  

2) Anspielung auf Hauser's Wunsch, niemals aus seinem Käfig befreit worden und an's Licht der Oeffentlichkeit getreten zu sein.