BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[281]

V.

Zur Widerlegung der Behauptung,

daß Hauser betrogen habe.

 

Ich finde in meinen Papieren einige Aeußerungen des ehemaligen Gefängnißwärters Hiltel in Nürnberg bewahrt. Die Berichte und Zeug­nisse dieses Mannes sind in der Hauserischen Sache von der größten Wichtigkeit und müssen bei der anerkannten Klugheit, Erfah­renheit und Biederkeit desselben für entscheidend gelten. Seine Bemerkungen sind auch wohl in allgemeiner Beziehung merkwürdig genug, um der öffentlichen Bekanntmachung werth zu sein.

Hiltel sagte mir: er habe von früher Jugend an mit Behandlung der abgefeimtesten und verstocktesten Spitzbuben [282] und Bösewichter zu thun gehabt, und ihre Entlarvung sei ihm so oft gelungen, daß er hinlängliche Uebung und Erfahrung besessen, als ihm Hauser zur Behandlung überliefert worden sei. Er habe sich bei diesem alle nur ersinnliche Mühe gegeben, den vermutheten Betrug zu entdecken, habe ihn auf alle Weise und bei allen Gelegenheiten bei Tag und bei Nacht beobachtet und überrascht und nichts Falsches und Trügliches an ihm entdeckt. Sein Betragen habe nie die mindeste Ungleichheit gezeigt; es sei von all dem, wodurch sich Verstellung zu verrathen pflegt, besonders bei heimlicher Beobachtung, wo solche Menschen ihr natürliches Wesen anzunehmen, auch wohl mit sich selbst zu reden und dadurch ihr Inneres zu offenbaren pflegen, gar Nichts zu finden gewesen. Betrüger, die in Untersuchung sind, seien immer in unruhigem Nachsinnen begriffen und hätten keinen festen Schlaf, zumal in der Nacht; sie schliefen eher bei Tag und wachten, ihren Gedanken nachhängend, bei Nacht; auch pflegten sie im Schlafe zu reden. H. sei zur Nachtzeit immer im tiefsten Schlafe befunden worden, und habe, selbst wenn er aus diesem gewaltsam aufgerüttelt worden, weder durch Wort, noch Benehmen irgend einen Anlaß zum Verdachte gegeben, wiewohl in solchen Fällen die Besonnenheit fehle und Verstellung am leichtesten wahrgenommen werde. Hauptsächlich gelte dies in Beziehung auf Hauser's Sprachfähigkeit. Derselbe sei von ihm [283] häufig durch Fragen überrascht worden, habe jedoch in den ersten Zeiten stets den größten Sprachmangel geoffenbart. Die verschiedensten Gegenstände wurden von ihm mit dem einfachen Ausdrucke Roß belegt. Hiltel erzählte mir dabei einen Fall, wo ein durchtriebener Spitzbube Stummheit geheuchelt und die Zunge so wundersam zu verbergen gewußt, daß kaum Etwas davon bemerklich war. Der damalige Polizeidirektor Wurm habe geglaubt, der Mensch sei wirklich sprachlos. Hiltel aber habe sich's nicht nehmen lassen, daß er reden könne, und ihn einst belauscht, wie er in der Nacht mit sich selber sprach, worauf man ihn durch einige Hiebe zum Sprechen brachte. Bei Hauser habe Alles Nichts geholfen, weder Güte noch Gewalt, noch List. Dr. Preu habe ihn Anfangs steif und fest für einen Betrüger gehalten und Hilteln ermuntert, nur den gehörigen Beistand zu leisten, so getraue er sich schon, den Menschen zu entlarven. Es sei ihm aber nicht gelungen. Hiltel bediente sich, um Hausern beizukommen, auch eines Mitgefangenen desselben. Aber auch das schlug fehl. Der Mitgefangene erklärte den jungen Menschen für einen „Ochsen“, machte sich's dabei wohl zu Nutze, daß H. jede andere Nahrung, als Wasser und Brod verschmähte, und aß das für diesen bestimmte Fleisch nebst Nudeln auf. Weiter erzählte mir Hiltel; wie Dr. Preu Hausern animalische Kost mit Gewalt in den Mund bringen wollte, wegen der erschreckenden Erscheinungen [284] aber, die dabei hervortraten, davon abstehen mußte. H. sei Anfangs Nichts weiter, als ein Kind gewesen, ja noch weniger, als ein Kind. Eine solche Erscheinung aber darzustellen, das gehe über menschliche Kräfte. Hauser's Unschuld sei ihm so gewiß, daß er sie würde bezeugen müssen, wenn Gott selbst das Gegentheil behauptete. Als der Mann so sprach, ward er vor Eifer ganz roth im Gesichte. Er setzte hinzu: wer Hausern erst in späteren Zeiten kennen gelernt, da er schon „cultivirt“ war, der könne sich leicht einbilden, daß derselbe einen Betrug gespielt; wer ihn aber in jener ersten Periode gesehen und beobachtet, sei nothwendig vom Gegentheil überzeugt. 1) Wenn von Merker's Opposition die Rede war, so sagte Hiltel, der Herr Polizeirath solle einmal die Probe machen, und als verstellter Spitzbube zu ihm kommen; er stehe dafür, daß er ihn zum Geständniß bringen werde.

Hieran mag sich ein kurzer Auszug aus den ärztlichen Berichten und Gutachten schließen, die in Hitzig's Annalen Bd. IX. S. 416 ff. abgedruckt sind. Die Männer, die hier zu Gunsten der Hause­rischen Sache sprechen, sind Dr. Osterhausen, ein gelehrter, zu seiner Zeit sehr angesehener und beschäftigter alläopathischer Arzt, und der geistsprühende, vielseitig gebildete Dr. Preu, königl. baierischer [285] Stadtgerichtsarzt, der sich zur Homöopathie gewendet hatte. Der letztere hatte, wie wir so eben gehört haben, Hausern im Anfange für einen Betrüger gehalten und sich fest vorgesetzt, ihn zu entlarven, sich dann aber genöthigt gesehen, sein Urtheil gänzlich umzuändern. Befan­gen und leichtgläubig war also dieser Mann nicht; Osterhausen war noch weit ernster nnd nüchterner und zu keiner Art von Schwär­merei und Mystik geneigt. Von Beiden war H. gerichtlich untersucht und zu verschiedenen Zeiten ärztlich beaufsichtigt und behandelt worden.

Osterhausen kommt in seiner Abhandlung zu folgenden Ergeb­nissen.

1) H. hat die erste Zeit seines Lebens ohne Zweifel unter Menschen zugebracht und auch eine Erziehung genossen.

2) Er mag zur Zeit seiner Einkerkerung 3 – 4 Jahre alt gewesen sein.

3) Sein Kerker war dunkel und wahrscheinlich unter der Erde gelegen, wobei namentlich Hauser's anfängliche „Tagesblindheit“ geltend gemacht wird.

4) Er kam aus seinem Kerker als ein dem Wuchs und Ansehen nach 16 – 17 jähriger Jüngling, übrigens aber als ein verwahrlostes, zum Selbstbewußtsein noch nicht erwachtes Kind heraus.

5) Es hat ein langes, beständiges Sitzen auf dem Boden Statt gefunden, wie die Abnormitäten und Sonderbarkeiten [286] beweisen, die in Hinsicht der Bildung seines Kniees und seiner Art zu sitzen bemerklich, und von denen eine ausführliche, genaue Beschreibung gegeben wird.

Dr. Preu stellt folgende Sätze auf.

1) H. ist ohngefähr 18 Jahre alt.

2) Er hat seinen Körper wenig oder gar nicht geübt, am wenigsten hat er seine Füße zum Stehen und Gehen gebraucht.

3) Er hat sehr viel und lang in der nehmlichen Richtung des Körpers auf flachem Boden gesessen, wobei die nehmlichen ganz besonderen und sonst nicht vorkommenden physischen Erscheinungen angegeben und geltend gemacht werden, wie in Osterhausen's Bericht. 2)

4) Er hat lange Zeit des Einflusses des Tageslichts auf seine Augen entbehrt.

5) Er ist viele Jahre hindurch von aller menschlichen Gesellschaft entfernt und der gewöhnlichen Lebensweise [287] anderer Menschen und ihrer Art, sich zu nähren, fremd geblieben.

6) Er hat lange Zeit seine geistigen Kräfte gar nicht geübt.

Allgemeine Schlußfolge: H. ist wirklich von früher Kindheit an der menschlichen Gesellschaft entfremdet und an einem dem Tageslicht unzugänglichen Orte gehalten worden, bis er mit einem Male, wie aus den Wolken gefallen, unter den Menschen erschien.

Dr. Preu fügt hinzu, daß sich sein Gutachten auf constatirte Er­fahrungssätze aus dem Gebiete der Natur- und Arzeneiwissenschaft gründe.

Freiherr v. Tucher, Hauser's Vormund, dem dies Gutachten zur Einsicht vorgelegt wurde, sagte aus: „Ich kann alle Beobachtungen des Gerichtsarztes Dr. Preu in ihrem ganzen Umfange nur bestä­tigen.“ 3) Tucher war weit entfernt, in H. blind verliebt zu sein; er war vielmehr derjenige, der am meisten in dieser Angelegenheit auf Vernunft und Strenge drang und deßhalb insbesondere mit Stanhope in einen großen Streit gerieth.

Ich erlaube mir nun eine in diesen Zusammenhang gehörige Stelle aus meinen „Mittheilungen“ einzureihen, die also lautet: „Will man auch der aus Hauser's Munde aufgenommenen Beschreibung seiner Empfindungen mißtrauen, so wird man doch damit Berichte von [288] Beobachungen verbunden finden, die auf keinem Betruge beruhen können. Wenn H. behauptete, er habe auf einen eingesogenen Duft, bei Einwirkung eines Minerals, lebendigen Wesens u. s. w. dieses und jenes empfunden, so ist man nicht genöthigt, ihm durchweg Glauben beizumessen, auch wenn man ihn nicht überhaupt für einen Betrüger hält. Denn nicht nur konnte er Selbsttäuschungen unterliegen, sondern es konnte ihn auch eine durch die Umstände leicht zu entwickelnde Eitelkeit bestimmen, das Wunderbare seiner Erscheinung durch Zusatz von Erdichtungen zu erhöhen. Wenn er aber bei Einwirkungen jener Art nicht allein häufig in convulsivische Bewegungen gerieth, sondern auch z. B. die Gesichtsfarbe wechselte, am ganzen Leibe gelb wurde, wenn plötzlicher Schweiß auf die Stirne trat, die Augen thränten und Entzündung kund gaben, die Adern, die Glieder schwollen, die der Wirkung ausgesetzten Finger der Hand kalt wurden, ein solcher Finger, während die übrige Hand schwitzte, sich trocken-kalt anfühlte, Nasenbluten, Erbrechen, schnelle Abmagerung eintrat u. s. f. – so wird Niemand behaupten wollen, daß es in Hauser's Macht gestanden, solche Erscheinungen, um seine Umgebungen zu täuschen, durch bloßen Willen hervorzubringen. Betrügerisch dargestellt können doch wohl nur solche Krankheitserscheinungen werden, deren Nachahmung darauf beruht, den Körper und die Glieder in eine gewisse Art äußerer Bewegung oder Bewegungslosigkeit, [289] Richtung und Lage zu bringen, wie Ohnmacht, Starrheit, Lähmung, Steifheit, Zittern, Zucken, Schaudern u. dergl., nicht aber solche, die, wie die obengenannten, eine von der Willkühr nicht hervorzubringende innere Veränderung im Organismus nothwendig voraussetzen. Es ist zwar auch möglich, zum Behuf eines Betruges, mit Hilfe arzeneilicher Substanzen wirkliche Krankheitszustände hervorzubringen; daß aber H. Jahre lang mit größter Consequenz, plötzlich, so wie es die Umstände erfoderten, vor Beobachtern der verschiedensten Art, in jeder Umgebung und jedem Verhältniß dergleichen Zustände künstlich in sich habe erregen können, wäre unsinnig zu glauben. Ich habe an H. während jahrelangen beständigen Umganges, Erscheinungen, wie die obengenannten bei den entsprechenden Gelegenheiten im Hause und im Freien fortwährend beobachtet. Wenn man sich auch nur an diese hält, so wird man die Ueberzeugung nicht abwehren können, daß man hier einen Menschen von ganz außerordentlicher Beschaffenheit vor sich habe. Wenn nun durch die begleitenden, von Andern wahrnehmbaren und keinem Verdacht unterworfenen Erscheinungen Hauser's Aussagen über seine Zustände und Empfindungen nicht wenig unterstützt werden, so sind sie auch häufig von der Art, daß man sie ohne Voraussetzung der größten wissenschaftlichen Kenntnisse und tiefsten Einsichten in die Natur nicht für erdichtet halten kann. Solche Kenntnisse und Einsichten [290] wird man bei H. nicht annehmen wollen, also kann man die Aussagen der angegebenen Art auch nicht für bloße Erdichtungen halten. Und so bleibt, wenn man Verdacht und Unglauben auch möglichst weit treiben will, genug übrig, was als ein sicheres Besitzthum der Wissenschaft zu betrachten ist. Zu dem Beweis, der aus den beobachteten physischen Erscheinungen geführt werden kann, tritt der psychologische aus Hauser's hier treulich geschildertem Benehmen in der ersten Zeit und den hier mitgetheilten eigenen Darstellungen desselben u. s. w.“ Das Nähere findet sich in jeder dieser Beziehungen in der genannten Schrift.

Es stand ferner in dem von Fr. Gleich in Leipzig herausgegebenen „Eremiten“ ein mit C. H. Krug unterzeichneter Aufsatz gegen Merker, den Hitzig als sehr verständig bezeichnet und wovon er in seinen Annalen Bd. IX. Berlin 1831 S. 411 ff. einen Auszug giebt. Es heißt darin: „Wenn H. betrügt, so muß er ein höchst raffinirter und ausstudirter Betrüger sein, der sich und Andere auf's Genaueste kennt und sich innerlich und äußerlich ganz in der Gewalt hat. Eine solche Rolle erfordert die Kunst, bei hoher innerer Ausbildung in einem Moment alle Bildung von sich zu werfen, einen Menschen ohne Kenntnisse, Cultur und Bekanntschaft mit der Welt dem Körper und dem Geiste nach naturgetreu darzustellen, sich in Wesen und Geschichte eines solchen Menschen ganz [291] hineinzudenken, nie von diesem Gedanken und Plane abzuweichen und so Jahre lang den langsamen, genetischen Gang eines Individuums darzustellen, welches zu dem inneren und äußeren Leben, das in dem betrügenden Subjekte schon vorher entfaltet und zu gewohnter Manifestation gekommen, erst Schritt für Schritt zu erwachen hat. Welche unausführbar große Idee hätte dieser Mensch gefaßt, ja hätte sie wirklich ausgeführt, ohne sich ein einziges Mal zu verrathen oder aus seiner unendlich schweren Rolle zu fallen; hätte seinen Körper sogar zu Krankheiten genöthigt, ohne daß es die Aerzte erkannt! Zwar giebt uns Herr Merker Beispiele von unglaublichen Betrügereien. Doch überall galt es nur, entweder einen physischen Schmerz in scheinbarer Apathie auszuhalten oder einen Stand, den man täglich beobachten kann, so leidlich zu repräsentiren, daß das verbrecherische Subjekt erst nach einiger Zeit entlarvt wurde. Allein die schwierigste aller Aufgaben so genügend zu lösen, daß es Jahre lang, bevor H. Merker auftrat, zu keiner Entdeckung kam, würde wohl keinem der angeführten Verbrecher und Betrüger gelungen sein. H. mußte vor allen Dingen wissen, wie ein Mensch, der nicht Kind ist und doch noch auf der Stufe der Kindheit steht, sich naturgemäß beträgt. Er mußte sich das Erwachen längst unterdrückter Fähigkeiten und Kenntnisse im Gegensatze und Verhältnisse zum gewöhnlichen Gange der Menschenentwicklung zur genauen Vorstellung [292] gebracht haben, um so zu erscheinen, wie er wirklich erscheint; er mußte auch noch dazu Nürnberg, den Rittmeister, die Gesinnungen der Bürger erforscht haben, um, die größte aller Betrügereien im Herzen, sich selbst in ihre hülfreichen Hände zu liefern. Er mußte sprachliche Kenntnisse besitzen, um, wie aus den rührenden Erzählungen des Herrn v. Pirch hervorgeht, das Dämmern früher Erinnerungen aus der Kindheit blicken zu lassen. Er mußte das Alles inne haben, und doch nie verrathen, daß er solche Kenntnisse besitze. In der That, wenn H. ein Betrüger ist, so müssen wir Alle vor dem Knaben unsere Knie beugen, der nicht nur eine kleine Probe seiner Fertigkeit in Grimmassen abgelegt, sondern zugleich zu unserer Aller Beschämung das größte psychologische Meisterstück in so gelungener Ausführung zu Stande gebracht hätte.“

Es werden in diesem trefflichen Aufsatze auch andere Punkte berührt, wie folgende.

„Wenn H. betrog, so mußte er den Betrug lange und gründlich studirt und deshalb auch unter Menschen gelebt haben, da man den Betrug mit der dazu nöthigen Kenntniß der Menschen und Dinge nicht in der Einsamkeit lernt. Er mußte sich in Deutschland oder den angrenzenden Ländern herumgetrieben haben. Dann aber wäre es ein Wunder gewesen, wenn nicht ein Einziger von den Hunderten aus allen Theilen des gebildeten Europa, die ihn [293] besuchten und sprachen, unter den Tausenden, die seine Geschichte kennen, sich seiner aus früherer Begegnung und Bekanntschaft erinnert und uns einigen Aufschluß über ihn hätte geben können. Es hätte ja doch wohl Einer oder der Andere dieses Gesicht wiedererkannt; die Physionomie (sic) eines abgefeimten Burschen und Bösewichtes, wie H. sein mußte, würde doch wohl einem Richter, einem Polizeidirektor, einem der übrigen Fremden, die den Findling aufmerksam betrachteten, aufgefallen sein und aufklärende Untersuchungen veranlaßt haben.“

Ein eifriger Vertreter der Unschuld Hauser's war auch sein Re­ligionslehrer und Beichtvater in Ansbach, der Pfarrer Fuhrmann, von dem eine bei Hauser's Bestattung gehaltene Grabrede und eine Schrift über denselben existirt, die ihn in den letzten Zeiten seines Lebens und im Sterben schildert. 4) Fuhrmann lernte ihn zu einer Zeit kennen, in welcher sich dem Beobachter die Wahrhaftigkeit seiner Erscheinung und Geschichte nicht mehr so sprechend und unzweifelhaft aufdrang, wie in früherer Zeit, wo man nach Hiltels Bemerkung unmöglich an ihm zweifeln konnte. Wenn nun dieser Mann sich dennoch so warm für ihn interessirte und so fest überzeugt [294] war, daß er kein Betrüger gewesen und sich nicht selbst verwundet habe, so ist dies um so merkwürdiger.

„Daß uns H. getäuscht habe,“ sagt F. im Eingange seiner Dar­stellung, „werde ich nach meinen Beobachtungen niemals glauben, es müßte mir denn mit mathematischer Gewißheit dargethan werden. Hätte er uns, die wir in ihm mit regem Bedauern einen Unglücklichen erblickten, der nach langer unverschuldeter Gefangenschaft liebender Sorgfalt und Pflege für seinen Körper, Bildung für seinen Geist, Erheiterung und Aussöhnung mit Leben und Menschheit bedurfte, in der That getäuscht, so müßten wir arge Trugschlüsse gemacht haben, und die Menschen künftig nach einem ganz anderen Maßstabe messen, als bisher. Haben aber diejenigen, die noch immer irre sind an ihm, die sogar die am 14. des Monates an ihm verübte schauderhafte That auf seine eigene Rechnung schreiben, in ihrem Urtheile fehlgegriffen, dann ist uns eine milde und liebevolle Beurtheilung unserer Nebenmenschen mit stärkerer Sprache gepredigt, als auf allen Kanzeln der Welt.“

Daß H. wenigstens nicht schon von vorn herein ein Betrüger ge­wesen, wird nun im Interesse seiner Theorie auch von Herrn Eschricht behauptet. „Daß Alles das,“ sagt er nach Schilderung von Hauser's kindlichem Betragen, „Verstellung, Maske, eine angenom­mene Rolle gewesen, ist undenkbar. Wohl kann ein Knabe von [295] 16 Jahren schon manche Rolle spielen. Man hat gesehen, wie sich Kinder taubstumm, hinkend, lahm, epileptisch, wahnsinnig und blödsinnig stellten, wie sie Jahre lang ihre betrügerische Rolle spielten und die tüchtigsten Aerzte und Polizeimeister täuschten. Aber keine Rolle ist schwerer zu spielen, als diejenige kindlicher Unschuld. Diese Rolle spielt Niemand, wäre er auch noch so schlau und noch so geübt in der Verstellungskunst; wenigstens hält es Niemand aus, sie zu spielen in Einsamkeit und Gesellschaft, in Schmerz und Frende, in den frühen Morgenstunden und beim Herannahen des Schlafes. In dieser Rolle täuscht Niemand einen erfahrenen Gefangenwärter, seine Frau und seine Kinder. Was H. zu sein schien, war er wirklich: ein kleines Kind in einem 16–17 jährigen Leib.“

Hier ist die idiotische Hypothese in bedeutendem Vortheil gegen die Spitzbubentheorie, die schon von vorn herein gegen die einfache, evidente Natur der Thatsachen und Phänomene mit ungeheurer Gewaltsamkeit zu Werke gehen muß. Doch bleibt diese durchweg sich selber gleich und sucht nicht ganz heterogene Naturen, Zustände, Erscheinungsweisen und Rollen zu vereinigen. Als ein bereits geübter und gewandter Gaukler und Betrüger auf den Schauplatz tretend, verwundet H. zum Behufe einer schlau berechneten Mystifikation zweimal sich selbst, das Zweitemal unabsichtlich so stark, daß er an der Wunde sterben muß. Auch dazu gehört ein guter Glaube; [296] es ist eine Monstrosität, zu deren Behauptung einen sonst nicht unklugen Menschen nur der Eigensinn der Rechthaberei, oder, wie höchst wahrscheinlich bei Stanhope, eine geheime Absicht zu treiben vermag. Wenn aber ein anfänglicher Idiot, stumpf und schwachsinnig und nur durch seinen sonderbaren Eintritt in die Welt ein wenig aus seiner Dumpfheit aufgeschüttelt, solche Streiche gemacht haben soll, so kommt zu dieser Monstrosität noch überdies ein Widerspruch, ein Contrast, eine Inconsequenz, durch welche ein nicht weiter zu überbietender Gipfel des Unsinns und Aberwitzes erstiegen wird. Da, wo nach dieser Hypothese der Betrug angehen soll, ist daher die Spitzbubentheorie im Vortheil, die ihn nur fortsetzt und steigert, nicht aber aus seinem direktesten Gegenstande herauszaubert und in der kürzesten Zeit bis zu derselben Höhe riesenhaft anwachsen läßt. Ohne Unnatur und Unsinn ist nur eine Annahme, die, welche durch einen so seichten und schlechten Hypothesenkram gleichwohl mit aller Gewalt verdrängt werden soll.

 

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1) Das gilt auch noch von der Zeit, wo er sich unter meinen Augen entwickelte. 

2) Osterhausen giebt unter Anderem Folgendes an: „Wenn H. mit aus­gestrecktem Ober- und Unterschenkel in horizontaler Lage auf dem Boden sitzt, so bildet der Rücken mit der Beugung des Oberschenkels einen rechten Winkel, und das Kniegelenk liegt in gerader Streckung so fest auf dem Boden auf, daß am Knie­bug nicht die geringste Höhlung zu bemerken und kaum ein Kartenblatt unter die Kniekehle zu schieben ist.“ Eben so Preu: „Wenn er sich auf die platte Erde setzt, so liegen die Füße in der Kniekehlengegend so scharf auf, daß auch nicht ein Blättchen Papier durchgeschoben werden kann, während man bei anderen Menschen füglich eine geballte Faust durchbringt“ u. s. w. 

3) Hitzig's Annalen IX. S. 440. 

4) Kaspar Hauser, beobachtet und dargestellt in der letzten Zeit seines Lebens von seinem Religionslehrer und Beichtvater. Ansbach 1834. Die Grabrede ist angehängt, auch besonders gedruckt.