BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

______________________________________________________________________________

 

 

[309]

VII.

Dr. Heidenreich's Abhandlung

über Hauser's Verwundung, Krankheit

und Leichenöffnung.

Auszug und Bemerkungen.

 

Diese medicinisch und physiologisch so wichtige Abhandlung erschien im XXI. Bande von Gräfe's und Walther's Journal für Chirurgie und Augenheilkunde und daraus besonders abgedruckt, Berlin bei Reimer 1834. Der letztere Abdruck liegt vor mir; er ist durch sinnverderbende Druckfehler entstellt, die aber in meinem Exemplare berichtigt sind, und zwar, soviel ich mich erinnere, durch den Verfasser selbst, von welchem dasselbe zunächst an L. Feuerbach und dann an mich gekommen ist. [310]

Heidenreich hat nicht den Muth gehabt, eine bestimmte Mei­nung zu vertreten und ein entscheidendes Urtheil zu fällen. Er giebt sich im Ganzen den Anschein eines unparteischen, sich auf keine der beiden Seiten stellenden, Alles unentschieden lassenden Berichterstatters und Betrachters; er giebt eben so wohl an, was für, als was gegen die Annahme einer Selbstverwundung und eines Selbstmordes spricht, unterstützt aber die eine solche Vorstellung abweisende, auf eine durch fremde Hand verübte Mordthat schließende Auffassungsweise mit so überwiegend starken Beweisgründen und theilt überdies so gewichtvoll bestätigende physiologische Thatsachen in Beziehung auf Hauser's lange Einkerkerung mit, daß seine eigene feste Meinung und Ueberzeugung, die theilweise sogar zu formellem Ausspruche kommt, gleichwohl nicht zweifelhaft ist und seine Schrift ein offenbar doch nur bejahendes Verhältniß zur gläubig aufgefaßten Hauserischen Sache hat.

„Merkwürdig ist dieser Mensch geworden,“ heißt es im Eingange S. 3, „und wenn auch unbedeutend seiner Persönlichkeit nach, so läßt doch die Seltsamkeit seines Erscheinens und Verschwindens im Leben furchtbare Verbrechen an Leib und Seele ahnen, und reißt unwill­kührlich zur Theilnahme an einem Individuum hin, welches den schauderhaftesten Ereignissen zum Spiele geworden.“

Auch Hauser's Persönlichkeit erschien so unbedeutend [311] nicht, wenn man ihn so genau und vollständig kannte, wie ich.

Erst kam, wie hier angegeben wird, Dr. Heidenreich zu dem Verletzten und untersuchte die Wunde desselben. Dann erschien der Landgerichtsrath, der Hauser's früherer und bisheriger Arzt in Ansbach gewesen; hierauf fand sich eine Commission des Stadtgerichtes ein und der Stadtgerichtsarzt übernahm Hauser's Behandlung von Amtswegen. Heidenreich sah nun den Kranken dreimal 24 Stun­den lang nicht mehr. Am 17. Decbr. Abends gegen 7 Uhr wurde er wieder eiligst gerufen; er fand einen Sterbenden, der es auch wußte, daß er sterben müsse. Um 10 Uhr, 78 Stunden nach der Verletzung, erfolgte ein sanfter und stiller Tod. S. 4 ff.

Heidenreich berührt und bezeugt die feindselige Ansicht, die sich gegen den Unglücklichen geltend gemacht hat; er setzt hinzu, daß er den Grund derselben nicht kenne, noch einsehe. „In den ersten Tagen nach der Verwundung war die Stimmung des Publikums sehr gegen ihn, indem man ihm entweder einen wirklichen Selbstmord zutraute, oder es noch wahrscheinlicher fand, daß er Betrug und Täuschung übe, um durch einen neuen angeblichen Mordversuch irgend eine Absicht zu erreichen. Ob und welche mehr oder minder gegründete Ursachen zu einem solchen Verdachte vorhanden waren, ist mir unbekannt. Ich hörte seit einem zweijährigen Aufenthalte Hauser's allhier, [312] nicht das Mindeste, was zu einer solchen Voraussetzung Anlaß zu geben oder die Meinung zu rechtfertigen vermöchte, daß man sich des Einen oder des Andern von ihm versehen könne.“ S. 14.

Mir ist die Sache kein Räthsel. Man hatte gut vorgearbeitet. Ich glaube die Leute zu kennen, die sich ein Geschäft daraus machten, Hausern schon vor seinem Tode möglichst zu verdächtigen und in bösen Ruf zu bringen, damit man nachher um so leichter Glauben und Anhang finde, wenn man behauptete, er habe sich selbst verwundet.

Gerade diese Stimmung des Publikums, dieser von den Schuldigen so erfolgreich ausgesäete Unglaube und Argwohn aber, der selbst in Hauser's nächster Umgebung obwaltete, ist, wie mir scheint, ein ganz entscheidender Beweis, daß H. nicht, um zu täuschen, sich selbst verletzt. Stanhope S. 104 seiner „Materialien“ sagt: „H. wußte, daß ihn sehr viele Personen nicht für glaubwürdig hielten.“ Welche Behandlung H. auf Stanhope's Anstiften durch Hickel erfuhr, ist oben Cap. XV. dargelegt worden; daß selbst der Lehrer Meyer glaubte, der Verwundete verstelle sich nur, ist bei Heidenreich S. 13 zu lesen, und wie Bürgermeister Binder die Umgebungen des Sterbenden zur Menschlichkeit ermahnen mußte, ist oben Cap. VII. erzählt. Wie konnte H., nachdem sich so feindselige Ansichten und Verhältnisse gestaltet, darauf rechnen, den ihm [313] nöthigen Glauben zu finden und seine Lage zu verbessern, wenn er gauklerisch sich selbst verletzte und einen an ihm begangenen Mordversuch vorgab? So dumm war er nicht, um in dem Grade unbesonnen und unzweckmäßig zu Werke zu gehen. Es bliebe daher dem Unglauben nur die Meinung übrig, er habe sich ernstlich treffen und tödten wollen. In diesem Falle hätte er gewiß keine romanhaften Märchen mehr ersonnen und vorgebracht; er hätte sich auch wohl nicht außer dem Hause, im Schloßgarten, sondern still und einsam in seinem Gemach und bei verschlossenen Thüren, wie die bekannte Charlotte Stieglitz, den Dolch in die Brust gebohrt. Der Tod ist kein Scherz und der Selbstmord kein Narrenspiel, und wer einer beliebigen Hypothese zu Liebe annimmt, man könne sich eine solche Wunde geben, in Folge dessen langsam und elend dahinsterben und dabei noch eine so bubenhafte Komödie spielen, der hat sich alles Menschenverstandes beraubt.

„Wollten wir die Sache moralisch fassen,“ sagt Heidenreich S. 28 f., „so läßt sich fragen, wie sollte der lebenslustige Hauser, der, wie er selbst sagte, so kurz erst zu leben angefangen, der, wenn ich nicht irre, erst wenige Tage vor seiner Verwundung geäußert hatte, er möge wohl gerne Offizier werden, wenn es nur keinen Krieg gebe und wenn er nicht verwundet oder gar todtgeschossen würde; wie sollte der selbstgefällige, gutmüthige, tändelnde, [314] feigherzige Hauser zum ernstlichen Entschlusse des Selbstmords kommen und zu einem so gewaltigen Streiche gegen sich selbst ausholen, er, den ein Federmesser, den eine Toilettenscheere in Mädchenhand zu erschrecken vermochte! Nach tiefem Gefühle und Ausspruche der Allermeisten, die Hauser früher und näher kannten, ist ein Selbstmord mit dem Charakter dieses Menschen vollkommen unverträglich.“

„Angenommen aber auch, er habe täuschen wollen, um sich durch einen scheinbar erneuten Mordversuch auf sein Leben in erhöhetem Grade die Gunst seiner Gönner, das Interesse des Publikums, die Zuneigung des schönen Geschlechtes zu erwerben, und es sei der Versuch nur etwas zu übel abgelaufen, so läßt sich hierauf mit Recht entgegnen: wer durch Betrug und Täuschung sein Dasein verbessern will, ergreift wahrlich nicht die Maßregeln, um es ganz zu vernichten, und daß man so etwas zum Spaße treibe, möge mir Niemand ein­wenden.“

„Sanft und ruhig, ohne Feindschaft oder Haß ist Hauser gestor­ben. Unter seine letzten Worte gehörte: „„Warum sollte ich Zorn oder Groll hegen, da mir Niemand etwas gethan hat.“„ Auch dieses hat man auf Selbstmord gedeutet.“

Ueber den letzteren Punkt erklärt sich Pfarrer Fuhrmann in seiner Schrift mit Zurückweisung jener feindseligen Ausdeutung und mit voller Ueberzeugung von [315] Hauser's Unschuld und Harm­losigkeit. Man muß den ganzen Zusammenhang der Unterredung in's Auge fassen. H. hatte offenbar nur diejenigen im Sinne, mit denen er umgegangen war. Aber auch diese hatten ihm genug zu Leide gethan, er hatte nur zu viel Ursache zu Zorn und Groll, und nur seine himmlische Milde und Güte machte, daß er sich sterbend nur des Guten, nicht des Bösen erinnerte, was ihm wiederfahren war. Blos als Hickel, der ihn so schmählich behandelt hatte, an sein Bette trat und ihm noch einen Abschiedsgruß an den Grafen, seinen fürchterlichen Beschützer, abpressen wollte, scheint er momentan in eine heftige Aufregung gerathen zu sein.

„Vergleicht man nun noch,“ so fährt Heidenreich fort, „die Be­obachtung unseres hiesigen Stadtgerichts-Arztes, daß alle von fremder Hand Verwundete ängstlich über ihre Verletzung sind und Besorgniß über ihr Schicksal äußern, Selbstmörder dagegen sich nicht um ihre Wunden kümmern, gleichgültig bleiben und ihren Zustand kaum einer Frage würdigen, wie Letzteres von Hauser geschah, so gewinnt die Ansicht für den Selbstmord wieder mehr Wahrscheinlichkeit, wenn man Erfahrungen des gewöhnlichen Lebens auf diesen außerordentlichen Fall in Anwendung bringen darf, und der Widersprüche ist kein Ende.“

Diesem Verdachtsgrunde stehen die Thatsachen entgegen. H. war nicht gleichgültig über sein Schicksal; aber er fühlte und wußte, daß er sterben müsse; e[r] äußerte sich [316] mehrfach darüber nicht ohne Furcht und Gram; es war ihm vorzüglich das schrecklich, daß er so verkannt und verläumdet dahinscheiden müsse. Er starb mit einem Worte nicht, wie Selbstmörder, sondern wie Gemordete zu sterben pflegen; das geht aus den ganz sichern Nachrichten, die mir geworden sind, sonnenklar hervor.

Was die Beschaffenheit der Wunde und die daraus zu schöpfenden Ansichten von dem Acte und Ursprunge der Verwundung betrifft, so theile ich aus Heidenreich's Schrift S. 26 ff. auszüglich Folgendes mit.

Den Körper in aufrechter Stellung betrachtet, verlief der Wundkanal in dreifach schiefer Richtung 1) von oben nach unten, 2) von links nach rechts, 3) von vorne nach hinten. Ueber die Stellung, in welcher die Verletzung beigebracht wurde, war kein Zweifel; der Streich war in einer etwas nach vorwärts gebeugten Stellung geführt. „Versucht man es nun an sich selbst, mit einer und der andern Hand, die man auf die Stelle der äußern Wunde auffallen läßt, die Richtung des Wundkanales einzuhalten, so ist solche kaum zu treffen, und fast jedesmal wird in diesem Falle die Richtung des Instrumentes einen stumpferen Winkel mit der Scheitellinie des Körpers bilden, d. h. in mehr horizontaler Richtung von vorn nach hinten treffen.“

„Dagegen ist diese Richtung von fremder Hand sehr leicht einzu­halten, und dies ist viel leichter erklärbar, wenn [317] man annimmt, daß ein vor Hauser stehender Mann ihm diese Verletzung beigebracht habe.“

„Es wird ferner der Selbstmörder in der angegebenen Stellung kaum die Kraft haben, einen solchen gleichförmigen Stoß durch den wattirten Rock, das Kittelchen, die Weste und das Hemd noch vier bis fünftehalb Zoll tief in Brust und Unterleib zu treiben.“

„Daß aber dieser Stoß in einem einzigen kräftigen Zuge geführt worden sei, geht aus der Richtung und Gleichförmigkeit der Wunde genugsam hervor.“

„Auch dieses spricht also gegen den Selbstmord und für Verletzung durch fremde Hand.“

„Noch ein Fall wäre denkbar, daß Hauser das Instrument mit der linken Hand angesetzt und gehalten, mit der rechten aber, oder gar mittelst eines in derselben geführten Körpers aufgeschlagen, und auf diese Weise das Messer hineingetrieben habe.“

„Auf solche Weise hätte er zwar leicht die Richtung der Wunde, keineswegs aber deren Gleichförmigkeit bewirken können, indem nur eine sehr bedeutende Gewalt, die kaum anzunehmen ist, das Instrument so tief führen konnte, und da er außerdem bei Schmerzgefühl gezuckt haben müßte, wodurch die Wunde ungleichförmig geworden wäre.“

Nun hat man zwar, um die Annahme einer Selbstverletzung zu erleichtern, angeführt, daß H. in der linken [318] Hand mehr Kraft und Geschicklichkeit gehabt, als in der rechten. Mir ist von diesem Umstande Nichts bewußt. H. verrichtete, so viel ich weiß, Alles so, wie Andere zu thun gewohnt. Weiter fragt Heidenreich: „Woher sollte der so genau beobachtete H. das Mordwerkzeug erhalten haben, zumal, da es kein Instrument des gewöhnlichen Lebens, nicht einmal ein gewöhnlicher Dolch gewesen sein soll. Nun bedarf es zwar hiezu keines Banditenmessers, indem ein sogenannter Niederländer Dolch vollkommen geeignet ist, eine solche Wunde zu bewirken. Wie aber hätte sich H. diesen verschaffen sollen, ohne daß es hätte ermittelt werden können? In einer Stadt, wie Ansbach, wäre Hauser, der Kauf eines Dolches und sein Tod durch gewaltsame Verwundung zu auffallend, als daß es sich nicht schon ergeben haben sollte; er müßte sich denn schon lange mit dem Plane herumgetragen und bei einem früheren Aufenthalte in Nürnberg sich den Dolch zu verschaffen gewußt haben.“ In Nürnberg wußte man, so viel mir bekannt, nicht das Geringste von einem Dolche, den sich H. verschafft und der in seinem Besitze gewesen. Es war auch ganz gegen seine Art und seinen Ge­schmack, mit Instrumenten, die ihm so fürchterlich waren, in irgend einer Weise umzugehen; schon ihr Anblick war ihm unerträglich, konnte ihn doch, wie Heidenreich noch aus der Ansbacher Periode angiebt, ein Federmesser, eine Toilettenscheere in Mädchenhand er­schrecken! „Warum noch [319] Rock und Kleider durchstoßen, wenn er die Brust treffen wollte?“ fragt endlich Heidenreich. Um sich zu ermorden, hätte er ohne Zweifel die Stelle entblößt, ander er sich so tödtlich verwunden wollte.

Von besonderer Wichtigkeit sind Heidenreich's Berichte über Hauser's innere Körperbeschaffenheit, namentlich was Leber, Lunge, Schädel und Hirn betrifft.

„Die Leber war sehr groß und hypertrophisch. Dem Landgerichts­arzte, der sich gutachtlich auszusprechen hatte, konnte es daher nicht entgehen, daß diese Vergrößerung und Hypertrophie mit Hauser's früherer Einkerkerung in Verhältniß zu setzen sei, indem auch Thiere, denen man in engen Kästchen wenig Bewegung gestattet, eine große Leber bekommen. In Uebereinstimmung mit den verhältnißmäßig kleinen Lungen finde auch ich die Vergrößerung der Leber ganz natürlich, indem diese beiden Organe sich physiologisch bedingen als Ausscheidungsorgane des Kohlenstoffes, die Leber im Fötus für die Lunge funktionirt und in der Thierreihe um so mehr hervortritt, je mehr die Lunge sich zurückzieht. Konnte sich bei geringer Bewegung und in der dumpfen Luft des Kerkers die Lunge nur wenig entwickeln, so mußte das Uebergewicht auf die Leber fallen.“ S. 31f.

„Der Schädel schien etwas niedrig, wie von oben nach unten zu­sammengedrückt, namentlich vom Scheitel an gegen die Stirne hin.“ [320]

„Die Schädelknochen waren etwas dick, sonst erschien nichts Auffallendes an ihnen.“

„Das Gehirn schien im Ganzen klein, Abnormes war Nichts daran zu bemerken.“

„Die Blutleiter der harten und die Venen der weichen Hirnhaut waren ziemlich mit schwärzlichem Blute angefüllt.“

„Der Sichelfortsatz der harten Hirnhaut war derb und fest und reichte sehr weit zwischen den Hemisphären herab.“

Uebrigens waren Hirn und Häute gesund, Rinden- und Marksubstanz normal.“

„Das kleine Hirn schien im Verhältniß zum großen ziemlich groß und entwickelt, die hinteren Lappen des großen Hirnes wollten das kleine nicht so recht bedecken, wie es sonst natürlich ist. Das große Hirn erschien in diesem Verhältniß ziemlich klein.“ [321]

Das Hirn nun herausgenommen und durch Ho­rizontalschnitte untersucht, gab nichts beson­ders Abnormes.“

„Die große Commissur des großen Hirnes war sehr stark ausgebildet. Desgleichen waren die Sehhügel groß und ausgezeichnet.“

„Die Plexus chorioidei waren natürlich, im rechten Seitenwinkel etwas Serum, im linken nicht. Die Vierhügel waren sehr klein.“

„Die Blättchen am sogenannten Lebensbaume des kleinen Hirns waren ausgezeichnet, deutlich und sehr zahlreich vorhanden.“

„An der Basis des Gehirnes und den hier entspringenden Nerven war nichts Auffallendes oder Abweichendes zu bemerken.“

„An der knöchernen Basis des Schädels war allerdings sehr auffallend die abgesonderte Lage des mittleren Hirnlappens, die durch das besonders hochstehende Felsenbein und den ebenfalls sehr hoch nach oben stehenden Schwerdtfortsatz des Keilbeines wie in einem rundlichen, vertieften Neste lagen.“

„Die Vertiefungen und Erhabenheiten an den Knochen waren an dieser Stelle ausgezeichnet. Die Erhabenheiten der Knochen ragten hier als bedeutende, über einen Viertheil, ja gegen einen Drittheil Zoll hohe Spitzen und Zacken, wie man in Landschaftsgemälden entfernte Gletscher zeichnet, gegen die Basis des Hirns herauf.“

„Auch waren diese spitzigen zackigen Knochenbildungen auf beiden Seiten nicht gleich, sondern auf der rechten Seite größer und stärker, als auf der linken.“

„Die Windungen an der Oberfläche des Hirnes im Allgemeinen schienen nicht sehr zahlreich und fein, im Gegentheil derber, gröber; überhaupt schienen am ganzen Gehirne mehr einzelne Massen z. B. Commissur, Sehhügel u. s. w. groß und stark entwickelt, das Hirn im [322] Ganzen aber von nicht besonders feiner und zarter Struktur und Construktion zu sein.“ S. 21 ff.

Weiterhin kommt Heidenreich auf die Untersuchung und Be­urtheilung des Gehirnes zurück, die „etwas schwieriger und ver­wickelter,“ als die der sonst beschriebenen Organe sei.

„Ueber den namentlich vom Scheitel gegen die Stirne zu etwas niedergedrückten Schädel, die ziemliche Dicke der Knochen, den weit hereinragenden Sichelfortsatz der harten Hirnhaut – über die Kleinheit des Gehirns im Allgemeinen, die relativ geringe Masse des großen, und bedeutende Größe des kleinen Hirnes, über die der Zahl nach we­nigeren, aber dem Ansehen nach größeren und gröberen Windungen an der Oberfläche, das besondere Hervortreten einzelner Massen im In­neren, namentlich im großen Gehirne, und endlich über einige Eigen­thümlichkeiten der Schädelbasis – habe ich mich schon im Leichen­befunde ausgesprochen. Alle diese Momente schienen mir auf man­gelhafte Entwicklung des Hirnorgans zu deuten.“

„Als dasselbe herausgenommen war, wurde die Kleinheit der hinteren Lappen des großen Hirnes, die auseinander fielen und das kleine nicht decken wollten, noch auffallender, und diese Erscheinung hatte einige, wenn gleich nur entfernte Aehnlichkeit mit dem Aussehen, wie Carus (Versuche über das Nerversystem. Tafel V. Figur 21.) [323] das Hirn des Marders, oder Tiedemann (Bildungsgeschichte des Fötushirns Tafel III. Figur I.) das Hirn des menschlichen Fötus ab­gebildet haben.“

„Ich konnte während der Untersuchung des Gehirnes das Gefühl und kann während ich dieses schreibe, den Ausdruck: thierähnliche Bildung nicht unterdrücken.

In diesem Falle war nicht die 1) geistige Ent­wicklung durch mangelhafte Bildung des Hirn­organes gehemmt, sondern das Organ blieb in seiner Entwicklung zurück durch Mangel aller geistigen Thätigkeit und Erregung.“

„Denn es ist ein Naturgesetz, daß jedes Organ und Gebilde, das ungeübt und unbenutzt bleibt, den vollständigen Grad seiner möglichen Vollkommenheit nicht erreicht, oder von demselben zurücksinkt und verkümmert wird. Bis zum siebenten Jahre ist die materielle Entwicklung des Menschenhirns so ziemlich beendigt; haben aber vor dieser Zeit und um dieselbe Einflüsse Statt gefunden, die dessen naturgemäße Bildung hemmen und aufhalten konnten, so muß das Hirn auch in physischer und materieller Hinsicht auf der niederen Bildungsstufe stehen bleiben.“

„Nach dem angegebenen Naturgesetze, daß Uebung und Thätigkeit zur vollständigen Entwicklung eines Organes [324] nöthig sei, und ohne dieselben auch die physische Organisation in ihrer Ausbildung zurückbleibe, mußte die Hirnbildung auch im vorliegenden Falle geschehen.“

„Hat Hauser geraume Zeit vor dem siebenten Jahre seine Zeit in einem finsteren Loche, in dumpfem Hinbrüten, ohne alle intellektuelle Thätigkeit und geistige Lebensreize, die zur Entwicklung des menschlichen Hirnes nöthig sind, zubringen müssen, so mußte auch seine Hirnbildung auf der thierähnlichen Stufe stehen bleiben, wie er selbst nur in thierischem Zustande gelebt hatte.“

„Hat aber die Leichenöffnung einen solchen unentwickelten Zustand in der physischen Hirnbildung wirklich nachgewiesen, so ist dieser Zustand auch ein genügender Beweis, daß Hauser geraume Zeit vor seinem siebenten Jahre in die Lage, in der er so lange verharren mußte, gebracht worden ist.“

„Waren darüber die Jugendjahre verstrichen, und hatte das Hirn seine physische Bildung auf dieser niederen Stufe vollendet, so konnte das Versäumte nicht mehr ersetzt werden.“

„Als er wirklich an das Licht und unter die Menschen getreten war, war es zu spät, als daß die intellektuellen Reize auf die Bildung des bereits gereiften, physisch ausgewachsenen, aber nur für diese niedere Stufe geistigen Lebens vollendeten Hirns noch hätten Einfluß äußern können.“ [325]

„Daher lassen sich die reißenden Fortschritte und glänzenden Anlagen erklären, die Hauser Anfangs verrieth, weil für sie das Hirnorgan schon gereift war, das bei Kindern sich erst auch noch physisch bilden muß; daher aber auch sein alsbaldiges Stehenbleiben an der Grenze des Mittelmäßigen und Gewöhnlichen, weil das Hirn für höheres geistiges Leben nicht mehr umgebildet werden konnte.“ S. 32ff.

Was hier besonders gegen Eschricht hervorzuheben, ist Heiden­reich's Behauptung, daß keine Hemmung der geistigen Ent­wicklung durch mangelhafte Bildung des Hirn­organes Statt gefunden.

Uebrigens hat auch Heidenreich keine mit den Tatsachen voll­kommen harmonirende und sie genügend erklärende Theorie auf­gestellt.

H. wurde hiernach geraume Zeit vor seinem siebenten Jahre in einen Zustand gehemmter Lebensäußerung und Entwicklung versetzt, in welchem namentlich seine Hirnbildung aus Mangel an geistiger Erregung und Thätigkeit auf einer unreifen, niedrigen Stufe stehen zu bleiben gezwungen war. Was dieser unvollkommenen Hirnbildung entsprach, soll von H. in den ersten Zeiten seiner Erscheinung mit einem Male geleistet worden, dies als etwas Außerordentliches erschienen, dann aber, weil das Hirn die Fähigkeit verloren, sich zu höherem geistigem Leben fortzubilden, ein Stillstand eingetreten sein und sich als [326] etwas über das Gewöhnliche Hinausgehendes nicht mehr dargestellt haben. H. aber legte im Anfange Verstandes-und Gedächtnißkräfte an den Tag, welche diejenigen bei Weitem übertrafen, die ein noch nicht siebenjähriges Kind zu zeigen pflegt. Man sehe hierüber oben Cap. V. Besonders ging sein Gedächtnißvermögen in's Unglaubliche, und erschien seiner ganz ungewöhnlichen Stärke wegen als ein wahres Wunder. Wenn das seine Hirnbildung erlaubte, so konnte es auch dabei sein Verbleiben haben. Dies war aber nicht der Fall. Es trat auf einmal die bedauerlichste Veränderung hervor, so daß er nicht einmal im Geleise des Gewöhnlichen fortging, sondern fast ganz unfähig zum Lernen wurde und selbst bei dem besten Willen und mit aller Mühe und Anstrengung nicht begriff, was man ihm vortrug. Zugleich trat eine Abstumpfung seiner sonst so wunderbar scharfen Sinne und ein Verschwinden der ihm ganz eigenthümlichen Empfindungen für mineralische und animalische Gegenstände ein. Allem Anscheine nach war an dieser Metamorphose die schon oben erörterte Veränderung Schuld, die damals in seiner Diät vorging. Die Gewöhnung an Fleischkost hatte eine abstumpfende Wirkung und hemmte namentlich seine intellektuelle Fortentwicklung. 2) Nach dem Mordversuch [327] in meinem Hause, wo er einen Schnitt in die Stirne bekam und stark blutete, trat mit einem Male wieder seine ganze wunderbare Natur hervor, ja erschien momentan sogar gesteigert, vergl, „Mittheilungen“ I, S. 64 f. Weiterhin bewies er, trotz der kindlichen Züge, die aus seinem Mangel an Lebenserfahrung entsprangen, einen kerngesunden, tüchtigen Verstand, wie ihn Viele nicht haben, deren Gehirn auf keine Weise gehindert wurde, sich vollkommen auszubilden. Eine merkwürdige Symbolik und Poesie nebst tiefen Einblicken in's Leben, und eine philosophisch erhöhte und verfeinerte Kraft des Denkens und Erkennens war in den Erzählungen zu bewundern, die er von seinen Träumen und Visionen gab. Ich habe von all dem Beispiele gegeben. Diese noch späterhin, nachdem jene das allgemeine Erstaunen erregende Periode vorüber war, sich darbietenden Erscheinungen sind auch durch Heidenreich's Theorie nicht zu erklären. Weder Hauser's geistiger Zustand im Allgemeinen, noch jene besonderen Manifestationen höherer Geisteskraft und Lebendigkeit, die ihn, wenn auch noch so blitzartig und momentan, für den Augenblick wenigstens zum Range eines hochbegabten [328] Dichters und Denkers erhoben, reimen sich mit einem auf thier- und fötusartiger Stufe stehen gebliebenen Gehirne; sie sind und bleiben, wenn Alles nur auf die materielle und sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit dieses Organes zurückgeführt werden soll, ein unlösbares Räthsel. Gestehen wir, daß wir uns hier, wie leider so oft der Fall, zumal was die dunkle Region des menschlichen Gehirnlebens betrifft, 3) an der Grenze unseres auf empirischem Grunde beruhenden Wissens, Erkennens und Begreifens befinden, sei es, daß wir über diese Linie überhaupt nicht hinauszukommen im Stande, oder daß wir sie wenigstens auf dem gegenwärtigen Standpunkte unserer Wissenschaft noch nicht zu überschreiten vermögen.

 

――――――――

 

1) „nur“ statt „die“, ist Druckfehler 

2) Vergl, oben Cap. VI. Die abstumpfende Veränderung, welche H. durch jene Diätveränderung in Beziehung auf seine Sinnesorgane erfahren hat, bezeugen auch die Doktoren Osterhausen und Preu in Hitzig's Annalen. IX, S. 421, 435, 438. Dr. Osterhausen sagt S. 427: „So wie um diese Zeit – im Winter 1828 und 1829 – seine Sinnesorgane stumpfer wurden, fo wurden es auch seine geistigen Anlagen.“ 

3) Vergl. oben Cap. VIII.