BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[VII]

Vorrede.

 

Die Erscheinung und Geschichte des weltberühmten Findlings, von welchem diese Blätter handeln, bietet nicht nur an und für sich das mannigfaltigste Interesse dar, sofern sie ein stets anziehender Gegen­stand für den Scharfsinn, der sich an der Lösung des hier obwaltenden Räthsels zu üben, für die Neugier, die sich des gelösten zu bemächtigen verlangt, eine cause célèbre der ersten und unvergleichlichsten Art für den Juristen, ein inhaltsvolles und lehrreiches Studium für den Psycho­logen, Physiologen, Arzt und Diätetiker ist – es läßt sich auch in Beziehung auf die Streitigkeiten, zu denen sie den Anlaß gab, und die sich erst kürzlich wieder nach langem Schlummer erneuert haben, auf die verschiedenartigen wissenschaftlichen [VIII] Standpunkte und allge­meinen Denkarten, so wie auch die repräsentativen Persönlichkeiten und moralischen Charaktere, die sich dabei bethätigt und geoffenbart haben, kaum etwas Reichhaltigeres und Merkwürdigeres denken. Sie gehört in Folge dessen nicht nur, gleich den unzähligen Vorfällen und Geschichten, die einen Augenblick lang das Tagesgespräch bilden, die Zeitungen mit Artikeln füllen und dann für immer veraltet und vergessen sind, einem vorübergehenden Zeitmoment und Zeitinteresse an – sie macht ein wichtiges Eigenthum der Geschichte und Wissenschaft aus, das nicht ausfallen kann, ohne daß diese Sphären des gebildeten menschlichen Bewußtseins einen wesentlichen Verlust erleiden.

Das einst von aller Welt besprochene Phänomen war nach Verlauf von Decennien. 1) verschollen und scheinbar abgethan genug, als es dem dänischen Physiologen Dr. Eschricht einfiel, sich mit all der Wuth, deren der wissenschaftliche Parteihaß und Fanatismus fähig ist, darauf zu stürzen, um die thatsächlichen Zeugnisse hinwegzuräumen, die dasselbe seiner antiromantischen, im einseitigsten und beschränktesten Sinne des Wortes rationellen Denkart und Auffassungsmanier entgegenhielt. Und so wurde ich [IX] ganz unerwarteter Weise auf ein Feld der Untersuchung und Polemik zurückgeführt, daß ich nie mehr zu betreten gedacht hatte, und das mich nun doch wieder so völlig absorbirt und so angelegentlich beschäftigt hat. Ich habe indessen nicht so lange darüber gebrütet, als es scheinen mag; es konnte mir eine Arbeit, wie diese, an und für sich nicht so viele Mühe kosten; die Vollendung und Veröffentlichung derselben verzögerte sich aus anderen Gründen. Erst war ich in Studien begriffen, in denen ich mich nicht stören lassen wollte, daher ich, wiewohl gemahnt, Monate verstreichen ließ, ohne Herrn Eschricht's Broschüre auch nur zur Hand zu nehmen und anzusehen. Nachdem ich es endlich gethan, fing ich an, die nachstehenden Abhandlungen niederzuschreiben; da ich mich aber nicht zu Hause befand, sondern theils zu Frankfurt a. M., theils in dem einsamen Badorte Kronthal aufhielt und daselbst die bezüglichen zu Nürnberg in Verwahrung gegebenen Manuskripte und Bücher nicht sobald alle haben konnte, so dauerte es auch dann noch eine geraume Zeit, bis meine Arbeit ihre gegenwärtige Gestalt und Reife erhielt. Was nun aber ganz besonders hervorzuheben ist, besteht in Folgendem.

Es handelte sich nicht allein um Zurückweisung der von dem genannten Physiologen aufgestellten Hypothese und Theorie. Um möglichst tief zu greifen und neue lichtvolle Aufschlüsse zu geben, wie ich es zu thun im [X] Stande zu sein glaubte und bei dieser Gelegenheit so dringend aufgefordert war, mußte ich noch eine andere Persönlichkeit in's Auge fassen, und ihre in der Hauserischen Sache gespielte Rolle, so wie ihre damit verbundenen schriftstellerischen Kundgebungen beleuchten. Ich bin nehmlich der Ansicht, daß diese Geschichte, ohne eine solche Kritik, ein nie erhelltes, stets nur mit täuschenden Irrlichtern erfülltes Nachtgebiet bleiben werde. Und so kommt es, daß schon auf dem Titel der vorliegenden Schrift, bei Angabe der Gegner, mit denen sie es zu thun hat, neben dem Namen Eschricht, noch ein zweiter, in eine frühere Zeit zurückführender, nemlich der des englischen Grafen Stanhope erscheint, der sich aus einem scheinbar so liebevollen und begeisterten Freund und Beschützer Hauser's in einen so feindseligen Verdächtiger und Ankläger desselben verwandelt und in diesem Sinne auch mehrere kleine Schriften, wie namentlich die „Materialien zur Geschichte Kaspar Hauser's,“ die ich öfters zu citiren haben werde, veröffentlicht hat.

Es giebt besondere Fälle und Fügungen des Geschickes. Schon bald nach Hauser's Tode, wollte ich gegen Stanhope schreiben, gewisse Thatsachen bekannt machen und gewisse Gedanken äußern, die mir ganz besonders gewichtvoll und aufklärend erschienen. 2). Alles war dagegen, [XI] Alles rieth ab. Da sank mir der Muth; ich ließ die Sache fallen, und die ganze Geschichte schlummerte ein, und gerieth in Vergessenheit. Nun endlich, nach so vielen Jahren und nach dem Dazwischentreten so ungeheuerer Begebenheiten ruft sie ein ausländischer Gelehrter, den die in die tiefste Ruhe versenkte Sache nicht ruhen läßt, in das Gedächtniß der Welt zurück und zwingt mich, nicht nur ihm selbst zu entgegnen, sondern auch jene in meiner Brust so lange begrabenen Dinge wieder hervorzuheben und, vielleicht kurz vor dem Ende meines sinkenden Lebenstages, doch noch öffentlich auszusprechen.

Man meint, wenn man der Hauserischen Geschichte gedenkt, es trete dabei ein einfaches Problem hervor, so wie es sich in der Person des berühmten Findlings selber biete. Man ist im Irrthume. Denn es ist hier noch eine zweite Erscheinung in Betrachtung zu ziehen, die ein nicht weniger großes, ja noch größeres Räthsel ist. Von der Lösung dieses letzteren scheint die des ersteren auf's Allerwesentlichste abzuhängen; es muß auf jeden Fall untersucht werden, ob besagter Graf ein glaubwürdiger Zeuge und Berichterstatter ist, da sich auf seine Autorität und seine Nachrichten schon früher der Berliner Polizeirath Merker gestützt, und da es neuerdings auch wieder Herr Eschricht für gut findet, dieses Verfahren zu Hülfe zu nehmen, so daß in beiden Fällen von irgend einem möglichen Zweifel, einer nöthigen Kritik nach dieser Seite hin [XII] gar keine Rede ist und gerade die verdachtvollste und unglaubwürdigste aller in der Hauserischen Geschichte spielenden und bekannten Persönlichkeiten das unbedingteste Vertrauen genießt. Das sind die Gründe, weshalb ich, nachdem der Däne abgethan, den Engländer vornehmen und zeigen werde, weß Geistes Kind er ist, und welch ein Urtheil ihm eine unbefangene und unverblendete Untersuchung und Geschichtsschreibung zu sprechen hat.

In Betreff der von mir berichteten und bezeugten Erscheinungen und Thatsachen versichere und betheuere ich bei Allem, was mir und Andern heilig ist, daß Alles so genau als möglich genommen und aus der lauteren Quelle sicherer und unzweifelhafter Erinnerung geflossen ist. Was ich hier sage und mit Bestimmtheit ausspreche, das weiß ich gewiß, und was ich nicht gewiß weiß, das sage ich nicht oder spreche ich wenigstens nicht mit Bestimmtheit aus. Mein Gedächtniß ist mir in allen wesentlichen Dingen noch treu genug; und wird nicht nur durch das, was ich und Andere über Hauser bereits in früherer Zeit veröffentlicht haben, sondern auch durch viele noch ungedruckte und unbenutzte Aufzeichnungen unterstützt und aufgefrischt. Ich habe, als ich meine Papiere musterte, weit mehr gefunden, als ich erwartete, da ich nicht mehr wußte, was hier Alles bewahrt und gerettet sei. Ich rede nicht allein von dem, was ich selber niedergeschrieben; es existiren außerdem noch verschiedene Zettel, [XIII] Aufsätze, Schilderungen, Bemerkungen und Briefe, die von Hauser selbst, von meiner verstorbenen Mutter, von Herrn Ministerialrath v. Hermann in München, der sich einst in Gemeinschaft mit mir so angelegentlich und erfolgreich mit Hauser beschäftigt hat, von Gottlieb Freiherrn v. Tucher, der mich mit H. bekannt machte und der eine Zeitlang sein Vormund war, dem Philosophen Ludwig Feuerbach und Herrn Bäumler jun., damaligen Candidaten der Theologie und einem der Lehrer Hauser's, nachdem derselbe mein Haus verlassen, geschrieben sind; ferner eine Abschrift meiner sämmtlichen Beobachtungen, die Herr Prof. Wurm, ein ehemaliger College von mir, fertigen ließ und mit eigenen Bemerkungen bereicherte, so wie auch Nachrichten über Hauser's letzte Lebenszeit, Verwundung und Sterbemomente, die von Herrn Lehrer Meyer in Ansbach, bei welchem er wohnte und starb, Herrn Hofrath Hoffmann und Herrn Dr. Albert in Ansbach herrühren. Mehrere, die den unglücklichen Iüngling kannten, liebten und beobachteten, sind dahingegangen; von Manchem derselben weiß ich nicht, ob er noch auf Erden wandelt. In einem Zeitraume von ohngefähr 30 Jahren pflegt der Tod eine reichliche Ernte zu halten, auch abgesehen von der künstlichen Beihülfe, die ihm, allem Anscheine nach, in diesem Falle geleistet worden ist. Und so ist namentlich Präsident v. Feuerbach, Bürgermeister Binder, Dr. Osterhausen, [XIV] Dr. Preu, Dr. Albert, Magistratsrath Biberbach nicht mehr am Leben. Doch ist noch immer nicht Alles todt, worauf man sich berufen kann; es leben wahrscheinlich auch noch Einige, von denen ich im Augenblicke keine Kunde habe. Wunder, daß ich, der Kränkste und Schwächste von Allen, noch am Leben bin. Wäre ich ebenfalls schon zu Grabe gegangen, so würde Manches, was die folgenden Blätter enthalten und, wie man sehen wird, zur Vervollständigung und Aufklärung dieser Geschichte ganz unentbehrlich ist, wohl nie zur Sprache kommen. Man wird hier unter Anderem auch erfahren, wie Hauser zu Ansbach selbst noch auf dem Sterbebette gekränkt und mißhandelt worden und mit welchen herzzerschneidenden Klagen er deßhalb geschieden ist. Entsetzlich hat die Welt an diesem Aermsten gehandelt, und noch immer will sich die Grausame ihre Beute nicht entreißen lassen, indem sie selbst nach so vielen Jahren den blutigen Schatten des Gemordeten aus dem Grabe herauf beschwört, um ihn auf's Neue mit Schimpf und Schande zu bedecken. Aber das Schicksal hält eine merkwürdige Rache bereit. Es ist himmlisch, wie diese eitlen Klüglinge, diese abstrakten Verstandesmenschen und Fanatiker der Nüchternheit, die sich Nichts weiß machen lassen, und sich in ihrer negativen Stellung so sicher vor jeder Art von Täuschung wähnen, genarrt und betrogen sind. Auf den armen Findling stürmen sie mit ihren entehrenden Anklagen [XV] und Hypothesen ein; vor demjenigen aber, der hier die keckste, auffallendste und handgreiflichste aller Komödien gespielt, der aber freilich nicht in Bettlergestalt, als Kind des Unglücks, als elender, verstoßener, stammelnder Junge, sondern als reicher und vornehmer Mann und als imponirender Sohn eines großen und mächtigen Volkes auf den Schauplatz trat, ziehen sie respektvoll den Hut ab, und lassen sich von ihm aufbürden, was ihm beliebt. Ein pfiffiger Berliner Polizeimann mußte ihm sogar zum unmittelbaren Werkzeuge dienen, und fühlte sich in seiner düpirten Eitelkeit und Arglosigkeit unendlich geehrt und geschmeichelt dadurch. Dieses Sachverhältniß soll, zur tiefsten Beschämung der superklugen, arroganten, herzlosen, mit Unglück und Unschuld so grausam umgehenden, für das offenbar Unedle, Unaufrichtige, ja Gräuliche und Entsetzliche hingegen, wenn es mit äußerem Glanze umgeben, so stockblinde Art von Verständigkeit, die hier vornehmlich durch die Namen Merker und Eschricht vertreten ist, sonnenklar in die Augen springen durch dieses Buch.

Schließlich noch folgende, die Bequemlichkeit des Lesers betreffende Bemerkungen. Ich hatte bei einem Gegenstand und einer Polemik dieser Art sehr verschiedene Materien und Gebiete des menschlichen Interesses zu berühren; da wird nun nicht Alles in gleichem Grade für Alle sein. Es ist namentlich zu erwarten, daß sich Viele hauptsächlich um das Historische bekümmern und vor allem [XVI] Anderen wünschen werden, zu wissen, was der Sache in dieser Beziehung für eine neue Wendung und Gestalt gegeben werde. Diesen schlage ich vor, die nachstehenden Aufsätze nicht in der Ordnung und Folge, in welcher sie hier vorliegen, zu lesen, sondern einige davon, die des begehrten Inhaltes sind, bei planmäßiger Eintheilung und Anordnung des Ganzen aber erst mitten darin oder gar am Ende zu stehen kommen mußten, zuerst vorzunehmen. Die ganz zuletzt stehende chronologische Uebersicht wird da den füglichsten Anfang bilden. Dann wird Cap. XVIII., wo der Versuch gemacht wird, die Hauserische Geschichte ihrem ganzen Verlauf und Zusammenhange nach vorstellig zu machen, ein leicht zu fassendes Gesammtbild liefern. Weiter mag derjenige Theil der Darstellung, wo Graf Stanhope an die Reihe kommt und einer Anzahl noch ganz unbekannter Thatsachen und Vorfälle der sonderbarsten Art berichtet werden, ich meine Cap. XII. und folgende, so wie auch das im Anhange beigegebene Fragment einer vor Jahren entworfenen Schrift wider Stanhope nebst den Briefen des Herrn v. Tucher folgen, wobei man sich in das Bereich des Einzelnen und Speciellen versetzt sehen wird. Ich hoffe, daß man sich hierauf gern auch mit dem Uebrigen bekannt machen werde. Wem die darin vorkommenden naturwissenschaftlichen Probleme und Abhandlungen zu fern liegen, der mag diese Blätter auch wohl überschlagen. Doch dürften auch diese bei [XVII] näherem Anblicke des allgemein Interessanten und menschlich Anziehenden genug enthalten, um keinen unserer Leser ganz gleichgültig und unbefriedigt zu lassen; denn die bloße, trockene Fachgelehrsamkeit, der keine lebendig anregende Seite abzugewinnen, ist unsere eigene Sache nicht. Wer besonderer Neigung und Willkür gemäß zu wählen gedenkt, dem wird das sogleich folgende, sehr ausführliche Inhaltsverzeichniß zu Statten kommen.

 

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1) Kaspar Hauser war, wie vom Himmel gefallen, im Mai des Jahres 1828 zu Nürnberg erschienen und im December des Jahres 1833 zu Ansbach an einer tödtlichen Stichwunde gestorben, die er, seiner Aussage nach, im Hofgarten daselbst erhalten hatte. 

2) Den Anfang der damals gegen Stanhope begonnenen, doch nicht weitergeführten Schrift, theile ich im Anhange mit. 

 

 

[XVIII]

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