BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach:

Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens

am Seelenleben des Menschen

 

1832

 

______________________________________________________________________________

 

 

[20]

III.

 

Das Befremdende an K. H. bei seinem ersten Erscheinen zu Nürnberg gestaltete sich in den nächsten Tagen und Wochen zu einem dunkeln, grauenhaften Räthsel, zu dessen Lösung man in mancherlei Vermuthungen vergebens den Schlüssel suchte. Nichts weniger als blöd- oder wahnsinnig, dabei so sanft, folgsam und gutartig, daß Niemand versucht werden konnte, diesen Fremdling für einen Wilden oder unter den Thieren des Waldes aufgewachsenen Knaben zu halten, zeigte sich an ihm – jene stets wiederkehrende Redensarten ausgenommen – ein so vollständiger, nur dem Zustand eines Pescherä vergleichbarer, Mangel an Worten und Begriffen, eine so gänzliche Unbekanntschaft mit den gemeinsten Gegenständen und den alltäglichsten Erscheinungen der Natur, solch eine Gleichgültigkeit, solch ein Abscheu gegen alle Gewohnheiten, Bequemlichkeiten und Bedürfnisse des Lebens, dabei so ausserordentliche Eigenthümlichkeiten in seinem ganzen geistigen, sittlichen [21] und physischen Wesen, daß man sich in die Wahl versetzt glauben konnte, ob man ihn für einen durch irgend ein Wunder auf die Erde herabversetzten Bürger eines andern Planeten, oder für jenen Menschen des Plato nehmen solle, der, unter der Erde gebohren und aufgewachsen, erst im Alter der Reife auf die Oberwelt zum Licht der Sonne heraufgestiegen.

Kaspar zeigte beständig gegen alle Speisen und Getränke, ausser trocknem Brod und Wasser, den heftigsten Widerwillen. Nicht nur der Genuß, sondern auch der bloße Geruch unsrer gewöhnlichen Speisen erregte ihm Schauder oder noch mehr; ein Tröpfchen Wein, Kaffe und dergl., heimlich unter sein Wasser gemischt, verursachte ihm Angstschweiß, Erbrechen und heftiges Kopfweh  1). – [22] Es versuchte Jemand irgendwo, ihm etwas Brandwein, unter dem Vorwand es sei Wasser, aufzudringen. Als man ihm das Glas an den Mund brachte, sank er erbleichend um, und wäre rückwärts in eine Glasthüre gefallen, wenn man ihn nicht aufgefangen hätte. – Als er einmal von dem Gefangenwärter war genöthigt worden, etwas Kaffe in den Mund zu nehmen, wovon er kaum einen Tropfen verschluckt haben mochte, bekam er mehrmaligen Durchfall. – Von einigen Tropfen stark mit Wasser vermischten Waizenbiers bekam er heftige Schmerzen im Magen und Hitze im ganzen Körper, wobei er über und über von Schweiß triefte, dann Frostschauder, mit Kopfweh und starkem Aufstoßen. – Sogar Milch, gesottene wie ungesottene, mundete ihm nicht und erregte ihm widerliches Aufstoßen. – Man hatte ihm einst in sein Brod etwas Fleisch versteckt; er roch dieses sogleich und bezeigte dagegen seinen lebhaften Abscheu; gleichwohl nöthigte man ihn es zu essen, worauf er äusserst leidend wurde. [23]

Bei Nacht, die für ihn regelmäßig mit Untergang der Sonne anfing und mit ihrem Aufgang endigte, lag er auf seinem Strohsacke; bei Tag saß er, die Füße gerade vor sich ausgestreckt, auf dem Boden.

Als er in den ersten Tagen zum erstenmal eine brennende Kerze vor sich sah, ergötzte ihn die leuchtende Flamme, er griff arglos hinein und verbrannte sich Hand und Finger, die er zu spät unter Schreien und Weinen zurückzog. Um ihn zu erproben, wurde zum Schein mit blanken Säbeln nach ihm gehauen und gestochen; er blieb dabei ganz unbeweglich, blinzte nicht einmal mit den Augen und schien gar nicht zu ahnen, daß ihm mit diesen Dingen irgend ein Leid geschehen könne 2). Als ihm ein Spiegel vorgehalten wurde, griff er nach seinem eignen Spiegelbild und wendete sich dann nach der Rückseite, um den Menschen zu finden, der dahinter stecke. Was er Glänzendes sah, darnach langte er wie ein kleines Kind, und weinte, wenn er es nicht erreichen konnte, oder es ihm versagt wurde. [24]

Einige Tage nach seiner Ankunft in Nürnberg wurde K., in Begleitung zweier Polizeimänner, um die Stadt geführt, damit er vielleicht das Thor wieder erkenne, durch das er in die Stadt gebracht worden. Er wußte, wie man wohl hätte voraussehen können, keines von dem andern zu unterscheiden, und schien überhaupt an dem, was an seinen Augen vorüberging, keinen Antheil zu nehmen. Auf Gegenstände, die man ihm besonders nahe brachte, gaffte er stumpfsinnig, und nur zuweilen mit neugierigem, befremdetem Blicke hin. Zur Bezeichnung lebender Geschöpfe, die ihm in die Sinne fielen, hatte er blos zwei Worte, deren er sich dann und wann bediente. Was menschliche Gestalt hatte, ohne Unterschied des Geschlechts und Alters, hieß ihm „Bua“; jedes ihm aufstoßende Thier, vierfüßig oder zweibeinig, Hund, Katze, Gans oder Huhn, nannte er: „Roß.“ Waren solche Rosse weiß, so bezeigte er Wohlgefallen; schwarze Thiere erregten ihm Widerwillen oder Furcht. Eine schwarze Henne, welche auf ihn zukam, versetzte ihn in große Angst; er schrie und machte die äusserste Anstrengung, um auf seinen, ihm hiezu den Dienst versagenden Füßen von ihr hinwegzulaufen.

Seine Seele nicht nur, sondern auch manche seiner Sinne schienen Anfangs in gänzlicher Erstarrung [25] zu liegen, und nur allmählig erwachend den Aussendingen sich zu öffnen. Erst nach einigen Tagen fiel ihm der Schlag der Thurmuhren und das Geläute der Glocken auf; er gerieth dadurch in das höchste Erstaunen, das sich in seiner aufhorchenden Miene und in Verzuckungen des Gesichts ausdrückte, bald aber in sinnendes dumpfes Hinstarren überging. Einige Wochen später zog eine Bauernhochzeit mit Musik unter dem Fenster seines Wohnstübchens auf dem Thurm vorüber. Horchend stand er plötzlich wie eine Bildsäule da; sein Gesicht wurde wie verklärt, seine Augen strahlten gleichsam sein Entzücken aus; fortwährend blieben Ohr und Augen den immer weiter sich entfernenden Tönen zugewendet, und schon waren die letzten verhallt, als er noch lauschend unbeweglich stehen blieb, gleichsam als wolle er die letzten Schwingungen dieser für ihn himmlischen Laute in sich aufnehmen, oder als habe die Seele ihren Körper in Erstarrung zurückgelassen, um diesen Klängen nachzuziehen. Gewiß nicht um Kaspars musikalischen Sinn zu erproben, stellte man bei einer Wachtparade diesen Menschen, an dem sich bereits eine ungewöhnliche Nervenreitzbarkeit offenbarte, in die Nähe der großen Regimentstrommel, deren erste Schläge ihn so erschütterten, daß er in Zuckungen verfiel und schnell hinweggebracht werden mußte. [26]

Unter den vielen auffallenden Erscheinungen, die sich in den ersten Tagen und Wochen an Kaspar zeigten, bemerkte man, daß die Vorstellung von Rossen, besonders von hölzernen Rossen, für ihn von nicht geringer Bedeutung sein müsse. Das Wort: „Roß“ schien in seinem Wörterbuch, das kaum ein halbes Dutzend Worte umfaßte, den allergrößten Raum einzunehmen; dieses Wort wurde am allerhäufigsten, bei den verschiedensten Gelegenheiten und Gegenständen, von ihm ausgesprochen, und zwar nicht selten unter Thränen, in wehmüthig bittendem Tone, als drücke er damit die Sehnsucht nach irgend einem Pferde aus. So oft man ihm eine Kleinigkeit, eine glänzende Münze, ein Band, ein Bildchen etc. etc. schenkte, sprach er: Roß! Roß! und gab durch Mienen und Gebärden den Wunsch zu erkennen, diese Schönheiten einem Roße anzuhängen. Kaspar, welcher – nicht eben zum Vortheil seiner geistigen Entwickelung, noch zum Behuf reiner Beobachtungen, wozu doch wohl die Seltenheit der Erscheinung aufforderte – täglich auf die Polizeiwachtstube geführt wurde, wo er im Getös und Getümmel, gewöhnlich einen nicht kleinen Theil des Tages zubrachte, wurde hier wie einheimisch, und gewann sich bald unter den Bewohnern dieses Amtszimmers Zuneigung und [27] Liebe. Das auch hier so oft wiederholte: Roß! Roß! gab eines Tages einem der Polizeisoldaten, der sich mit dem seltenen Jünglingskinde am meisten zu thun machte, den Einfall, ihm ein weißes hölzernes Spielpferd auf die Wachtstube zu bringen. Kaspar, der sich bisher fast immer nur unempfindlich, gleichgültig, untheilnehmend oder niedergeschlagen gezeigt hatte, wurde beim Anblick dieses hölzernen Rosses, plötzlich wie umgewandelt, und benahm sich nicht anders, als hätte er in diesem Pferdchen einen alten, langersehnten Freund wiedergefunden. Ohne lärmende Freude, aber mit lächelndem Gesichte weinend, setzte er sich sogleich auf den Boden zu dem Pferde hin, streichelte, tätschelte es, hielt unverwandt seine Augen darauf geheftet, und suchte es mit allen den bunten, glänzenden, klingenden Kleinigkeiten zu behängen, womit das Wohlwollen ihn beschenkt hatte. Erst nunmehr, da er das Rößchen damit ausschmücken konnte, schienen alle diese Dinge den rechten Werth für ihn gewonnen zu haben. Als die Zeit kam, wo er die Polizeiwachtstube verlassen sollte, suchte er das Roß aufzuheben, um es mit sich nach Haus zu tragen, und weinte dann bitterlich, als er wahrnahm, daß er in seinen Armen und auf seinen Füßen zu schwach sei, um diesen seinen Liebling mit sich über die [28] Schwelle der Stubenthüre hinauszubringen 3). So oft er dann nachher die Wachtstube zu besuchen kam, setzte er sich sogleich zu seinem lieben Roß auf den Boden nieder, ohne die Menschen um ihn her im mindesten zu beachten. „ Stunden lang“, sagt einer der Polizeisoldaten in seiner erst polizeilichen, späterhin gerichtlichen Vernehmung, saß Kaspar mit seinem Rosse spielend neben dem Ofen, ohne auf das, was um und neben ihm vorging auch nur im mindesten Acht zu geben.

Aber auch auf dem Thurm in seinem Schlaf- und Wohnstübchen versah man ihn bald, nicht blos mit Einem, sondern mit verschiedenen Rossen. Diese Rosse waren von nun an, so lange er sich zu Haus befand, unausgesetzt seine Gesellschafter und Gespielen, die er nicht von seiner Seite, noch aus seinen Augen ließ, und mit denen er – wie man durch eine verborgene Oeffnung in der Thüre beobachten konnte – sich beständig zu schaffen machte. Ein Tag war darin dem andern, eine [29] Stunde der andern gleich, daß Kaspar neben seinen Rossen, mit gerade vor sich ausgestreckten Füssen, auf dem Boden saß, seine Rosse beständig bald auf diese bald auf jene Weise mit Bändern, Schnüren oder bunten Papierfetzen schmückte, mit Münzen, Glöckchen, Goldflittern behing, und darüber zuweilen in tiefes Nachdenken versunken schien, wie er diesen Putz durch abwechselndes Dahin- oder Dorthin-Legen verändern möge. Auch führte er sie zum öftern, ohne sich dabei von der Stelle zu bewegen oder seine Lage zu verändern, neben sich hin und her, doch sehr vorsichtig und ganz leise, damit, wie er späterhin äußerte, das Rollen der Räder kein Geräusch verursache, und er nicht dafür geschlagen werde. Nie aß er sein Brod, ohne zuvor jeden Bissen den Pferdchen an den Mund gehalten, trank nie sein Wasser, ohne zuvor ibre Schnauze hineingetaucht zu haben, die er dann jedesmal sorgfältig wieder abzuwischen pflegte. Eines dieser Pferdchen war von Gyps, dessen Mund denn bald vom Eintauchen erweichte. Er wußte nicht, woher dieß komme, indem er wohl bemerkte, daß die Schnauze der andern Rosse naß werde, doch nicht ihre Form verändere. Der Gefangenwärter, dem er weinend sein Unglück mit dem Gypspferdchen vorzeigte, gab ihm zu seiner Beruhigung zu verstehen: „dieses Pferdchen möge [30] kein Wasser;“ worauf er es denn zu tränken unterließ, indem er glaubte, es zeige ihm durch die am Mund sichtbare Verunstaltung seine Abneigung gegen das Trinken an. – Der Gefangenwärter, welcher oft sah, wie Kaspar sich abmühte, die Pferde mit seinem Brod zu füttern, suchte ihm begreiflich zu machen, diese Pferde könnten nicht fressen. Allein Kaspar meinte ihn damit zu widerlegen, daß er auf die Brodkrumen deutete, die an der Schnauze seiner Pferde hängen geblieben waren. – Das eine seiner Rosse hatte einen Zaum in dem weitgeöffneten Maul; er verfertigte nun auch seinem andern Pferde einen Zaum aus zusammenhängenden Goldflittern, und bemühte sich dieses auf allerlei Weise zu bewegen, seinen Mund zu öffnen, damit er ihm den Zaum hineinlege, – ein Versuch, womit er sich zwei Tage lang unermüdlich plagte. Einst schlief er auf einem Schauckel-Pferde ein, fiel herab und quetschte sich am Finger; da beklagte er sich, daß ihn das Pferd gebissen habe. – Als er eines Tags mit einem andern seiner Pferde über den Boden fuhr und dieses mit den Hinterfüßen in eine Lücke des Bodens gerieth und vorne aufstieg, bezeigte er darüber die größte Freude, und wiederholte dann beständig dieses ihm so merkwürdige Schauspiel, das er allen seinen Besuchern zum Besten gab. Da ihm der Gefangenwärter [31] seinen Unwillen darüber bezeigte, daß er allen Leuten immer dasselbe vormache, unterließ er dieses zwar, weinte aber, daß er sein steigendes Pferd nicht mehr zeigen solle. Einmal fiel dieses beim Aufsteigen um; da kam er ihm mit eiliger Zärtlichkeit zu Hülfe und äußerte sein Leid darüber, daß es sich wehe gethan. Er war vollends untröstlich, als er einmal den Gefangenwärter einem dieser Pferde einen Nagel einschlagen sah.

Hieraus und aus vielen andern Umständen ließ sich vermuthen, was nicht lange nachher zu voller Gewißheit wurde: daß die Vorstellung von Lebendigem und Todtem, Beseeltem und Unbeseeltem, von Organischem und Unorganischem, von Naturgegenständen und Kunsterzeugnissen sich in seiner Kinderseele noch seltsam durch einander mische.

Thiere unterschied er von Menschen blos an ihrer Gestalt, Männer und Frauen an der Kleidung, die ihm, wegen der mannichfaltigen, in die Augen stechenden Farben, am weiblichen Geschlecht besser als am männlichen gefiel; weshalb er auch späterhin noch öfters den Wunsch äußerte, ein Mädchen zu werden, d. h. Frauenkleider zu tragen. –

Daß aus den Kindern große Leute würden, wollte ihm durchaus nicht einleuchten, und am hartnäckigsten widersprach er, wenn man ihm versicherte, daß er doch auch einmal ein Kind gewesen, [32] und daß er wahrscheinlich noch bedeutend werde größer werden, als er jetzt schon sei. Erst einige Monate später überzeugte er sich davon, als er an einem an die Wand gezeichneten Maß, nach wiederholten Proben, die eigne Erfahrung von seinem, noch dazu schnellen Wachsthum gemacht hatte.

Von Religion war nicht ein Fünkchen, von einer Dogmatik auch nicht das kleinste Stäubchen in seiner Seele zu finden, so sehr sich einige Geistliche, gleich in den ersten Wochen nach seinem Erscheinen zu Nürnberg, die unzeitige Mühe gaben, es in ihm zu suchen und aufzuregen. Von allen ihren Fragen, Reden und Predigen hätte jedes Thier nicht weniger verstanden und begriffen als Kaspar. Was er an Religion mitbrachte, bestand – wenn es ohne Lästerung dieses Namens so genannt werden darf – lediglich in demjenigen, was ihm dummfromme Bosheit bei seiner Aussetzung zu Nürnberg in die Tasche mitgegeben hatte.

Es wird vielleicht nicht uninteressant sein, über Kaspar Hausers Benehmen, während seines Aufenthalts auf dem Thurm, die Aeußerung eines einfachen, aber verständigen Mannes zu vernehmen, des Gefangenwärters Hiltel, der ihn mehre Wochen unter seiner Aufsicht gehabt hatte. Dieser äußert sich zum Protokoll unter andern wie folgt: [33]

„Bald nachdem ich den angeblichen Kaspar Hauser einige Zeit im Stillen beobachtet hatte, erlangte ich die Ueberzeugung, daß derselbe nichts weniger als simpelhaft und von der Natur verwahrlost, sondern vielmehr auf unbegreifliche Weise von aller Ausbildung und geistigen Entwicklung zurückgehalten worden sein müsse. Die unendlich vielen Belege und Erscheinungen anzuführen, welche sich mir aus den mit Hauser angestellten Beobachtungen hierüber unzweifelhaft ergaben, würde hier zu weit führen. Er hat sich in den ersten Tagen seines Aufenthalts bei mir gerade wie ein kleines Kind benommen und allenthalben die größte Natürlichkeit und Unschuld zu erkennen gegeben. Am 4ten oder 5ten Tage wurde er von dem obern, engern Verwahrungsort des Gefängnißthurms in die tiefere Etage desselben, in welcher ich mit meiner Familie wohne, in ein kleines Zimmerchen gebracht, welches Vorrichtungen hatte, mittelst deren ich ihn stets beobachten konnte, ohne daß er es wahrzunehmen vermochte. Hier habe ich ihn, dem mir vom Herrn Bürgermeister gegebenen Befehl gemäß, unbemerkt zum öftern beobachtet und sein Benehmen, wenn er allein war, ganz unverändert gefunden. Er ergözte sich an seinem Spielzeug für sich allein eben so, als wie er [34] dies in meiner Gegenwart natürlich, unbefangen that; denn wenn er in der ersten Zeit mit seinen Spielsachen ernstlich beschäftigt war, so mochte um ihn her vorgehen was da wollte, er nahm davon keine Notiz. Doch muß ich bemerken, daß dieses Vergnügen an kindischem Spielzeug nur von kurzer Dauer war. So wie seine Sinne auf ernstere und nützlichere Gegenstände gerichtet und dafür empfänglich gemacht worden waren, hatte er am Spielen keine Freude mehr. – Sein ganzes Benehmen war, so zu sagen, ein reiner Spiegel kindlicher Unschuld; er hatte nichts Falsches an sich; wie es ihm um's Herz war, so sprach er sich aus, so weit es nämlich seine dürftige Sprache zuließ. Einen sicheren Beleg seiner Unschuld und Unwissenheit gab er auch bei Gelegenheit, als ich und meine Frau ihn das erste Mal entkleideten und seinen Körper reinigten; sein Benehmen hiebei war das eines Kindes, ganz natürlich und ungenirt 4). – [35] Nachdem er das Spielzeug bekommen hatte, und auch andere Personen zu ihm gelassen wurden, habe ich bisweilen meinen 11jährigen Sohn Julius zu ihm gelassen, der ihn denn gleichsam das Sprechen lernte, Buchstaben vormachte, und ihm Begriffe, so weit er selbst sie hatte, mitzutheilen suchte. Zugleich ließ ich manchmal mein dreijähriges Mädchen, Margaretha, auf seine Stube kommen, mit der er Anfangs sehr gerne spielte und die ihn Glasperlen an eine Schnur zu reihen lehrte. An dieser Unterhaltung fand er sobald keine Befriedigung mehr, als er sein todtes Spielzeug satt hatte. In der letzten Zeit seines Aufenthalts bei mir, hatte er seine größte Freude und Unterhaltung an Zeichnungen und Kupferstichen, die er in seinem Zimmerchen an die Wände klebte.“

 

――――――――

 

1) Es ist ein bedauernswerther Umstand, daß es in der ganzen Stadt Nürnberg keinen einzigen Menschen gab, welcher so viel wissenschaftliches Interesse in sich gefunden hätte, um diesen Menschen zum Gegenstand physiologischer Untersuchungen zu machen. Schon allein die chemische Untersuchung des Urins, des Speichels und anderer Auswurfsstoffe dieses blos mit Brod und Wasser aufgefütterten jungen Menschen, hätte manches wissenschaftlich nicht unwichtige Ergebniß gehabt, so wie diese wissenschaftlichen Ergebnisse den juridisch bedeutenden Umstand: daß Kaspar bisher wirklich nur mit Wasser und Brod genährt worden, gleichsam zu anschaulicher Gewißheit würden bewahrheitet haben. Als aber die Justiz sich mit der Hauser'schen Angelegenheit zu befassen, endlich, nach vielen vergeblichen Bemühungen von ihrer Seite, in den Stand gesetzt wurde, war die Gelegenheit, solche Untersuchungen nachzuholen, längst vorüber. 

2) Man soll sogar einmal – was ich jedoch nicht zu verbürgen wage – ein Feuergewehr, zur belustigenden Probe, nach ihm abgeschossen haben. – 

3) Er war noch lange nachher äusserst schwach in den Armen, wie in den Füßen. Erst im September 1828, als er schon den Anfang mit Fleischspeisen gemacht hatte, waren seine Kräfte durch wiederholte Uebung so weit gediehen, daß er ein Gewicht von 25 Pfund mit beiden Händen ein wenig vom Boden in die Höhe ziehen konnte. 

4) Nicht lange nachher erwachte jedoch das Gefühl der Schaam; und er wurde nun so verschämt, wie das zartfühlendste, keuscheste Mädchen. Eine Entblößung ist für ihn etwas Entsetzliches. Nachdem das wilde Brasilianische Mädchen Isabella, welches die Hrn. Spix u. Martius mit sich nach München gebracht hatten, einige Zeit unter civilisirten Menschen gelebt und Kleider getragen hatte, war sie nur mit der größten Mühe durch Drohungen und Schläge dahin zu bringen, daß sie, um einem Zeichner zu stehen, sich entkleidete.