BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach:

Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens

am Seelenleben des Menschen

 

1832

 

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[139]

VIII.

 

Träte Kaspar, welcher jetzt zu den gesitteten Menschen von Lebensart gerechnet werden darf, unerkannt in eine gemischte Gesellschaft, so würde er bald Jedermann als eine befremdende Erscheinung auffallen. Sein Gesicht, in welchem die weichen Züge eines Kindes mit den eckigen Formen des Mannes und einigen, leicht gezogenen Furchen vorzeitigen Alters, herzgewinnende Freundlichkeit mit bedächtlichem Ernst und einem leichten Anflug von Melancholie sich vermischen 1); [140] seine Naivetät, zutrauliche Offenheit und oft mehr als kindische Unerfahrenheit, verbunden mit einer gewissen Art von Altklugheit und vornehmer, doch ungezwungener Gravität im Reden und Benehmen; dann die Schwerfälligkeit seiner, zuweilen nach Worten suchenden, oft fremdklingenden, harten Sprache, bei der Steifheit seiner Haltung und der Ungelenkigkeit seiner Bewegungen, – lassen ihn jedem beobachtungsfähigen Auge als ein Gemisch von Kind, Jüngling und Mann erscheinen, ohne daß man sobald mit sich einig werden könnte, welcher Altersstufe dieser einnehmende Mischling wirklich angehöre.

 

 

In seinem Geist regt sich nichts von Genialität, nicht einmal von irgend einem ausgezeichneten Talent 2); was er lernt verdankt er beharrlichem, hartnäckigem Fleiß. Auch jener wildlodernde Feuereifer, womit er Anfangs die Pforten alles Wissens sprengen zu wollen schien, ist [141] längst gedämpft, beinahe erloschen. In Allem was er unternimmt, bleibt er entweder beim Anfang, oder bei der Mittelmäßigkeit stehen. Ohne ein Fünkchen Phantasie, unfähig irgend einen Witz zu machen oder nur eine bildliche Redensart zu verstehen, ist er von trocknem, aber kerngesundem Menschenverstand, und, bezüglich aller Dinge, die zunächst seine Person betreffen, oder innerhalb des engbegrenzten Kreises seiner dürftigen Kenntnisse und Erfahrungen liegen, von so richtig treffendem Urtheil und Scharfsinn, daß er damit manchen gelehrten Schulfuchs beschämen oder in Verlegenheit bringen könnte.

An Verstand ein Mann, an Einsichten ein kleiner Knabe, in Manchem noch weniger als ein Kind, zeigt sein Reden und Benehmen oft eine seltsam contrastirende Mischung von Männlichkeit und kindischem Wesen. Mit ernsthafter Miene und im Tone großer Wichtigkeit thut er nicht selten Aeusserungen, die bei jedem Andern desselben Alters dumm oder läppisch heißen würden, aus seinem Mund aber immer ein wehmüthig mitleidiges Lächeln sich erzwingen. Ganz possirlich nimmt es sich besonders aus, wenn er von seinen künftigen Lebensplanen spricht, von der Art, wie er, wenn er einmal etwas Rechtes gelernt und Geld verdient habe, sich einrichten und mit seiner Frau, die er [142] als einen nothwendigen Hausrath betrachtet, es halten wolle. Unter einer Ehefrau weiß er sich nichts anders zu denken, als eine Haushälterin oder Obermagd, die man so lange behält als sie taugt, und wieder fortschickt, wenn sie öfters die Suppe versalzen, die Hemden nicht ordentlich geflickt, die Kleider nicht gehörig rein gebürstet hat u. s. w.

Mild, sanft, ohne lasterhafte Neigungen, ohne Leidenschaften und Affekte, gleicht sein immer sich gleichbleibendes, stilles Gemüth einem spiegelglatten See in der Ruhe einer Mondscheinnacht. Unfähig einem Thier wehe zu thun, mitleidig gegen den Wurm, den er zu zertreten fürchtet, dabei furchtsam bis zur Feigheit 3), wird er gleichwohl rücksichtlos, sogar schonungslos nach seinem Sinne handeln, sobald es gilt, einmal gefaßte, für Recht erkannte Vorsätze zu behaupten und durchzusetzen. Fühlt er sich in seiner Lage bedrückt, so wird er lange duldend schweigen, dem Beschwerlichen auszubeugen oder dieses durch milde Vorstellungen zu ändern suchen, endlich aber, wenn nichts helfen will, sobald dazu die Gelegenheit sich bietet, die hemmenden Bande ganz gelassen abstreifen, ohne demjenigen, der ihm damit wehe gethan, [143] dafür nachzuzürnen. Er ist gehorsam, willig, nachgebend; aber wer ihm mit Unrecht Etwas schuld gibt, oder als wahr behauptet, was er für unwahr hält, erwarte nicht, daß er, aus bloßer Gefälligkeit oder andern Rücksichten, in das Unrecht oder in die Unwahrheit sich bequeme; er wird bescheiden, doch immer fest, bei seinem Recht stehen bleiben und allenfalls, wenn der Andere hartnäckig gegen ihn das Feld behaupten will, schweigend davon gehen.

Als reifer Jüngling, der seine Kindheit und Jugend verschlafen, zu alt, um noch als Kind, zu kindisch unwissend, um als Jüngling zu gelten; ohne Altersgenossen, ohne Vaterland, ohne Aeltern und Verwandte; gleichsam das einzige Geschöpf seiner Gattung: erinnert ihn jeder Augenblick an seine Einsamkeit mitten im Gewühl der ihn umdrängenden Welt, an seine Ohnmacht, Schwäche und Unbehülflichkeit gegen die Macht der über sein Schicksal gebietenden Umstände, vor allem an die Abhängigkeit seiner Person von der Gunst oder Ungunst der Menschen. Daher seine, ihm gleichsam zur Nothwehr abgedrungene Fertigkeit in Beobachtung der Menschen, sein umsichtiger Scharfblick, womit er schnell ihre Eigenthümlichkeiten und Schwächen auffaßt, die Klugheit – von Uebelwollenden Schlauheit oder Pfiffigkeit genannt – [144] womit er sich in diejenigen, die ihm wohl oder wehe thun können, zu bequemen, Anstößen auszubeugen, sich gefällig zu erweisen, seine Wünsche geschickt anzubringen, den guten Willen seiner Gönner und Freunde sich dienstbar zu machen weiß. Kinderstreiche, Muthwille, Possen sind eben so wenig von ihm zu erzählen, als Beispiele von Bosheit und Tücke; für die ersten ist er zu ernsthaft und kalt verständig, für die letzten zu gutmüthig und bis zur Pedanterei rechtlich.

Einer der größten Mißgriffe in der Erziehung und Bildung dieses Menschen war unstreitig, daß man, statt ihm eine seiner Eigenthümlichkeit angemessene, gemein menschliche Bildung zu geben, ihn seit einigen Jahren auf das Gymnasium schickte, und ihn noch obendrein sogleich in einer höheren Klasse den Anfang machen ließ.  4) Dieser arme verwahrloste Jüngling, der erst seit Kurzem den ersten Blick in die Welt gethan und noch [145] nachzuholen hatte, was unsere Kinder schon an der Mutterbrust, im Schoos ihrer Wärterinnen lernen, mußte auf einmal mit der lateinischen Grammatik, mit lateinischen Exercitien, mit Cornelius Nepos, und endlich gar mit Caesar de bello Gallico seinen Kopf zermartern. In lateinische Schul-Schrauben eingezwängt, erlitt nunmehr sein Geist gleichsam seine zweite Gefangenschaft. Wie früher die Kerkermauern sperrten ihn jetzt die bestaubten Wände der Schulstube von der Natur und dem Leben aus; statt nützlicher Dinge gab man ihm Worte und Phrasen, deren Sinn und Beziehung er nicht zu begreifen fähig war, und verlängerte so auf das widernatürlichste von neuem seine Kindheit. Während er an dürrem Schulkram seine Zeit und seine ohnehin geringen Kräfte vergeuden mußte, darbte er fortwährend an der nothdürftigsten Kenntniß von Dingen, die seine Seele nähren und erfreuen, seinem wunden Gemüth einigen Ersatz für die verlorne Jugend gewähren, und ihm zur Grundlage für irgend einen künftigen Beruf dienen konnten. „Ich weiß gar nicht – sagte er öfters in Unmuth und halber Verzweiflung – wozu ich alle die lateinische Sachen brauchen soll, da ich doch kein Pfarrer werden kann, und kein Pfarrer werden mag.“ Als ihm einst hierauf ein Pedant erwiederte: „das [146] Erlernen der lateinischen Sprache sei ihm der deutschen Sprache wegen unentbehrlich; um gründlich Deutsch zu lernen, müsse man gründlich Latein gelernt haben,“ erwiederte sein gesunder Menschenverstand, „ob denn auch die Römer deutsch hätten lernen müssen, um gründlich lateinisch sprechen und schreiben zu können?“ Wie das Latein zu Kaspar, Kaspar zum Latein paßte, mag man daraus abnehmen, daß dieser bärtige Lateiner, als er im Frühjahr 1831 bei mir lebte, noch nicht einmal die Erfahrung gemacht hatte, daß Gegenstände des Gesichts in der Entfernung kleiner scheinen als sie wirklich sind; er war ganz befremdet darüber, daß die Bäume einer Allee, in der ich mit ihm spazieren ging, immer kleiner und niedriger seien, und der Weg in der Ferne immer schmaler, so daß man am Ende gar nicht mehr hindurchgehen könne. Er hatte so etwas zu Nürnberg noch nicht beobachtet, und gerieth, wie über eine Zauberei, in Erstaunen, als er, mit mir die Allee hinabgehend, endlich fand, daß jeder dieser Bäume gleich hoch und der Weg überall gleich breit sei.

Das drückende Gefühl von seiner Unwissenheit, Unbehülflichkeit und Abhängigkeit; die Ueberzeugung, daß er nie im Stande sein werde, die verlorne Jugend wieder einzubringen, seinen Altersgenossen [147] gleich zu kommen und ein in der Welt brauchbarer Mensch zu werden; daß man mit seiner Jugend ihm nicht blos den schönsten Theil des Menschenlebens genommen, sondern auch sein ganzes übriges Leben ihm verkümmert und verkrüppelt habe; endlich zu diesem allen noch der grausenhafte Gedanke, daß dem kümmerlichen Rest seiner ihm gefristeten Tage jeden Augenblick ein unsichtbares Mordbeil, ein geheimes Banditenmesser drohe: – dies ist der schwere Inhalt der seine Stirn umziehenden Trauerwolken, die, wenn äußere Anlässe sie verdichten, nicht selten in Thränen und wehmüthigen Klagen sich ergießen. Zur Zeit seines Aufenthalts bei mir nahm ich ihn öfters mit mir auf meine Spaziergänge und führte ihn einst an einem freundlichen Morgen auf einen unsrer sogenannten Berge, von wo aus sich über die zu den Füßen liegende, niedliche Stadt und das liebliche, von Anhöhen begränzte Thal, eine schöne heitere Aussicht öffnet. Kaspar, Anfangs von diesem Anblick sehr erfreut, wurde bald still und traurig. Meiner Frage um die Ursache seiner veränderten Stimmung, antwortete er: „Ich denke mir eben, wie es doch so viel Schönes auf der Welt gibt, und wie hart es für mich ist, so lange schon gelebt und nichts davon gesehen zu haben, und wie glücklich die Kinder sind, die alles dies [148] von ihren ersten Jahren an sehen konnten und noch immer sehen können. Ich bin schon so alt, und muß noch immer lernen, was lange schon die Kinder wissen. Ich wollte, ich wäre nie aus meinem Käfig gekommen; wer mich hineingethan, hätte mich auch darin lassen sollen. Dann hätte ich von allen dem nichts gewußt und hätte nichts vermißt und hätte keinen Jammer darüber gehabt, daß ich kein Kind gewesen und so spät auf die Welt gekommen bin.“ Ich suchte ihn damit zu beruhigen, daß ich ihm sagte: „Was die Schönheiten der Natur betreffe, so habe er nicht eben Ursache, sich in Vergleich mit unsern Kindern und mit den Menschen, die seit ihrer Kindheit auf der Welt seien, zu beklagen. Die meisten Menschen, unter diesen Herrlichkeiten aufgewachsen, betrachteten sie, als etwas Gewöhnliches, Alltägliches, mit gleichgültigen Augen, nähmen diese Stumpfheit durch ihr ganzes Leben mit sich und empfänden in der Regel bei den Wundern der Natur nicht mehr, als das Thier auf der Weide. Ihm aber (Kaspar), der als Jüngling in die ihm neue Welt getreten, seien diese Genüsse, in aller ihrer Frische und Reinheit vorbehalten geblieben, und hierin habe er einen nicht geringen Ersatz für den Verlust der früheren Jahre und einen bedeutenden Vorzug vor andern Menschen gewonnen.“ Er [149] erwiederte mir nichts, und schien, wo nicht überzeugt, doch einigermaßen getröstet. Doch wird er zu keiner Zeit jemals über sein Schicksal ganz zu trösten sein. Er ist ein zartes Bäumchen, dem man seine Krone genommen, dessen Herzwurzel ein Wurm zernagt.

Bei solchen Stimmungen, in solchem Gefühl von seiner Lage mußte wohl die Religion, Glaube an Gott und gläubiges Hoffen auf die Vorsehung, Eingang in seine des Trostes bedürftige Seele finden. Er ist jetzt im ächten Sinne des Wortes ein frommer Mensch, spricht mit Andacht von Gott und beschäftigt sich gerne mit vernünftigen Erbauungsschriften. Aber freilich würde er auf keines der symbolischen Bücher schwören und noch weniger in einer andächtigen Gesellschaft von Hengstenberg und Compagnie sich behaglich fühlen 5)

Bei Zeiten den Ammenmährchen der Wärterinnen entrückt, als Kind begraben, als reifer Jüngling zu frischem Leben auferstanden, brachte er eine von Vorstellungen leere, aber auch von allen Vorurtheilen reine, von jedem Aberglauben freie Seele mit auf die Welt des Lichts. Er, [150] dem es Anfangs so schwer war, seines eignen Geistes sich bewußt zu werden, ist noch viel weniger fähig und geneigt, gespenstige Geister sich zu denken. Ueber den Glauben an Gespenster spottet er als über die unbegreiflichste aller menschlichen Albernheiten und fürchtet nichts als den unsichtbaren geheimen Unheimlichen, dessen Mordwerkzeug er empfunden hat. Gäbe man ihm Bürgschaft, daß er gegen diesen Mann gesichert sei, so würde er zu jeder Stunde der Nacht auf einen Kirchhof gehen und ohne Grauen über Gräbern schlafen.

Seine Lebensweise ist jetzt fast ganz die gewöhnliche anderer Menschen. Er genießt, ausgenommen Schweinefleisch, alle Arten von Speisen, doch ohne hitzige Gewürze. Sein liebstes Gewürz blieben Kümmel, Fenchel und Koriander. Sein Getränke besteht noch immer in Wasser; nur Morgens wird dieses von einer Tasse Gesundheits-Chocolade vertreten. Alle gegohrnen Getränke, Bier, Wein, wie auch Thee und Kaffe, sind ihm fortwährend ein Gräuel, und würden, wollte man ihm davon einen Tropfen aufnöthigen, ihn unfehlbar krank machen.'

Die ausserordentliche, fast übernatürliche Erhöhung seiner Sinne hat ebenfalls gegenwärtig ganz nachgelassen und ist beinahe auf das gewöhnliche Maaß herabgestimmt. Er sieht zwar noch [151] immer im Dunkeln, so daß es für ihn keine wahre Nacht, sondern nur Dämmerung gibt; doch ist er nicht mehr im Stande im Finstern, wie sonst, zu lesen oder in weiter Entfernung die kleinsten Gegenstände zu erkennen. Während er ehemals bei dunkler Nacht weit besser und schärfer sah als bei Tag, ist es jetzt umgekehrt. Gleich anderen Menschen verträgt und liebt er nun das Sonnenlicht, das nicht mehr, wie sonst, seine Augen verwundet. Von der Riesenhaftigkeit seines Gedächtnisses und andern staunenswürdigen Eigenschaften ist keine Spur mehr zu finden. Nichts Ausserordentliches ist mehr an ihm, als das Ausserordentliche seines Schicksals und seine unbeschreibliche Güte und Liebenswürdigkeit.

 

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1) Das diesem Werke beigegebene, nach dem Originalgemälde des Hrn. Greil verfertigte Bildniß, ist zwar sprechend ähnlich, zeigt aber nur den heiteren, freundlich lächelnden Kaspar. Seit Verfertigung dieses Bildnisses hat er sich merklich verändert. Sorgen, Gram und Verdruß haben die spärlichen Ueberreste verkümmerter Jugendblüthe fast gänzlich abgestreift. Auf seiner Stirn und um die Augen bilden sich Furchen, seine Backen werden hängend, die Gesichtsfarbe spielt in's Fahle. Er ist ein im Finstern gezogenes Gewächs, das, zu spät ins Sonnenlicht gebracht, nur auf kurze Zeit die Knospen einer Blüthe zeigt und bald verwelkt. 

2) Ausser zum Reiten, das er noch immer leidenschaftlich liebt. An Gewandtheit und Eleganz im Reiten, wie im Aufsitzen und Absitzen kann er es wohl mit dem geschicktesten Stallmeister aufnehmen. Mehren unserer ausgezeichnetesten Offiziere ist Kaspar in dieser Beziehung ein Gegenstand der Verwunderung. 

3) Besonders seit dem an ihm verübten Mordversuch. 

4) Aus welcher Lage er jedoch, während ich dieses Werkchen schrieb, durch die Großmuth des edlen Grafen Stanhope, der ihn als seinen Pflegsohn förmlich angenommen, endlich erlöst worden ist. Er lebt jetzt zu Ansbach, wo er einem tüchtigen Schullehrer übergeben wurde, in dessen häuslicher Pflege er sich zugleich befindet. Später wird er seinem geliebten Pflegvater, unter sicherer Begleitung, nach England folgen. 

5) Er wurde in der Religion erzogen, zu welcher die Mehrheit der Bewohner Nürnbergs sich bekennt, nämlich in der lutherisch-evangelischen.