BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Anselm von Feuerbach,

Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?

Mémoire an Karoline von Baden

 

1832

 

Quelle:

in: Ludwig Feuerbach,

Anselm Ritter von Feuerbach's Leben und Wirken

Zweiter Band, S. 319, Leipzig: Verlag von Otto Wigand, 1852

Faksimile: Google

Digitale Version: Gernot Fligge, Hamburg

 

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[319]

Memoire über Kaspar Hauser 1).

 

Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?

 

Die Rechtsgelehrten haben bei der Entscheidung über Verbrechen, einen Beweis aus dem Zusammentreffen der Um­stände. Auch ich unternehme einen solchen, aus einer Reihe nebeneinander gestellter Vermuthungsgründe zusammengesetzten Beweis, welcher freilich vor keinem Richterstuhle ein entscheidendes Gewicht haben würde, gleichwohl aber hinreichend sein dürfte, um eine sehr starke menschliche Vermuthung, wo nicht vollständige moralische Gewißheit zu begründen.

Die lange Kette dieses Vermuthungsbeweises bildet sich durch folgende Glieder, welche, so fein sie sind, fest in einander greifen. [320]

 

I. Hinsichtlich des Standes desselben im Allgemeinen

 

ergibt sich aus den zu den gerichtlichen Acten gekommenen oder sonst bewahrheiteten Umständen Folgendes:

1) Kaspar Hauser ist kein uneheliches, sondern ein eheliches Kind. Denn wen auch Kaspar, wenn man sich ihn als uneheliches Kind denkt, zum Vater oder zur Mutter gehabt haben möge, so gab es, wenn es darauf ankam, die Paternität oder Maternität zu verheimlichen, weit leichtere, weniger grausame und bei weitem weniger für die Betheiligten gefährliche Mittel, als die ungeheure That der vielleicht 16–17 Jahre lang fortgesetzten, geheimen Gefangenhaltung und endlichen Aussetzung des Kindes. Je vornehmer eines der Eltern gewesen, desto leichter konnte das Kind auf andere Weise entfernt werden, ohne daß es hierzu einer solchen That bedurfte. Leute geringen Standes und geringer Mittel hatten noch weniger Ursache, auf so gefahrvolle, bedeutende Anstalten und Vorrichtungen erfordernde Weise, ihr uneheliches Kind zu verheimlichen. Das Brod und Wasser, das Kaspar heimlich zugebracht wurde, hätte man ihm öffentlich dürfen verzehren lassen. Kurz: man denke sich Kaspar als uneheliches Kind vornehmer oder geringer, reicher oder armer Eltern: so steht das Mittel außer allem Verhältniß zu seinem Zweck. Ganz ohne Ursache, gleichsam blos zum Scherz, übernimmt Niemand die Last eines schweren Capitalverbrechens, zumal wenn er dabei noch obendrein die qual- und angstvolle Mühe hat, dieses Capitalverbrechen 16–17 Jahre lang sorgfältig fortsetzen zu müssen.

2) Bei den an Kaspar begangenen Verbrechen sind Personen betheiligt, welche über große außer­gewöhnliche Mittel zu gebieten haben. Daß sowohl [321] die Aussetzung Kaspar's, als auch der später an ihm verübte Mordversuch in einer Stadt, wie Nürnberg, am hellen Tage, gleichsam öffentlich geschehen konnte, dann aber alle Spuren des Thäters auf einmal verschwanden; daß alle Nachforschungen, die seit nun beinahe drei Jahren mit dem rastlosesten Eifer, geleitet vom vereinten Scharfsinn der erfahrensten Justiz- und Polizeimänner, nach allen Richtungen hin unternommen wurden, in der Art fruchtlos gewesen sind, daß kein juridisch geltend zu machender Umstand entdeckt werden konnte, welcher auf einen bestimmten Ort der Hauptthat, oder auf eine bestimmte Person geführt hätte; daß alle öffentlichen Aufforderungen, daß das große Interesse, welches fast alle Herzen in und außer Deutschland an dem Schicksale des unbekannten Unglücklichen genommen haben, daß ein auf die Entdeckung ausreichender Spuren öffentlich ausgeschriebener Preis von 1000 Fl. keine einzige befriedigende Anzeige herbeigeführt hat: – alles Dieses wird nur daraus erklärbar, daß mächtige und sehr reiche Personen dabei betheiligt sind, welche über gemeine Hindernisse kühn hinwegzuschreiten die Mittel haben, welche durch Furcht, außerordentliche Vortheile und große Hoffnungen willige Werkzeuge in Bewegung zu setzen, Zungen zu fesseln und goldne Schlösser vor mehr als Einen Mund zu legen, die Macht besitzen.

3) Kaspar muß eine Person sein, an dessen Leben oder Tod sich große Interessen knüpfen. Dieses beweist unwidersprechlich der eben so listig angelegte, als keck ausgeführte Mordversuch. Das Ungeheure des Mittels nöthigt jeden gesunden Verstand auf einen mit dem Mittel in Verhältniß stehenden großen Zweck zu schließen. Wer hätte das Interesse haben können, an einem armen, von fremder Barmherzigkeit lebenden Findling den Tod auf dem Schaffot zu wagen? wäre nicht an diesem Findlinge weit mehr gelegen, als an irgend einem Findlinge gelegen sein konnte. [322] Er muß eine Person sein, deren Leben, selbst bei der entfernten Gefahr, es könne einmal ihr Stand und wahrer Name entdeckt werden, die Existenz anderer, und zwar so hoch bedeutender Personen bedrohte, daß er, um jeden Preis, auf jede Gefahr hin, aus dem Wege geräumt werden mußte, und daß zugleich Menschen gefunden werden konnten, die solch ein Wagstück unternahmen.

4) Nicht Rache, nicht Haß konnten Motive zur Einkerkerung und zur versuchten Ermordung dieses unschuldigen, harmlosen Menschen gewesen sein. Es bleibt kein anderer Beweggrund denkbar als der Eigennutz. Er wurde entfernt, damit Anderen Vortheile zugewendet und für immer gesichert würden, welche von Rechtswegen nur ihm gebührten; er mußte verschwinden, damit Andere ihn beerben, er sollte ermordet werden, damit Jene in der Erbschaft sich behaupten konnten.

5) Er muß eine Person hoher Geburt, fürstlichen Standes sein. Dafür sprechen – seltsam genug! – doch auf die überzeugendste Weise – merkwürdige Träume, die Kaspar zu Nürnberg gehabt hat, welche Träume nichts Anderes gewesen sein können, als wiedererwachte Erinnerungen aus seiner früheren Jugend. Ich bemerke hierbei zuvörderst im Allgemeinen, daß Kaspar, als er diese Träume hatte, noch auf sehr niedriger Stufe geistiger Entwickelung stand, nur noch sehr unvollkommen sich äußern konnte und Träume von wirklichen Erscheinungen und Erinnerungen noch nicht zu unterscheiden vermochte. Es ist ferner zu bemerken, daß von den Gegenständen und Scenen, welche Kaspar im Traume gesehen haben will, ihm zu Nürnberg nichts Aehnliches vorgekommen sein konnte. So hatte er z. B. folgenden Traum, welchen ich ihn selbst dieser Tage von Neuem niederschreiben ließ.

„Den 15. Aug. 1828 hatte ich nachstehenden Traum. Es kam mir vor, als wäre ich in einem sehr großen, großen Hause. [323] Da schlief ich in einem sehr kleinen Bette. Als ich aufstand, kleidete mich ein Frauenzimmer an. Nachdem ich angekleidet war, führte sie mich in ein anderes großes Zimmer, in welchem ich sehr schöne Kommode, Sessel und ein Sopha sah. Von da führte sie mich in ein anderes großes Zimmer, worin Kaffeetassen, Schüsseln und Teller waren, die wie Silber aussahen. Von diesem Zimmer aus führte sie mich in ein größeres Zimmer, in welchem sehr viele und sehr schön gebundene Bücher standen. Von diesem Zimmer aus führte sie mich einen langen Gang vor und über eine Treppe hinab. Nachdem wir die Treppe hinuntergegangen waren, gingen wir im Innern des Gebäudes einen Gang herum, an dessen Wand Porträts hingen. Aus den Bogen dieses Ganges konnte man in den Hof hinaussehen. Ehe wir den Gang ganz umgangen hatten, führte sie mich zu einem, mitten im Hofe befindlichen Springbrunnen hin, an welchem ich eine sehr große Freude hatte. Von da führte sie mich wieder zu demselben Bogen, durch welchen wir zum Springbrunnen herausgegangen waren, hin, und dann kehrten wir auf dem Bogengange denselben Weg wieder zurück bis zur Treppe. Als wir zur Treppe kamen, sah ich ein Bildniß stehen, welches in Ritter-Kleidung ausgeschnitten oder ausgehauen war. Das Bildniß hatte auch ein Schwerd in der linken Hand. Oben am Handgriff war ein Löwenkopf angebracht. Dieser Ritter stand auf einer viereckigen Säule, welche mit der Treppe verbunden und angemacht ist. Nachdem ich den Ritter eine Zeitlang angesehen hatte, führte mich das Frauenzimmer eine Treppe hinauf, den langen Gang vor und wollte mit mir zu einer Thüre hineingehen. Diese Thür war aber verschlossen. Sie klopfte an, allein man machte nicht auf. Darauf ging sie mit mir schnell zu einer andern Thüre, und während sie dieselbe öffnen wollte, erwachte ich.“

Das Haus in diesem Traum ist offenbar ein Schloß, ein Palast,[324] der nach seiner äußern Beschaffenheit und innern Eintheilung so genau beschrieben ist, daß ein Baukünstler einen Riß danach entwerfen könnte. In der Reihe der Zimmer, welche Kaspar beschreibt, ist besonders das Bibliothekszimmer und das mit den Silberschränken bemerkenswerth, welches letztere entweder eine Silberkammer oder ein fürstliches Tafelzimmer mit Buffets sein soll: alles dergleichen hatte Kaspar, als er dieses träumte, nirgendwo in Nürnberg zu sehen Gelegenheit gehabt, Träume aber erfinden nichts und schaffen nichts, sie bilden und verarbeiten nur Stoffe, welche sie von Außen empfangen haben. Das Schloß mit diesen Zimmern existirt daher gewiß irgendwo. Daß Löwenköpfe (oder Löwen?) in jenem Traumbilde öfters mit vorkommen, ist sehr bezeichnend.

Aus der Verbindung aller obigen Umstände geht nun zuvörderst die dringende Vermutung, ja die moralische Gewißheit hervor:

„Kaspar Hauser ist das eheliche Kind fürst­licher Eltern, welches hinweggeschafft worden ist, um Andern, denen er im Wege stand, die Sucession zu eröffnen.“

 

II. Die Gefangenhaltung Kaspar's insbesondere betreffend,

 

so stellt sich dieselbe, von Einer Seite betrachtet, als das an dem Unglücklichen begangene Hauptverbrechen, derjenige, der ihn gefangen hielt und ernährte, als ein Bösewicht dar. [Bei diesem Gesichtspunkte blieb von Feuerbach in seinem neuerlich erschienenen Werkchen: „Kaspar Hauser“, stehen, weil er dem Publicum hierüber nicht zu viel sagen durfte, um nicht noch mehr sagen zu müssen. Auf der S. 43 Anm. ** erlaubte er sich nur auf das Wahre, das hinter dem Scheine des dem Auge zunächst sich hervorkehrenden [325] Verbrechens verborgen ist, hinzudeuten, und die weiteren Schlüsse daraus dem Scharfsinn des Lesers zu überlassen. (Fußnote von L. F., die versehentlich in den Text gelangte)] Die ganze Wahrheit ohne Schminke, und ohne theilweise Verhüllung zeigt sich aber im Folgenden:

1) Kaspar wurde freilich gefangen gehalten und spärlich ernährt. Aber man hat auch Beispiele von Menschen, welche gefangen gehalten wurden, nicht in verbrecherischer, sondern in wohlthätiger Absicht, nicht um sie zu verderben, sondern um sie zu retten, ihr Leben gegen ihre Verfolger in Sicherheit zu bringen. Die Art und Weise, wie Kaspar gefangen gehalten wurde, hat diesen Charakter.

Kaspar's Verwahrungsort war ein kleines, gewölbtes Gemach, das sehr gesund gewesen sein muß, weil Kaspar sich nicht erinnert, jemals krank gewesen zu sein oder Schmerzen empfunden zu haben. Dieses Gemach war sehr reinlich gehalten; denn Kaspar, der außer seinem Wächter kein anderes lebendes Geschöpf kannte, hat nicht einmal mit einem lebenden Ungeziefer Bekanntschaft zu machen Gelegenheit gehabt. Keine Ratte, keine Maus, keine Spinne, keine Fliege ist ihm während seiner Haft jemals zu Gesicht gekommen. Auch an seinem Körper wurde er äußerst reinlich gehalten; er spürte nie Ungeziefer an sich; es wurde ihm, während er schlief, die Wäsche gewechselt, es wurden ihm die Nägel beschnitten, wurde wahrscheinlich auch von Zeit zu Zeit gewaschen. Kaspar erinnert sich nicht, jemals lange Nägel gehabt oder irgend einen Schmutz an seinem Körper oder an seinen Hemden, die immer blendend weiß und von nicht grober Leinwand gewesen, bemerkt zu haben. Er erhielt immer regelmäßig sein Brod und Wasser; das Brod aber bestand in einem sogenannten Kipf von gemischtem Mehl, mit Fenchel und Koriander bestreut und war mit Einschnitten versehen, damit bequem die einzelnen Stückchen abgebrochen werden [326] möchten. Es war sogar, so viel möglich, für einige Beschäftigung und Unterhaltung des Kindes gesorgt; zwei hölzerne Pferde und ein hölzerner Hund und seidene bunte Bänder waren ihm zum Spielzeug gegeben. Alles dieses beweist Sorgfalt, Milde, Menschlichkeit. Wäre die Absicht gewesen, den Unglücklichen für immer der Welt zu entziehen, warum hat ihn der Geheime, der ihn in seiner Gewalt hatte, nicht lieber ganz aus der Welt geschafft? Jener Unbekannte, der den Kaspar verborgen hielt, mischte zuweilen Opium unter das Wasser, damit er fest schlafe, wenn er gereinigt werde. Warum nicht einige Gran Opium mehr, damit er auf ewig einschlafe? In dem Kerker, in welchem der Lebende so lange verborgen war, konnte noch leichter der Todte verborgen liegen.

Aber warum so karge Kost? warum nur Wasser und Brod? Höchst wahrscheinlich nur darum, weil derjenige, der den Unglücklichen verborgen hielt, ihn auf andere Weise nicht ernähren konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Wasser und Brod konnte er unbemerkt bei Nacht seinem Gefangenen heimlich zutragen; nicht aber warme Speise.

Das Schicksal eines Mannes aus der Familie des Grafen Stanhope kann hiermit in Vergleichung gestellt werden. Es war, wie ich glaube, der Ur-Urgroßvater des Grafen Stanhope; dieser war von Cromwell geächtet und wurde, bis ihm die Flucht gelang, von seiner ihn zärtlich liebenden Tochter in einem Grabgewölbe verborgen gehalten, wo sie ihn mit einzelnen Brocken, die sie beim Essen heimlich zu sich steckte, auf eigene Lebensgefahr kümmerlich ernährte.

Daß Kaspar für den Mann, „bei dem er immer gewesen“, noch immer eine große Zuneigung fühlt, mit Liebe und Dankbarkeit über ihn sich äußert, immer nur bittet, man möge diesen Mann, wenn man ihn entdecke, mit Strafe verschonen, ist ebenfalls [327] ein Umstand, welcher, mit den obigen Thatsachen zusammen­genommen, den sicheren Schluß begründet:

der Mann, der unsern Kaspar gefangen hielt, war sein Wohlthäter, sein Retter; er hielt ihn gefangen, um ihn vor seinen Verfolgern, vor denen, die ihm nach dem Leben trachteten, zu verbergen.

2) Wenn in Kaspar's Person, aus irgend einer hohen oder nur aus einer vornehmen, angesehenen Familie ein Kind verschwunden wäre, ohne daß man über dessen Tod oder Leben und wie es hinweggekommen, etwas in Erfahrung bringen könne: so müßte längst officiel bekannt sein, in welcher Familie dieses Unglück sich ereignet habe. Denn das Verschwinden eines Kindes ist eine offenkundige Aufsehen erregende Thatsache. Da nun aber seit Jahren, und ungeachtet Kaspar's Schicksal weltbekannt geworden, nicht das Mindeste von einer Familie bekannt geworden, aus welcher vor ungefähr 17–20 Jahren ein Kind heimlicher Weise abhanden gekommen und verschwunden sei: so ist Kaspar nur unter den Todten zu suchen:

ein Kind wurde für todt ausgegeben, wird noch jetzt für todt gehalten; lebt aber noch in der Person des armen Kaspar.

Dieser Umstand, mit den vorhergehenden zusammengereiht, combinirt sich zu folgender muthmaßlicher Geschichte:

das Kind, in dessen Person der nächste Erbe, oder der ganze Mannsstamm seiner Familie erlöschen sollte, wurde heimlich bei Seite geschafft, um nie wieder zu erscheinen. Um aber den Verdacht eines Verbrechens zu entfernen, wurde diesem Kinde, welches vielleicht, als es beseitigt wurde, gerade krank zu Bette gelegen [328] hatte, ein anderes, bereits verstorbenes oder sterbendes Kind unterschoben, dieses alsdann als todt ausgestellt und begraben und so Kaspar angeblich in die Todtenliste gebracht.

War der Arzt des Kindes mit im Spiel, hatte er den Auftrag, das Kind umzubringen; fand er jedoch entweder in seinem Gewissen oder in seiner Klugheit Gründe, den Auftrag scheinbar zu vollziehen, aber das Kind heimlich beim Leben zu erhalten, so konnte dieser fromme Betrug auf das leichteste vollzogen werden.

Zwischen dem Zeitpunkte des vorgespiegelten Todes und der Einkerkerung Kaspar's liegt übrigens, wie sehr wahrscheinlich, ein nicht unbeträchtlicher Zwischenraum. Mancherlei führt nämlich auf die dringende Vermuthung, daß Kaspar, nachdem er zum Schein in Deutschland gestorben war, nach Ungarn geschafft worden ist, dort die ersten Kinderjahre in der Freiheit verlebt hat und erst alsdann, um ihn vor naher Todesgefahr zu retten, eingekerkert worden ist.

Was nun endlich

 

III. die Frage betrifft, in welche hohe Familie

Kaspar gehören möge?

 

so ist nur Ein Haus bekannt, auf das nicht nur mehrere zusammen­treffende allgemeine Verdachtsgründe hinweisen, sondern welches auch durch einen ganz besonderen Umstand speciell bezeichnet ist, nämlich – die Feder sträubt sich, diesen Gedanken niederzuschreiben – das Haus B[aden].

Auf höchst auffallende Weise, gegen alle menschliche Vermuthung, erlosch auf einmal in seinem Mannesstamme das alte Haus der Z[ähringer], um einem blos aus morganatischer Ehe entsprossenen Nebenzweige Platz zu machen! [329]

Dieses Aussterben des Mannesstammes ereignet sich nicht etwa in einer kinderlosen, sondern – seltsam genug! – in einer mit Kindern wohlgesegneten Familie.

Was noch verdächtiger; – zwei Söhne waren geboren; aber diese beiden Söhne starben, und nur sie starben, während die Kinder weiblichen Geschlechts insgesammt bis aus den heutigen Tag noch in frischer Gesundheit blühen. Die Frau Gr[oßherzogin] St[ephanie] ist eine wahrhaft zweite Niobe, nur mit dem Unterschiede, daß Apollo's tödtendes Geschoß ohne Unterschied Söhne und Töchter traf, dort aber der Würgengel an allen Töchtern vorüberging und nur die Söhne erschlug.

 

Stammbaum des Hauses Baden (nicht im Originaltext)

 

Und nicht blos seltsam, sondern einem Wunder ähnlich ist es, daß der Würgengel schon gleichsam an der Wiege beider Knaben steht und diese mitten aus der Reihe seiner Schwestern herausgreift. Zwischen den beiden Prinzessinnen L[uise] und J[osephine] stirbt der erstgeborne Prinz N. N. am 16. October 1812, zwischen den Prinzessinnen J[osephine] und M[arie] stirbt am 8. Mai 1817 der Prinz A[lexander]. Diese Sterbefälle widerstreiten fürwahr jeder physiologischen Wahrscheinlichkeit. Wie wäre es erklärbar, daß eine Mutter demselben Vater lauter gesunde Töchter und als Söhne nur Sterblinge gebiert? In dieser ganzen Begebenheit scheint so viel System, so viel Berechnung hindurch, wie sie nicht dem Zufalle, sondern nur menschlichen Absichten und Planen zuzutrauen ist. Oder man müßte glauben, die Vorsehung selbst habe einmal in den gewöhnlichen Lauf der Natur eingegriffen und Außerordentliches gethan, um einen coup de politique auszuführen.

Wer bei dem Aussterben des Mannesstammes in der Linie des Gr[oßherzogs] C[arl] das nächste, das unmittelbarste Interesse hatte, war unstreitig die Mutter der Herrn Grafen H[ochberg] mit ihren Söhnen. Denn waren ihre Kinder aus morganatischer Ehe für successionsfähig [330] anerkannt, und war der Mannsstamm im Hause des Gr[oßherzogs] C[arl] untergegangen, so mußte wohl nach kurzer Zeit die Succession an die H[ochberg]sche Familie kommen.

Die Gräfin H[ochberg] wird überdies als eine Dame bezeichnet, welche gegen die Gemahlin des Gr[oßherzogs] C[arl] tiefen Haß getragen, welche dabei von unbegrenztem Ehrgeiz und eines solchen Charakters sei, der sie um die Mittel zu ihren Zwecken wenig verlegen mache.

Nun aber komme ich zu einem Umstande, der an sich selbst so klein und unbedeutend ist, daß er sich lange Zeit der Aufmerksamkeit entzog, bis er durch Zusammenhaltung mit einigen genealogischen Thatsachen, nach welchen der Verfasser dieser Schrift lange vergebens gestrebt hatte – sie sind ihm erst vor einigen Wochen aus Frankfurt mitgetheilt worden – seinen Verdacht bis zur moralischen Gewißheit steigerte.

In dem Briefe, der dem armen Kaspar bei seiner Aussetzung in die Hand gegeben worden ist, in Verbindung mit der Einlage zu jenem Briefe 2), sind unter anderem folgende Angaben enthalten: es sei

1) Kaspar geboren am 30. April 1812;

2) er sei dem Unbekannten gelegt worden am 7. October 1812.

 

Brief des Unbekannten (nicht im Originaltext)

 

Hiermit treffen nun, bis auf unbedeutende, leicht erklärbare Abweichungen, die verhängnißvollen Epochen der Geburt und des Todes beider Prinzen, besonders aber des erstgeborenen N. N. wunderbar zusammen. Nämlich:

1) Der Prinz N. N. ist geboren im Jahre 1812, gestorben im Jahre 1812. In demselben Jahre 1812 ist, nach jener Angabe, Kaspar geboren und auch in demselben [331] Jahre 1812 angeblich als Findelkind dem Unbekannten gelegt worden (d. h. aus seiner Familie verschwunden, und in die Gewalt des Unbekannten gekommen).

2) Selbst der Monat des Todes des Prinzen N. N. trifft mit dem Monat der angeblichen Aussetzung des Kindes Kaspar bei jenem Unbekannten überein. Der October ist für beide verhängnißvoll; in diesem Monat desselben Jahrs stirbt Prinz N. N. und wird Kaspar ausgesetzt. Nun ist zwar

3) nicht nur eine kleine Differenz in dem Monats-Tag – dort der 16. October, hier der 7. October – sondern auch eine Abweichung in den Geburts-Tagen, indem der Prinz am 29. Sept. geboren wurde, Kaspar aber am 30. April zur Welt gekommen sein soll. Allein jene Differenz zwischen dem 7. und 16. desselben Monats ist an sich höchst unbedeutend und leicht erklärbar, dagegen ist wieder

4) der 30. April, welcher dem Kaspar als Geburtstag beigelegt wird, von höchster Bedeutung. Dieser ist nämlich gerade der Geburtstag des zweiten Prinzen A[lexander].

Die Ursachen dieser Uebereinstimmungen und Abweichungen sind nicht schwer zu erklären. Es ist leicht möglich, daß der Unbekannte, der von dem Geburts- und angeblichen Todesjahr Kaspar's im Allgemeinen gute Kenntniß hatte, in den einzelnen Datis sich im Irrthum befand, den Geburtstag des zweiten Prinzen (30. April) mit dem des ersten verwechselte, und sich, während ihm der October als Sterb-Monat noch im treuen Gedächtniß lag, nur in dem Monats-Tag vergriff (statt des 16. October der 7. – ein unbedeutender Unterschied von 8 bis 9 Tagen).

Indessen scheint mir die Abweichung ganz absichtlich aus guten Gründen geschehen zu sein. [332]

Derjenige, der unsern Kaspar in Gewahrsam hatte, ihn nach Nürnberg brachte oder schaffte und den Brief nebst Beilage schrieb oder schreiben ließ, war höchstwahrscheinlich ein katholischer Geistlicher, vielleicht ein Klostergeistlicher. Diesem, der auch, wie die demselben mitgegebenen geistlichen Büchlein bekunden, für Kaspar's Seelenheil besorgt war, mußte es eine große Verruchtheit dünken, den Unglücklichen ohne allen Ausweis über seine Geburt in die Welt zu stoßen. Wäre aber dieser Mann dem rechten Datum in Allem vollkommen getreu geblieben; so mußte er mit Recht eine nur zu schnelle Entdeckung befürchten. Um daher in der Hauptsache bei der Wahrheit zu bleiben, ohne das Geheimniß zu verrathen, mußte der Wahrheit etwas Lüge beigemischt werden, und so wurde denn, um auch so noch von der Wahrheit so wenig als möglich abzuweichen, blos ein Datum im richtig angegebenen Monat (October) um einige Tage zurückgeschoben, und ihm nebenbei der 30. April aus dem Leben seines jüngeren Bruders beigelegt.

Nicht unbedeutend ist es, daß nicht lange nach dem Erscheinen Kaspar's zu Nürnberg sich das Gerücht – und zwar von B[aden] her, verbreitete: Kaspar sei ein für todt ausgegebener Prinz des B[aden]schen Hauses und zwar ein Sohn der Gr[oßherzogin] S[tephanie]; daß dieses Gerücht von Zeit zu Zeit wieder laut geworden ist, am lautesten aber in der neuesten Zeit; daß neuerlich unter der Form einer angeblichen Geistererscheinung, von welcher öffentliche Blätter erzählten, die Behauptung angedeutet wurde, die Familie H[ochberg] besitze durch Usurpation den Thron, es sei noch ein ächter Prinz am Leben; daß sogar erst vor einigen Tagen, aus einer Stuttgarter Zeitung, in einem Augsburger Blatt die Behauptung zu lesen war: „Kaspar Hauser sei der mutmaßliche Prätendent von B[aden].“ Gerüchte sind freilich nur Gerüchte, sind aber darum nicht zu verachten; sie fließen oft aus sehr echten Quellen; sie haben, wo es geheimen Verbrechen [333] gilt, häufig darin ihre Entstehung, daß der eine oder andere Mitwissende geplaudert hat, mit seinem Vertrauen zu freigebig gewesen oder sonst eine verrätherische Unvorsichtigkeit begangen hat, oder weil ein Mitschuldiger, um sein Gewissen zu erleichtern, oder um sich wegen getäuschter Hoffnungen zu rächen und dergl., im Stillen die Entdeckung der Wahrheit herbeizuführen sucht, ohne an sich selbst zum Verräther werden zu müssen u. s. w.

Aus diesen Gründen zählen die Rechtsgelehrten auch Gerüchte (die famam publicam) zu den Anzeigungen (Indicien) von Verbrechen und deren Urhebern oder Theilnehmern.

 

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1) Königin Caroline von Bayern übersandt. 

2) Vergl. Feuerbach's Schrift über Kaspar Hauser S. 12-15.