BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Philipp Heinrich Welcker (1794 - 1871)

Hauser. Ein lyrisches Gedicht

Mit einem Anhang der wichtigsten bis

jetzt bekannt gewordenen Nachrichten

über den unglücklichen Findling

 

1835

 

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Hauser: Ein lyrisches Gedicht.

 

[1]

Irgendwo, doch ach! auf deutschen Auen,

Liegt ein Kerker, tiefversteckt,

Ist ein Kerker noch bedeckt

Von geheimnißvollem Grauen.

In dem Käfig, stillbewacht,

Wird in jeder Mitternacht

Brod und Wasser dargebracht;

Doch kein Quäler ist zu schauen.

In dem Raum, so schmal und karg –

Nur zwei Ellen Höh' und Breite,

Nur zwei Ellen lang die Seite! –

Sagt, wen Bosheit hier verbarg?

Gegen wen die Hölle wüthet,

Gegen wen sie Rache brütet,

Wen sie foltert, teuflisch hütet,

In dem fürchterlichen Sarg?

 

[2]

Wer von uns, so schwarzumschattet,

Einsam säß' in solcher Enge,

Lebend in die Gruft bestattet,

Ohne Himmel, ohne Klänge,

Einsam nur mit seiner Seele! –

Weh dem Höllenangstbedrohten!

Ach, die Gottesackerhöhle

Legt den Todten doch – zu Todten!

 

Irgenwo, wohin kein Licht gedrungen

Und kein Frühlingsduft, kein Schall,

Wo des Donners Wiederhall

Tief im Abgrund nie geklungen;

Wo kein Engel Trost verlieh,

Kein Gebet erscholl und nie,

Spät des Abends, oder früh,

Eine Mutter hat gesungen:

Dort, – und Seelenmord beginnt

Langsam mit dem Opiumbecher, –

Dort im Dunkel, schwach und schwächer,

Seelentodt und geistesblind,

Saß, auf faules Stroh gebettet,

An ein kurzes Band gekettet,

Saß, von keinem Gott gerettet,

Dreizehn Jahre lang ein Kind!

 

Hört! Es saß ein Kind gefangen,

Und es hat noch nichts verschuldet

[3]

Und noch Böses nie begangen,

Aber unnennbar geduldet!

Völker, hört das Gräßlichwahre,

Hört es an in allen Landen!

Dreizehn schaudervolle Jahre

Saß ein armes Kind in Banden!

 

Zum verlaßnen Kind in Qualbedrängniß,

Das, der Welt verborgen, litt,

Sieh! ein Unbekannter tritt

Einst in's niedrige Gefängniß;

Steht gebückt und traulichnah

Vor dem Schreckerfüllten da,

Der den ersten Menschen sah

In dem Kerkernacht-Verhängniß;

Zeigt im engen Zwingergrund

Auf das Spiel des armen Knaben,

Auf zwei Rößlein, – seine Gaben, –

Gibt sich als Ernährer kund.

Und der Hehler vom Verbrechen,

Das die Jahre werden rächen,

Lehrte Worte sinnlos sprechen

Seinen sprachentwöhnten Mund.

 

Und dann wird der Kerkersclave

Einst um Mitternacht entrissen

Seinem träumelosen Schlafe

Wird in langen Finsternissen

[4]

Treppenaufwärts fortgetragen,

Bis er freie Lüfte trinket,

Und, betäubt von neuen Plagen,

Wie zum Tod, zum Schlummer sinket.

 

Und wer ist zu Nürnberg dort der Knabe,

Plötzlich an das Licht der Welt

Als ein Räthsel hingestellt?

Ach ein Brief ist seine Habe,

Armuth, unerhöres Leid,

Oede Geistesdunkelheit! –

Ohne Sprache, Gang und Zeit

Stiegst Du zitternd aus dem Grabe,

Den nach langer Todesruh

Schmerzlich nun der Tag berührte,

Den die müde Bosheit führte

Endlich noch dem Leben zu,

Angestaunter, vielbefragter

Junger Dulder! Du verzagter,

Von Europa lautbeklagter,

Unglücksel'ger Hauser Du!

 

Willst du nicht dein Auge schließen,

Heller Tag! in Graun verloren?

Einen Aermern, so wie diesen,

Hat die Erde nie geboren!

Erde! willst du nicht vergüten

Ihm, dem schwer gekränkten Wesen?

[5]

Menschen! wollt ihr ihn nicht hüten,

Daß ihm Seel' und Leib genesen?

 

Klagend blicket nach dem Sternenbogen

Nun der arme Fremdling auf,

Daß ihm freien Lebenslauf

Hat ein Tigerherz entzogen;

Daß er schaut in Nacht zurück,

Daß er um des Aermsten Glück,

Um die Kindheit, um den Blick

Nach dem Himmel, – ward betrogen . . .

Doch es sinkt des Geistes Flor,

Freude röthet seine Wangen;

Und, gepflegt und liebumfangen,

Richtet er sich froh empor,

Eine späterweckte Blüte;

Steht mit kindlichem Gemüthe,

Mit der rührendmilden Güte

Hoffend nun am Lebensthor.

 

Wehe! Mitleid, Lieb' und Wonne

Zogen aus den Menschenhallen;

Weh! den Aermsten dieser Sonne

Hat ein Mörder noch befallen!

Mörder, seine kurze Stunde

Wolltest Du, sein Letztes, rauben? –

Fluch Dir! Nahm das Mal der Wunde

Nun ihm auch den Menschenglauben?

 

[6]

Welch' ein Schatten, welch' ein langer, grauer,

Mitten in dem Sonnenglanz,

Wie ein fahler Todtenkranz,

Schwebt um ihn mit wüster Trauer? –

Mitten in dem Paradies

Sieht er noch sein Erdverließ,

Das ihn in die Nacht verstieß,

Fühlt er noch den Grabesschauer.

Und der Nebelschleier dort? –

Das ist die verlorne Kindheit!

Das ist seine lange Blindheit!

Das ist seines Geistes Mord!

Die zertretne Saat und Garbe,

Die verblaßte Jugendfarbe,

Seine stahlgeschnittne Narbe,

Seiner Wüste grimmer Nord!

 

Ach, in seine stumme Wüste,

Wie beim todten Letheflusse,

Trat die Liebe nicht und grüßte

Ihn mit lebenswarmem Kusse!

Ja, die mordbefleckten Diebe

Hatten ihm den Lenz genommen:

Doch – unsäglichzarte Liebe

War zu Menschen ihm entglommen.

 

Ansbach! – nun sein Zufluchtsort, – beschütze

Den Verfolgten vor dem Sturm! –

[7]

Himmel, schonst du Blum' und Wurm?

Sey dem Bangen Schild und Stütze!

Laß ihn ruhig sinnen nur!

Eine fürchterliche Spur

Auf der frühsten Kindheit Flur

Zeigen ihm Erinn'rungsblitze,

Und es leuchtet ihm schon nah. –

Fremder Sprache traute Töne

Klingen ihm in Zauberschöne,

Daß er Längstvergeßnes sah.

Haus und Amme lacht ihm wieder,

„Mutter!“ „Vater!“ hallt's, wie Lieder;

Nur zwei Worte noch. Du Müder,

Such'! – Dein Räthsel löst sich da!. . . .

 

Hülle dich in tiefe Trauer,

Erde, frisch von Blut geröthet!

Dort in Ansbach's Kirchhofsmauer

Liegt Europa's Kind getödtet!

Sonne, flieh zur tiefsten Wolke! –

Von dem Mörderdolch durchstochen,

Heißbeweint von allem Volke,

Ist das ärmste Herz gebrochen!

 

Deutschland, hör'! Es saß ein Kind begraben,

Ohne Leben, doch nicht todt,

Nur bei Wasser und bei Brod,

Und nicht kannt' es – seinen Raben.

[8]

Stets allein im Erdenschoos

Und vergiftet, wuchs es groß,

Stummgemacht, erinn'rungslos! –

Hör'! und dem bestohlnen Knaben,

Einem unglücksel'gen Haupt,

Einem heimathloscn Pilger

Haben teuflische Vertilger, –

Einem Zweige, frühentlaubt,

Einer kaumerweckten Leiche,

Einem Bettler haben – Reiche,

Daß der Tod sein Antlitz bleiche,

Noch den Tropfen Zeit geraubt!

 

Völker, hört das Gräßlichwahre,

Hört es an in allen Landen!

Dreizehn schaudervolle Jahre

Saß ein armes Kind in Banden!

Und ein Haus mit hohen Säulen

Hat das schreckliche vollendet.

Und der Unschuld seine Eulen,

Blut'ge Mörder, zugesendet! –.

 

Wilde Leuen, blutbefleckte Tiger,

Mordlust habt ihr euch erwählt

Und ihr würgt; doch – langsam quält

Und dann mordet euer Sieger,

Ach, der Mensch! – Der übertrifft

Euch durch Bosheit, Dolch und Gift

Und verfälschet Wort und Schrift,

[9]

Der erbärmliche Betrüger!

Heulend in des Mondes Schein

Schweift die gräßliche Hyäne;

Ach, sie kennt ja keine Thräne

Und sie plagt des Hungers Pein! . . .

Hungernd kann sie nimmer harren;

Sie durchbricht die Gräberbarren,

Um die Todten aus zuscharren;

Doch – sie gräbt kein Leben ein!

 

Kriech' aus deiner Felsenkammer

Kühn hervor, erzürnte Schlange!

Du verstehst ja nicht den Jammer

Und die gramgebleichte Wange! . . .

Steinern Deine Brust und erzig,

Flieh, o Mensch, Du wuthentbrannter!

Lämmer noch vor Dir, – barmherzig

Sind der Schakal und der Panther!

 

Ach, in welchen teuflischen Geweben

Lagst Du, bleicher Unglückssohn? –

Hatten feile Mönche schon

Schuld und Mord voraus vergeben? –

Mutter! kennst Du nicht dein Blut?

Unterm Herzen hat's geruht! . . . .

Welcher Erbe hat sein Gut

Ihm geraubt und Glück und Leben?

Bleiches Weib, erbebst Du nicht?

[10]

Sieh, das ist des Kindes Schatten!

Mann, das sind die Kerkermatten! . . . .

Euch, Euch selbst entflieht Ihr nicht

Tief im Schlamm der Meereswelle,

Unter schwarzem Berggerölle!

Denn Gedanken sind die Hölle

Und Gedanken das Gericht! –

 

Berg und Thäler, habt ihr Stimmen,

Nächte, sprecht ihr eine Sprache,

Wege, könnt ihr auch ergrimmen,

Ruft zum Mörderhaus die Rache!

Mond und Sternenhimmel, suche,

Die noch jetzt im Dunkel schleichen,

Die Beladnen mit dem Fluche,

Mit dem großen Kainszeichen!

 

Leucht' in jedes Dunkel, Sonnenfeuer,

Auf den Kerker, auf den Mord! –

Auf, ihr Vögel, eilet fort,

Auf, ihr wilden Rachegeier!

Ziehet mit dem stummen Graus,

Flattert hin von Haus zu Haus,

Spähet jeden Winkel aus,

Und entdeckt die Ungeheuer! . . . .

Und Du findest sie gewiß,

Wär's auch in der Kluft der Berge,

Wär's auch in der Nacht der Särge,

In dem Bett der Finsterniß;

[11]

Durch die Wachen zu der Schande

Dringst Du, bis zum Meeresstrande

Bis hinauf zum Sternenlande,

Fürchterliche Nemesis! – –

 

Wär's auch auf dem Krankenbette,

Wär's auch in den Sterbestunden,

Zeig' den Mördern Hausers Kette,

Zeig' den Mördern Hausers Wunden;

Wenn sich Leib und Seele trennen,

Wecke sie vom Todtenschlafe,

Daß sie noch die Schuld bekennen,

Grausend vor der ew'gen Strafe! . . . .

 

Blasser Schläfer mit der Leichenrose,

Frieden Gottes Dir und Ruh! –

Nun im Licht erkennest Du,

Ach, von welchem Mutterschoose

Du zum Jammer warst gesandt,

Und das frühzerrißne Band,

Vater, Brüder, Heimathland,

Du, der Stille, Freudenlose.

Und Ihr Alle, die so gern

Sind gefolgt mit Lieb' und Klage

Seiner Spanne trüber Tage,

Seinem leidensvollen Stern,

[12]

Seht! wo Fromme nicht mehr trauern,

Nicht vor Mord und Kerkermauern

Und entmenschten Herzen schauern,

Ist er nun von Qualen fern.

 

Aermrer Bruder des Gefangnen

Frankreichs mit der Eisenlarve *),

Hauser! Dir, dem Frühvergangnen,

Scholl das Lied der Trauerharfe.

Jüngling, der kein Heil gefunden,

Opfer, tausendfachmißhandelt,

Gott nun heilt Dir Deine Wunden,

Und – die Rachegöttin wandelt!

 

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*) Der Mann mit der eisernen Maske (oft nur Die Eiserne Maske) († 19. November 1703) war ein unbekannter und geheimnisvoller Staatsgefangener von Ludwig XIV., der von 1669 bis zu seinem Tod 1703 inhaftiert war. Seine Identität ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. (Wikipedia)