BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Peter Hebel

1760 - 1826

 

Allemannische Gedichte

Für Freunde ländlicher Natur und Sitten

 

1803

 

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[95]

Noch eine Frage.

 

Und weisch denn selber au, du liebi Seel,

worum de dine zarte Chinde d' Freud

in so ne stachlig Bäumli  *) ine henksch?

Wil's grüeni Blättli het im Winter, meinsch,

und Dörnli dra, aß 's Büebli nit, wie 's will

die schöne Sachen use hökle cha.

's wär nit gar übel gfehlt, doch weischs nit recht.

Denkwol, i sag ders, und i freu mi druf;

Lueg, liebi Seel, vom Menschelebe soll

der dornig Freudebaum en Abbild sy.

Nooch by nenander wohne Leid und Freud,

und was der 's Lebe süeß und liebli macht,

und was no schöner in der Zukunft schwebt,

[96]

de freusch di druf, doch in der Dörne hangts.

Was denksch derzu? Zum Erste sagi so:

Wenn Wermeth in di Freudebecher fließt

und wenn e scharfe Schmerz dur's Lebe zuckt,

verschrick nit drab, und stell di nit so fremd!

Di eigni Muetter selig, tröst sie Gott,

sie het der 's Zeichen in der Chindheit ge;

drum denk: «Es isch e Wiehniechtchindli-Baum,

nooch by nenander wohne Freud und Leid.»

Zum Zweyte sagi das: Es wäre nit gut,

wenns anderst wär. Was us de Dorne luegt,

sieht gar viel gattiger und schöner us,

und 's fürnehmst isch, me het au länger dra.

's wär iust, as wemme Zuckerbrod und Nuß,

und was am Bäumli schön und glitz'rig hangt,

uf eimol in e Suppeschüßle thät,

und stellti 's umme: «Iß so lang de magsch,

und näumis do isch!» Wär's nit Uhverstand?

[97]

Zum Dritte sagi: Wemmen in der Welt

will Freude hasche, Vorsicht ghört derzu;

sust lengt me bald in d' Aglen und in Dörn,

und zieht e leeri Hand voll Schrunde z'ruck.

Denn d' Freud hangt in de Dorne. Denk mer dra,

und thue ne wenig gmach! Doch wenn de's hesch,

se loß ders schmecke! Gunn ders Gott der Her!

 

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*) Stechpalme.