BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Heine

1797 - 1856

 

Reisebilder

 

Die Nordsee

 

Text:

Heinrich Heine

Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke

(Düsseldorfer Ausgabe), Band VI

hrsg. von Manfred Windfuhr

Hamburg 1973

Digitale Version auf der Grundlage der leider

nicht mehr im Netz verfügbaren Ausgabe der

Akademie der Wissenschaften in Göttingen

 

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Reisebilder.

Zweyter Theil.

 

Die Nordsee.

1826

Dritte Abtheilung.

 

M o t t o :

Varnhagen von Enses

«Biographische Denkmahle».

1. Teil, S. 1 und 2

 

Die Insel Norderney.

Stahlstich von Johann Heinrich Sander.

(nach 1830, Landesbildstelle Rheinland)

 

 

(Geschrieben auf der Insel Norderney.)

 

– – – Die Eingeborenen sind meistens blutarm und leben vom Fischfang, der erst im nächsten Monath, im Oktober, bey stürmischem Wetter, seinen Anfang nimmt. Viele dieser Insulaner dienen auch als Matrosen auf fremden Kauffahrtheyschiffen und bleiben jahrelang vom Hause entfernt, ohne ihren Angehörigen irgend eine Nachricht von sich zukommen zu lassen. Nicht selten finden sie den Tod auf dem Wasser. Ich habe einige arme Weiber auf der Insel gefunden, deren ganze männliche Familie solcher Weise umgekommen; was sich leicht ereignet, da der Vater mit seinen Söhnen gewöhnlich auf demselben Schiffe zur See fährt.

Das Seefahren hat für diese Menschen einen großen Reitz; und dennoch, glaube ich, daheim ist ihnen allen am wohlsten zu Muthe. Sind sie auch auf ihren Schiffen sogar nach jenen südlichen Ländern gekommen, wo die Sonne blühender und der Mond romantischer leuchtet, so können doch alle Blumen dort nicht den Leck ihres Herzens stopfen, und mitten in der duftigen Heimath des Frühlings sehnen sie sich wieder zurück nach ihrer Sandinsel, nach ihren kleinen Hütten, nach dem flackernden Heerde, wo die Ihrigen, wohlverwahrt in wollenen Jacken, herumkauern, und einen Thee trinken, der sich von gekochtem Seewasser nur durch den Namen unterscheidet, und eine Sprache schwatzen, wovon kaum begreiflich scheint, wie es ihnen selber möglich ist, sie zu verstehen.

Was diese Menschen so fest und genügsam zusammenhält, ist nicht so sehr das innig mystische Gefühl der Liebe, als vielmehr die Gewohnheit, das naturgemäße Ineinander-Hinüberleben, die gemeinschaftliche Unmittelbarkeit. Gleiche Geisteshöhe, oder, besser gesagt, Geistesniedrigkeit, daher gleiche Bedürfnisse und gleiches Streben; gleiche Erfahrungen und Gesinnungen, daher leichtes Verständniß unter einander; und sie sitzen verträglich am Feuer in den kleinen Hütten, rükken zusammen, wenn es kalt wird, an den Augen sehen sie sich ab,was sie denken, die Worte lesen sie sich von den Lippen, ehe sie gesprochen worden, alle gemeinsamen Lebensbeziehungen sind ihnen im Gedächtnisse, und durch einen einzigen Laut, eine einzige Miene, eine einzige stumme Bewegung erregen sie unter einander so viel Lachen, oder Weinen, oder Andacht, wie wir bey unseres Gleichen erst durch lange Exposizionen, Expektorazionen und Deklamazionen hervorbringen können. Denn wir leben im Grunde geistig einsam, durch eine besondere Erziehungsmethode oder zufällig gewählte, besondere Lektüre hat jeder von uns eine verschiedene Charakterrichtung empfangen, jeder von uns, geistig verlarvt, denkt, fühlt und strebt anders als die Andern, und des Mißverständnisses wird so viel, und selbst in weiten Häusern wird das Zusammenleben so schwer, und wir sind überall beengt, überall fremd, und überall in der Fremde.

In jenem Zustande der Gedanken- und Gefühlsgleichheit, wie wir ihn bey unseren Insulanern sehen, lebten oft ganze Völker und haben oft ganze Zeitalter gelebt. Die römisch-christliche Kirche im Mittelalter hat vielleicht einen solchen Zustand in den Korporazionen des ganzen Europa begründen wollen, und nahm deßhalb alle Lebensbeziehungen, alle Kräfte und Erscheinungen, den ganzen physischen und moralischen Menschen unter ihre Vormundschaft. Es läßt sich nicht läugnen, daß viel ruhiges Glück dadurch gegründet ward und das Leben warminniger blühte, und die Künste, wie still hervorgewachsene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten, die wir noch jetzt anstaunen, und mit all unserem hastigen Wissen nicht nachahmen können. Aber der Geist hat seine ewigen Rechte, er läßt sich nicht eindämmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengeläute; er zerbrach seinen Kerker und zerriß das eiserne Gängelband, woran ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im Befreyungstaumel über die ganze Erde, erstieg die höchsten Gipfel der Berge, jauchzte vor Uebermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, grübelte über die Wunder des Tages, und zählte die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages haben wir noch nicht enträthselt, die alten Zweifel sind mächtig geworden in unserer Seele - ist jetzt mehr Glück darin, als ehemals? Wir wissen, daß diese Frage, wenn sie den großen Haufen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber wir wissen auch, daß ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein wahres Glück ist, und daß wir, in den einzelnen zerrissenen Momenten eines gottgleicheren Zustandes, einer höheren Geisteswürde, mehr Glück empfinden können, als in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen Köhlerglaubens.

Auf jeden Fall war jene Kirchenherrschaft eine Unterjochung der schlimmsten Art. Wer bürgte uns für die gute Absicht, wie ich sie eben ausgesprochen? Wer kann beweisen, daß sich nicht zuweilen eine schlimme Absicht beymischte? Rom wollte immer herrschen, und als seine Legionen fielen, sandte es Dogmen in die Provinzen. Wie eine Riesenspinne saß Rom im Mittelpunkte der lateinischen Welt und überzog sie mit seinem unendlichen Gewebe. Generazionen der Völker lebten darunter ein beruhigtes Leben, indem sie das für einen nahen Himmel hielten, was bloß römisches Gewebe war; nur der höherstrebende Geist, der dieses Gewebe durchschaute, fühlte sich beengt und elend, und wenn er hindurch brechen wollte, erhaschte ihn leicht die schlaue Weberinn, und sog ihm das kühne Blut aus dem Herzen; - und war das Traumglück der blöden Menge nicht zu theuer erkauft für solches Blut? Die Tage der Geistesknechtschaft sind vorüber; alterschwach, zwischen den gebrochenen Pfeilern ihres Colisäums, sitzt die alte Kreuzspinne, und spinnt noch immer das alte Gewebe, aber es ist matt und morsch, und es verfangen sich darin nur Schmetterlinge und Fledermäuse, und nicht mehr die Steinadler des Nordens.

– Es ist doch wirklich belächelnswerth, während ich im Begriff bin, mich so recht wohlwollend über die Absichten der römischen Kirche zu verbreiten, erfaßt mich plötzlich der angewöhnte protestantische Eifer, der ihr immer das Schlimmste zumuthet; und eben dieser Meinungszwiespalt in mir selbst giebt mir wieder ein Bild von der Zerrissenheit der Denkweise unserer Zeit. Was wir gestern bewundert, hassen wir heute, und morgen vielleicht verspotten wir es mit Gleichgültigkeit.

Auf einem gewissen Standpunkte ist alles gleich groß und gleich klein, und an die großen europäischen Zeitverwandlungen werde ich erinnert, indem ich den kleinen Zustand unserer armen Insulaner betrachte. Auch diese stehen an der Grenze einer solchen neuen Zeit, und ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird gestört durch das Gedeihen des hiesigen Seebades, indem sie dessen Gästen täglich etwas Neues ablauschen, was sie nicht mit ihrer altherkömmlichen Lebensweise zu vereinen wissen. Stehen sie des Abends vor den erleuchteten Fenstern des Conversazionshauses, und betrachten dort die Verhandlungen der Herren und Damen, die verständlichen Blicke, die begehrlichen Grimassen, das lüsterne Tanzen, das vergnügte Schmausen, das habsüchtige Spielen u. s. w., so bleibt das für diese Menschen nicht ohne schlimme Folgen, die von dem Geldgewinn, der ihnen durch die Badeanstalt zufließt, nimmermehr aufgewogen werden. Dieses Geld reicht nicht hin für die eindringenden, neuen Bedürfnisse; daher innere Lebensstörung, schlimmer Anreitz, großer Schmerz. Als ich ein Knabe war, fühlte ich immer eine brennende Sehnsucht, wenn schöngebackene Torten, wovon ich nichts bekommen sollte, duftig-offen, bey mir vorübergetragen wurden; späterhin stachelte mich dasselbe Gefühl, wenn ich modisch entblößte, schöne Damen vorbeyspatzieren sah; und ich denke jetzt, die armen Insulaner, die noch in einem Kindheitszustande leben, haben hier oft Gelegenheit zu ähnlichen Empfindungen, und es wäre gut, wenn die Eigenthümer der schönen Torten und Frauen solche etwas mehr verdeckten. Diese vielen unbedeckten Delikatessen, woran jene Leute nur die Augen weiden können, müssen ihren Appetit sehr stark wecken, und wenn die armen Insulanerinnen, in ihrer Schwangerschaft, allerley süßgebackene Gelüste bekommen, und am Ende sogar Kinder zur Welt bringen, die den Badegästen ähnlich sehen, so ist das leicht zu erklären. Ich will hier durchaus auf kein unsittliches Verhältniß anspielen. Die Tugend der Insulanerinnen wird durch ihre Häßlichkeit, und gar besonders durch ihren Fischgeruch, der mir wenigstens unerträglich war, vor der Hand geschützt. Ich würde, wenn ihre Kinder mit badegästlichen Gesichtern zur Welt kommen, vielmehr ein psychologisches Phänomen erkennen, und mir solches durch jene materialistisch-mystischen Gesetze erklären, die Goethe in den Wahlverwandtschaften so schön entwickelt.

Wie viele räthselhafte Naturerscheinungen sich durch jene Gesetze erklären lassen, ist erstaunlich. Als ich voriges Jahr, durch Seesturm, nach einer anderen ostfriesischen Insel verschlagen wurde, sah ich dort in einer Schifferhütte einen schlechten Kupferstich hängen, la tentation du vieillard überschrieben, und einen Greis darstellend, der in seinen Studien gestört wird, durch die Erscheinung eines Weibes, das bis an die nackten Hüften aus einer Wolke hervortaucht; und sonderbar! die Tochter des Schiffers hatte dasselbe lüsterne Mopsgesicht, wie das Weib auf jenem Bilde. Um ein anderes Beyspiel zu erwähnen: im Hause eines Geldwechslers, dessen geschäftführende Frau das Gepräge der Münzen immer am sorgfältigsten betrachtet, fand ich, daß die Kinder in ihren Gesichtern eine erstaunliche Aehnlichkeit hatten mit den größten Monarchen Europas, und wenn sie alle beysammen waren und mit einander stritten, glaubte ich einen kleinen Kongreß zu sehen.

Deßhalb ist das Gepräge der Münzen kein gleichgültiger Gegenstand für den Politiker. Da die Leute das Geld so innig lieben und gewiß liebevoll betrachten, so bekommen die Kinder sehr oft die Züge des Landesfürsten, der darauf geprägt ist, und der arme Fürst kommt in den Verdacht, der Vater seiner Unterthanen zu seyn. Die Bourbonen haben ihre guten Gründe, die Napoleonsd'or einzuschmelzen; sie wollen nicht mehr unter ihren Franzosen so viele Napoleonsköpfe sehen. Preußen hat es in der Münzpolitik am weitesten gebracht, man weiß es dort, durch eine verständige Beymischung von Kupfer, so einzurichten, daß die Wangen des Königs auf der neuen Scheidemünze gleich roth werden, und seit einiger Zeit haben daher die Kinder in Preußen ein weit gesünderes Ansehen, als früherhin, und es ist ordentlich eine Freude, wenn man ihre blühenden Silbergroschengesichtchen betrachtet.

Ich habe, indem ich das Sittenverderbniß andeutete, womit die Insulaner hier bedroht sind, die geistliche Schutzwehr, ihre Kirche, unerwähnt gelassen. Wie diese eigentlich aussieht, kann ich nicht genau berichten, da ich noch nicht darin gewesen. Gott weiß, daß ich ein guter Christ bin, und oft sogar im Begriff stehe, sein Haus zu besuchen, aber ich werde immer fatalerweise daran verhindert, es findet sich gewöhnlich ein Schwätzer, der mich auf dem Wege festhält, und gelange ich auch einmal bis an die Pforten des Tempels, so erfaßt mich unversehens eine spaßhafte Stimmung, und dann halte ich es für sündhaft, hineinzutreten. Vorigen Sonntag begegnete mir etwas der Art, indem mir vor der Kirchthür die Stelle aus Goethes Faust in den Kopf kam, wo dieser mit dem Mephistopheles bey einem Kreuze vorübergeht und ihn fragt:

 

Mephisto, hast Du Eil?

Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder?

 

Und worauf Mephistopheles antwortet:

 

Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurtheil;

Allein es ist mir mahl zuwider.

 

Diese Verse sind, so viel ich weiß, in keiner Ausgabe des Fausts gedruckt, und bloß der selige Hofrath Moritz, der sie aus Goethes Manuskript kannte, theilt sie mit in seinem «Philipp Reiser», einem schon verschollenen Romane, der die Geschichte des Verfassers enthält, oder vielmehr die Geschichte einiger hundert Thaler, die der Verfasser nicht hatte, und wodurch sein ganzes Leben eine Reihe von Entbehrungen und Entsagungen wurde, während doch seine Wünsche nichts weniger als unbescheiden waren, wie z. B. sein Wunsch, nach Weimar zu gehen, und bey dem Dichter des Werthers Bedienter zu werden, unter welchen Bedingungen es auch sey, um nur in der Nähe Desjenigen zu leben, der von allen Menschen auf Erden den stärksten Eindruck auf sein Gemüth gemacht hatte.

Wunderbar! damals schon erregte Goethe eine solche Begeisterung, und doch ist erst «unser drittes nachwachsendes Geschlecht» im Stande, seine wahre Größe zu begreifen.

Aber dieses Geschlecht hat auch Menschen hervorgebracht, in deren Herzen nur faules Wasser sintert, und die daher in den Herzen Anderer alle Springquellen eines frischen Blutes verstopfen möchten, Menschen von erloschener Genußfähigkeit, die das Leben verläumden, und Anderen alle Herrlichkeit dieser Welt verleiden wollen, indem sie solche als die Lockspeisen schildern, die der Böse bloß zu unserer Versuchung hingestellt habe, gleichwie eine pfiffige Hausfrau die Zuckerdose, mit den gezählten Stückchen Zucker, in ihrer Abwesenheit offen stehen läßt, um die Enthaltsamkeit der Magd zu prüfen; und diese Menschen haben einen Tugendpöbel um sich versammelt, und predigen ihm das Kreuz gegen den großen Heiden und gegen seine nackten Göttergestalten, die sie gern durch ihre vermummten dummen Teufel ersetzen möchten.

Das Vermummen ist so recht ihr höchstes Ziel, das Nacktgöttliche ist ihnen fatal, und ein Satyr hat immer seine guten Gründe, wenn er Hosen anzieht und darauf dringt, daß auch Apollo Hosen anziehe. Die Leute nennen ihn dann einen sittlichen Mann, und wissen nicht, daß in dem Clauren-Lächeln eines vermummten Satyrs mehr Anstößiges liegt, als in der ganzen Nacktheit eines Wolfgang Apollo, und daß just in den Zeiten, wo die Menschheit jene Pluderhosen trug, wozu sechzig Ellen Zeug nöthig waren, die Sitten nicht anständiger gewesen sind als jetzt.

Aber werden es mir nicht die Damen übel nehmen, daß ich Hosen, statt Beinkleider, sage? O, über das Feingefühl der Damen! Am Ende werden nur Eunuchen für sie schreiben dürfen, und ihre Geistesdiener im Occident werden so harmlos seyn müssen, wie ihre Leibdiener im Orient.

Hier kommt mir ins Gedächtniß eine Stelle aus Bertholds Tagebuch:

«Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern, sagte der Doktor M. zu einer Dame, die ihm eine etwas derbe Aeußerung übel genommen hatte.»

Der hannövrische Adel ist mit Goethe sehr unzufrieden, und behauptet: er verbreite Irreligiosität, und diese könne leicht auch falsche politische Ansichten hervorbringen, und das Volk müsse doch durch den alten Glauben zur alten Bescheidenheit und Mäßigung zurückgeführt werden. Auch hörte ich in der letzten Zeit viel diskutiren: ob Goethe größer sey, als Schiller, oder umgekehrt. Ich stand neulich hinter dem Stuhle einer Dame, der man schon von hinten ihre vier und sechzig Ahnen ansehen konnte, und hörte über jenes Thema einen eifrigen Diskurs zwischen ihr und zwey hannövrischen Nobilis, deren Ahnen schon auf dem Zodiakus von Dendera abgebildet sind, und wovon der Eine, ein langmagerer, quecksilbergefüllter Jüngling, der wie ein Barometer aussah, die Schillersche Tugend und Reinheit pries, während der Andere, ebenfalls ein langaufgeschossener Jüngling, einige Verse aus der «Würde der Frauen» hinlispelte und dabey so süß lächelte, wie ein Esel, der den Kopf in ein Syrupfaß gesteckt hatte und sich wohlgefällig die Schnautze ableckt. Beide Jünglinge verstärkten ihre Behauptungen beständig mit dem betheuernden Refrain: «Er ist doch größer, Er ist wirklich größer, wahrhaftig, Er ist größer, ich versichere Sie auf Ehre, Er ist größer.» Die Dame war so gütig, auch mich in dieses ästhetische Gespräch zu ziehen, und fragte: «Doktor, was halten Sie von Goethe?» Ich aber legte meine Arme kreuzweis auf die Brust, beugte gläubig das Haupt, und sprach: «La illah ill allah, wamohammed rasul allah!»

Die Dame hatte, ohne es selbst zu wissen, die allerschlaueste Frage gethan. Man kann ja einen Mann nicht geradezu fragen: was denkst du von Himmel und Erde? was sind deine Ansichten über Menschen und Menschenleben? bist du ein vernünftiges Geschöpf, oder ein dummer Teufel? Diese delikaten Fragen liegen aber alle in den unverfänglichen Worten: Was halten Sie von Goethe? Denn, indem uns Allen Goethes Werke vor Augen liegen, so können wir das Urtheil, das Jemand darüber fället, mit dem unsrigen schnell vergleichen, wir bekommen dadurch einen festen Maaßstab, womit wir gleich alle seine Gedanken und Gefühle messen können, und er hat unbewußt sein eignes Urtheil gesprochen. Wie aber Goethe, auf diese Weise, weil er eine gemeinschaftliche Welt ist, die der Betrachtung eines jeden offen liegt, uns das beste Mittel wird, um die Leute kennen zu lernen, so können wir wiederum Goethe selbst am besten kennen lernen, durch sein eignes Urtheil über Gegenstände, die uns allen vor Augen liegen, und worüber uns schon die bedeutendsten Menschen ihre Ansichten mitgetheilt haben. In dieser Hinsicht möchte ich am liebsten auf Goethes italienische Reise hindeuten, indem wir alle, entweder durch eigne Betrachtung oder durch fremde Vermittelung, das Land Italien kennen, und dabey so leicht bemerken, wie jeder dasselbe mit subjektiven Augen ansieht, dieser mit Archenhölzern unmuthigen Augen, die nur das schlimme sehen, jener mit begeisterten Corinnaaugen, die überall nur das Herrliche sehen, während Goethe, mit seinem klaren Griechenauge, Alles sieht, das Dunkle und das Helle, nirgends die Dinge mit seiner Gemüthsstimmung kolorirt, und uns Land und Menschen schildert, in den wahren Umrissen und wahren Farben, womit sie Gott umkleidet.

Das ist ein Verdienst Goethes, das erst spätere Zeiten erkennen werden; denn wir, die wir meist alle krank sind, stecken viel zu sehr in unseren kranken, zerrissenen, romantischen Gefühlen, die wir aus allen Ländern und Zeitaltern zusammengelesen, als daß wir unmittelbar sehen könnten, wie gesund, einheitlich und plastisch sich Goethe in seinen Werken zeigt. Er selbst merkt es eben so wenig; in seiner naiven Unbewußtheit des eignen Vermögens wundert er sich, wenn man ihm «ein gegenständliches Denken» zuschreibt, und indem er durch seine Selbstbiographie uns selbst eine kritische Beyhülfe zum Beurtheilen seiner Werke geben will, liefert er doch keinen Maaßstab der Beurtheilung an und für sich, sondern nur neue Fakta, woraus man ihn beurtheilen kann, wie es ja natürlich ist, daß kein Vogel über sich selbst hinauszufliegen vermag.

Spätere Zeiten werden, außer jenem Vermögen des plastischen Anschauens, Fühlens und Denkens, noch vieles in Goethe entdecken, wovon wir jetzt keine Ahnung haben. Die Werke des Geistes sind ewig feststehend, aber die Kritik ist etwas wandelbares, sie geht hervor aus den Ansichten der Zeit, hat nur für diese ihre Bedeutung, und wenn sie nicht selbst kunstwerthlicher Art ist, wie z. B. die Schlegelsche, so geht sie mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes Zeitalter, wenn es neue Ideen bekömmt, bekömmt auch neue Augen, und sieht gar viel Neues in den alten Geisteswerken. Ein Schubarth sieht jetzt in der Ilias etwas anderes und viel mehr, als sämmtliche Alexandriner; dagegen werden einst Kritiker kommen, die viel mehr als Schubarth in Goethe sehen.

So hätte ich mich dennoch an Goethe festgeschwatzt! Aber solche Abschweifungen sind sehr natürlich, wenn einem, wie auf dieser Insel, beständig das Meergeräusch in die Ohren dröhnt und den Geist nach Belieben stimmt.

Es geht ein starker Nordostwind, und die Hexen haben wieder viel Unheil im Sinne. Man hegt hier nämlich wunderliche Sagen von Hexen, die den Sturm zu beschwören wissen; wie es denn überhaupt auf allen nordischen Meeren viel Aberglauben giebt. Die Seeleute behaupten, manche Insel stehe unter der geheimen Herrschaft ganz besonderer Hexen, und dem bösen Willen derselben sey es zuzuschreiben, wenn den vorbeyfahrenden Schiffen allerley Widerwärtigkeiten begegnen. Als ich voriges Jahr einige Zeit auf der See lag, erzählte mir der Steuermann unseres Schiffes: die Hexen wären besonders mächtig auf der Insel Wight, und suchten jedes Schiff, das bey Tage dort vorbeyfahren wolle, bis zur Nachtzeit aufzuhalten, um es alsdann an Klippen oder an die Insel selbst zu treiben. In solchen Fällen höre man diese Hexen so laut durch die Luft sausen und um das Schiff herumheulen, daß der Klabotermann ihnen nur mit vieler Mühe widerstehen könne. Als ich nun fragte: wer der Klabotermann sey? antwortete der Erzähler sehr ernsthaft: Das ist der gute, unsichtbare Schutzpatron der Schiffe, der da verhütet, daß den treuen und ordentlichen Schiffern Unglück begegne, der da überall selbst nachsieht, und sowohl für die Ordnung, wie für die gute Fahrt sorgt. Der wackere Steuermann versicherte mit etwas heimlicherer Stimme: ich könne ihn selber sehr gut im Schiffsraume hören, wo er die Waaren gern noch besser nachstaue, daher das Knarren der Fässer und Kisten, wenn das Meer hoch gehe, daher bisweilen das Dröhnen unserer Balken und Bretter; oft hämmere der Klabotermann auch außen am Schiffe, und das gelte dann dem Zimmermanne, der dadurch gemahnt werde, eine schadhafte Stelle ungesäumt auszubessern; am liebsten aber setze er sich auf das Bramsegel, zum Zeichen, daß guter Wind wehe oder sich nahe. Auf meine Frage: ob man ihn nicht sehen könne? erhielt ich zur Antwort: Nein, man sähe ihn nicht, auch wünsche keiner ihn zu sehen, da er sich nur dann zeige, wenn keine Rettung mehr vorhanden sey. Einen solchen Fall hatte zwar der gute Steuermann noch nicht selbst erlebt, aber von Andern wollte er wissen: den Klabotermann höre man alsdann vom Bramsegel herab mit den Geistern sprechen, die ihm unterthan sind; doch wenn der Sturm zu stark und das Scheitern unvermeidlich würde, setze er sich auf das Steuer, zeige sich da zum ersten Mahl und verschwinde, indem er das Steuer zerbräche - diejenigen aber, die ihn in diesem furchtbaren Augenblick sähen, fänden unmittelbar darauf den Tod in den Wellen.

Der Schiffscapitain, der dieser Erzählung mit zugehört hatte, lächelte so fein, wie ich seinem rauhen, Wind- und Wetterdienenden Gesichte nicht zugetraut hätte, und nachher versicherte er mir: vor funfzig und gar vor hundert Jahren sey auf dem Meere der Glaube an den Klabotermann so stark gewesen, daß man bey Tische immer auch ein Gedeck für denselben aufgelegt, und von jeder Speise, etwa das Beste, auf seinen Teller gelegt habe, ja, auf einigen Schiffen geschähe das noch jetzt. -

Ich gehe hier oft am Strande spatzieren und gedenke solcher seemännischen Wundersagen. Die anziehendste derselben ist wohl die Geschichte vom fliegenden Holländer, den man im Sturm mit aufgespannten Segeln vorbeyfahren sieht, und der zuweilen ein Boot aussetzt, um den begegnenden Schiffern allerley Briefe mitzugeben, die man nachher nicht zu besorgen weiß, da sie an längst verstorbene Personen adressirt sind. Manchmal gedenke ich auch des alten, lieben Mährchens von dem Fischerknaben, der am Strande den nächtlichen Reigen der Meernixen belauscht hatte, und nachher mit seiner Geige die ganze Welt durchzog, und alle Menschen zauberhaft entzückte, wenn er ihnen die Melodie des Nixenwalzers vorspielte. Diese Sage erzählte mir einst ein lieber Freund, als wir, im Conzerte zu Berlin, solch einen wundermächtigen Knaben, den Felix Mendelssohn-Bartholdi, spielen hörten.

Einen eigenthümlichen Reitz gewährt das Kreuzen um die Insel. Das Wetter muß aber schön seyn, die Wolken müssen sich ungewöhnlich gestalten, und man muß rücklings auf dem Verdecke liegen, und in den Himmel sehen, und allenfalls auch ein Stückchen Himmel im Herzen haben. Die Wellen murmeln alsdann allerley wunderliches Zeug, allerley Worte, woran liebe Erinnerungen flattern, allerley Namen, die, wie süße Ahnung, in der Seele wiederklingen - «Evelina!» Dann kommen auch Schiffe vorbeygefahren, und man grüßt, als ob man sich alle Tage wiedersehen könnte. Nur des Nachts hat das Begegnen fremder Schiffe auf dem Meere etwas Unheimliches; man will sich dann einbilden, die besten Freunde, die wir seit Jahren nicht gesehen, führen schweigend vorbey, und man verlöre sie auf immer.

Ich liebe das Meer, wie meine Seele.

Oft wird mir sogar zu Muthe, als sey das Meer eigentlich meine Seele selbst; und wie es im Meere verborgene Wasserpflanzen giebt, die nur im Augenblick des Aufblühens an dessen Oberfläche heraufschwimmen, und im Augenblick des Verblühens wieder hinabtauchen: so kommen zuweilen auch wunderbare Blumenbilder heraufgeschwommen aus der Tiefe meiner Seele, und duften und leuchten und verschwinden wieder - «Evelina!»

Man sagt, unfern dieser Insel, wo jetzt nichts als Wasser ist, hätten einst die schönsten Dörfer und Städte gestanden, das Meer habe sie plötzlich alle überschwemmt, und bey klarem Wetter sähen die Schiffer noch die leuchtenden Spitzen der versunkenen Kirchthürme, und mancher habe dort, in der Sonntagsfrühe, sogar ein frommes Glockengeläute gehört. Die Geschichte ist wahr; denn das Meer ist meine Seele -

 

«Eine schöne Welt ist da versunken,

Ihre Trümmer blieben unten stehn,

Lassen sich als goldne Himmelsfunken

Oft im Spiegel meiner Träume sehn.»

(W. Müller.)

 

Erwachend höre ich dann ein verhallendes Glockengeläute und Gesang heiliger Stimmen - «Evelina!»

Geht man am Strande spatzieren, so gewähren die vorbeyfahrenden Schiffe einen schönen Anblick. Haben sie die blendend weißen Segel aufgespannt, so sehen sie aus wie vorbeyziehende, große Schwäne. Gar besonders schön ist dieser Anblick, wenn die Sonne hinter dem vorbeysegelnden Schiffe untergeht, und dieses, wie von einer riesigen Glorie, umstrahlt wird.

Die Jagd am Strande soll ebenfalls ein großes Vergnügen gewähren. Was mich betrifft, so weiß ich es nicht sonderlich zu schätzen. Der Sinn für das Edle, Schöne und Gute läßt sich oft durch Erziehung den Menschen beybringen; aber der Sinn für die Jagd liegt im Blute. Wenn die Ahnen, schon seit undenklichen Zeiten, Rehböcke geschossen haben, so findet auch der Enkel ein Vergnügen an dieser legitimen Beschäftigung. Meine Ahnen gehörten aber nicht zu den Jagenden, viel eher zu den Gejagten, und soll ich auf die Nachkömmlinge ihrer ehemaligen Collegen losdrücken, so empört sich dawider mein Blut. Ja, aus Erfahrung weiß ich, daß, nach abgesteckter Mensur, es mir weit leichter wird, auf einen Jäger loszudrücken, der die Zeiten zurückwünscht, wo auch Menschen zur hohen Jagd gehörten. Gottlob, diese Zeiten sind vorüber! Gelüstet es jetzt solche Jäger, wieder einen Menschen zu jagen, so müssen sie ihn dafür bezahlen, wie z. B. den Schnelläufer, den ich vor zwey Jahren in Göttingen sah. Der arme Mensch hatte sich schon in der schwülen Sonntagshitze ziemlich müde gelaufen, als einige hannövrische Junker, die dort Humaniora studierten, ihm ein paar Thaler boten, wenn er den zurückgelegten Weg nochmals laufen wolle; und der Mensch lief, und er war todtblaß und trug eine rothe Jacke, und dicht hinter ihm, im wirbelnden Staube, galoppirten die wohlgenährten, edlen Jünglinge, auf hohen Rossen, deren Hufen zuweilen den gehetzten, keuchenden Menschen trafen, und es war ein Mensch.

Des Versuchs halber, denn ich muß mein Blut besser gewöhnen, ging ich gestern auf die Jagd. Ich schoß nach einigen Möven, die gar zu sicher umherflattern, und doch nicht bestimmt wissen konnten, daß ich schlecht schieße. Ich wollte sie nicht treffen und sie nur warnen, sich ein andermal vor Leuten mit Flinten in Acht zu nehmen; aber mein Schuß ging fehl, und ich hatte das Unglück, eine junge Möve todt zu schießen. Es ist gut, daß es keine alte war; denn was wäre dann aus den armen, kleinen Mövchen geworden, die noch unbefiedert, im Sandneste der großen Dühne liegen, und ohne die Mutter verhungern müßten. Mir ahndete schon vorher, daß mich auf der Jagd ein Mißgeschick treffen würde; ein Hase war mir über den Weg gelaufen.

Gar besonders wunderbar wird mir zu Muthe, wenn ich allein in der Dämmerung am Strande wandle, - hinter mir flache Dühnen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, über mir der Himmel wie eine riesige Kristallkuppel - ich erscheine mir dann selbst sehr ameisenklein, und dennoch dehnt sich meine Seele so weltenweit. Die hohe Einfachheit der Natur, wie sie mich hier umgiebt, zähmt und erhebt mich zu gleicher Zeit, und zwar in stärkerem Grade als jemals eine andere erhabene Umgebung. Nie war mir ein Dom groß genug; meine Seele mit ihrem alten Titanengebet strebte immer höher als die gothischen Pfeiler, und wollte immer hinausbrechen durch das Dach. Auf der Spitze der Roßtrappe haben mir, beym ersten Anblick, die kolossalen Felsen, in ihren kühnen Gruppirungen, ziemlich imponirt; aber dieser Eindruck dauerte nicht lange, meine Seele war nur überrascht, nicht überwältigt, und jene ungeheure Steinmassen wurden in meinen Augen allmählig kleiner, und am Ende erschienen sie mir nur wie geringe Trümmer eines zerschlagenen Riesenpalastes, worin sich meine Seele vielleicht comfortabel befunden hätte.

Mag es immerhin lächerlich klingen, ich kann es dennoch nicht verhehlen, das Mißverhältnis zwischen Körper und Seele quält mich einigermaßen, und hier am Meere, in großartiger Naturumgebung, wird es mir zuweilen recht deutlich, und die Metempsychose ist oft der Gegenstand meines Nachdenkens. Wer kennt die große Gottesironie, die allerley Widersprüche zwischen Seele und Körper hervorzubringen pflegt. Wer kann wissen, in welchem Schneider jetzt die Seele eines Platos, und in welchem Schulmeister die Seele eines Cäsars wohnt! Wer weiß, ob die Seele Gregors VII. nicht in dem Leibe des Großtürken sitzt, und sich unter tausend hätschelnden Weiberhändchen behaglicher fühlt, als einst in ihrer purpurnen Cölibatskutte. Hingegen wie viele Seelen treuer Moslemim aus Alys Zeiten mögen sich jetzt in unseren antihellenischen Cabinettern befinden! Die Seelen der beiden Schächer, die zur Seite des Heilands gekreuzigt worden, sitzen vielleicht jetzt in dicken Consistorialbäuchen und glühen für den orthodoxen Lehrbegriff. Die Seele Dschingischans wohnt vielleicht jetzt in einem Rezensenten, der täglich, ohne es zu wissen, die Seelen seiner treuesten Baschkiren und Kalmücken in einem kritischen Journale niedersäbelt. Wer weiß! wer weiß! die Seele des Pythagoras ist vielleicht in einen armen Candidaten gefahren, der durch das Examen fällt, weil er den pythagoräischen Lehrsatz nicht beweisen konnte, während in seinen Herren Examinatoren die Seelen jener Ochsen wohnen, die einst Pythagoras, aus Freude über die Entdeckung seines Satzes, den ewigen Göttern geopfert hatte. Die Hindus sind so dumm nicht, wie unsere Missionäre glauben, sie ehren die Thiere wegen der menschlichen Seele, die sie in ihnen vermuthen, und wenn sie Lazarethe für invalide Affen stiften, in der Art unserer Akademien, so kann es wohl möglich seyn, daß in jenen Affen die Seelen großer Gelehrten wohnen, da es hingegen bey uns ganz sichtbar ist, daß in einigen großen Gelehrten nur Affenseelen stecken.

Wer doch mit der Allwissenheit des Vergangenen auf das Treiben der Menschen von oben herab sehen könnte! Wenn ich des Nachts am Meere wandelnd, den Wellengesang höre, und allerley Ahnung und Erinnerung in mir erwacht, so ist mir, als habe ich einst solchermaßen von oben herabgesehen und sey vor schwindelndem Schrecken zur Erde heruntergefallen; es ist mir dann auch, als seyen meine Augen so teleskopisch scharf gewesen, daß ich die Sterne in Lebensgröße am Himmel wandeln gesehen, und durch all den wirbelnden Glanz geblendet worden;- wie aus der Tiefe eines Jahrtausends kommen mir dann allerley Gedanken in den Sinn, Gedanken uralter Weisheit, aber sie sind so neblicht, daß ich nicht erkenne, was sie wollen. Nur so viel weiß ich, daß all unser kluges Wissen, Streben und Hervorbringen irgend einem höheren Geiste eben so klein und nichtig erscheinen muß, wie mir jene Spinne erschien, die ich in der göttinger Bibliothek so oft betrachtete. Auf den Folianten der Weltgeschichte saß sie emsig webend, und sie blickte so philosophisch sicher auf ihre Umgebung, und hatte ganz den göttingischen Gelahrtheitsdünkel, und schien stolz zu seyn auf ihre mathematischen Kenntnisse, auf ihre Kunstleistungen, auf ihr einsames Nachdenken - und doch wußte sie nichts von all den Wundern, die in dem Buche stehen, worauf sie geboren worden, worauf sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, und worauf sie auch sterben wird, wenn der schleichende Dr. L. sie nicht verjagt. Und wer ist der schleichende Dr. L.? Seine Seele wohnte vielleicht einst in eben einer solchen Spinne, und jetzt hütet er die Folianten, worauf er einst saß - und wenn er sie auch liest, er erfährt doch nicht ihren wahren Inhalt.

Was mag auf dem Boden einst geschehen seyn, wo ich jetzt wandle? Ein Conrector, der hier badete, wollte behaupten, hier sey einst der Dienst der Hertha, oder, besser gesagt, Forsete, begangen worden, wovon Tacitus so geheimnißvoll spricht. Wenn nur die Berichterstatter, denen Tacitus nacherzählt, sich nicht geirrt, und eine Badekutsche für den heiligen Wagen der Göttinn angesehen haben!

Im Jahre 1819 als ich zu Bonn, in einem und demselben Semester, vier Collegien hörte, worin meistens deutsche Antiquitäten aus der blauesten Zeit tractirt wurden, nämlich 1° Geschichte der deutschen Sprache bey Schlegel, der fast drey Monath' lang die barocksten Hypothesen über die Abstammung der Deutschen entwickelte, 2° die Germania des Tacitus bey Arndt, der in den altdeutschen Wäldern jene Tugenden suchte, die er in den Salons der Gegenwart vermißte, 3° germanisches Staatsrecht bey Hüllmann, dessen historische Ansichten noch am wenigsten vague sind, und 4° deutsche Urgeschichte bey Radloff, der am Ende des Semesters noch nicht weiter gekommen war, als bis zur Zeit des Sesostris - damals möchte wohl die Sage von der alten Hertha mich mehr interessirt haben, als jetzt. Ich ließ sie durchaus nicht auf Rügen residiren, und versetzte sie vielmehr nach einer ostfriesischen Insel. Ein junger Gelehrter hat gern seine Privathypothese. Aber auf keinen Fall hätte ich damals geglaubt, daß ich einst am Strande der Nordsee wandeln würde, ohne an die alte Göttinn mit patriotischer Begeisterung zu denken. Es ist wirklich nicht der Fall, und ich denke hier an ganz andre, jüngere Göttinnen. Absonderlich wenn ich am Strande über die schaurige Stelle wandle, wo noch jüngst die schönsten Frauen, gleich Nixen, geschwommen. Denn weder Herren noch Damen baden hier unter einem Schirm, sondern spatzieren in die freye See. Deßhalb sind auch die Badestellen beider Geschlechter von einander geschieden, doch nicht allzuweit, und wer ein gutes Glas führt, kann überall in der Welt viel sehen. Es geht die Sage, ein neuer Aktäon habe auf solche Weise eine badende Diana erblickt, und wunderbar! nicht er, sondern der Gemahl der Schönen, habe dadurch Hörner erworben.

Die Badekutschen, die Droschken der Nordsee, werden hier nur bis ans Wasser geschoben, und bestehen meistens aus viereckigen Holzgestellen mit steifem Leinen überzogen. Jetzt, für die Winterzeit, stehen sie im Conversazionssaale, und führen dort gewiß eben so hölzerne, und steifleinene Gespräche, wie die vornehme Welt, die noch unlängst dort verkehrte.

Wenn ich aber sage, die vornehme Welt, so verstehe ich nicht darunter die guten Bürger Ostfrieslands, ein Volk, das flach und nüchtern ist, wie der Boden, den es bewohnt, das weder singen noch pfeifen kann, aber dennoch ein Talent besitzt, das besser ist als alle Triller und Schnurrpfeifereyen, ein Talent, das den Menschen adelt, und über jene windige Dienstseelen erhebt, die allein edel zu seyn wähnen, ich meine das Talent der Freyheit. Schlägt das Herz für Freyheit, so ist ein solcher Schlag des Herzens eben so gut, wie ein Ritterschlag, und das wissen die freyen Friesen, und sie verdienen ihr Volksepitheton; die Häuptlingsperiode abgerechnet, war die Aristokratie in Ostfriesland niemals vorherrschend, nur sehr wenige adlige Familien haben dort gewohnt, und der Einfluß des hannövrischen Adels, durch Verwaltungs- und Militärstand, wie er sich jetzt über das Land hinzieht, betrübt manches freye Friesenherz, und überall zeigt sich die Vorliebe für die ehemalige preußische Regierung.

Was aber die allgemeinen deutschen Klagen über hannövrischen Adelstolz betrifft, so kann ich nicht unbedingt einstimmen. Das hannövrische Offiziercorps giebt am wenigsten Anlaß zu solchen Klagen. Freylich, wie in Madagaskar nur Adlige das Recht haben, Metzger zu werden, so hatte früherhin der hannövrische Adel ein analoges Vorrecht, da nur Adlige zum Offizierrange gelangen konnten. Seitdem sich aber in der deutschen Legion so viele Bürgerliche ausgezeichnet, und zu Offizierstellen emporgeschwungen, hat auch jenes üble Gewohnheitsrecht nachgelassen. Ja, das ganze Corps der deutschen Legion hat viel beygetragen zur Milderung alter Vorurtheile, diese Leute sind weit herum in der Welt gewesen, und in der Welt sieht man viel, besonders in England, und sie haben viel gelernt, und es ist eine Freude, ihnen zuzuhören, wenn sie von Portugal, Spanien, Sizilien, den jonischen Inseln, Irland, und anderen weiten Ländern sprechen, wo sie gefochten, und «Vieler Menschen Städte gesehen und Sitten gelernet», so daß man glaubt, eine Odyssee zu hören, die leider keinen Homer finden wird. Auch ist unter den Offizieren dieses Corps viel freysinnige, englische Sitte geblieben, die mit dem altherkömmlichen hannövrischen Brauch stärker contrastirt, als wir es im übrigen Deutschland glauben wollen, da wir gewöhnlich dem Beyspiele Englands viel Einwirkung auf Hannover zuschreiben. In diesem Lande Hannover sieht man nichts als Stammbäume, woran Pferde gebunden sind, und vor lauter Bäumen bleibt das Land obscur, und trotz allen Pferden kömmt es nicht weiter. Nein, durch diesen hannövrischen Adelswald drang niemals ein Sonnenstrahl brittischer Freyheit, und kein brittischer Freyheitston konnte jemals vernehmbar werden im wiehernden Lärm hannövrischer Rosse.

Die allgemeine Klage über hannövrischen Adelstolz trifft wohl zumeist die liebe Jugend gewisser Familien, die das Land Hannover regieren oder mittelbar zu regieren glauben. Aber auch die edlen Jünglinge würden bald jene Fehler der Art, oder, besser gesagt, jene Unart ablegen, wenn sie ebenfalls etwas in der Welt herumgedrängt würden, oder eine bessere Erziehung genössen. Man schickt sie freylich nach Göttingen, doch da hocken sie beysammen, und sprechen nur von ihren Hunden, Pferden und Ahnen, und hören wenig neuere Geschichte, und wenn sie auch wirklich einmal dergleichen hören, so sind doch unterdessen ihre Sinne befangen durch den Anblick des Grafentisches, der, ein Wahrzeichen Göttingens, nur für hochgeborene Studenten bestimmt ist. Wahrlich, durch eine bessere Erziehung des jungen hannövrischen Adels ließe sich vielen Klagen vorbauen. Aber die Jungen werden wie die Alten. Derselbe Wahn: als wären sie die Blumen der Welt, während wir Anderen bloß das Gras sind; dieselbe Thorheit: mit dem Verdienste der Ahnen den eigenen Unwerth bedecken zu wollen; dieselbe Unwissenheit über das Problematische dieser Verdienste, indem die Wenigsten bedenken, daß die Fürsten selten ihre treuesten und tugendhaftesten Diener, aber sehr oft den Kuppler, den Schmeichler und dergleichen Lieblingsschufte mit adelnder Huld beehrt haben. Die Wenigsten jener Ahnenstolzen können bestimmt angeben, was ihre Ahnen gethan haben, und sie zeigen nur, daß ihr Name in Rüxners Turnierbuch erwähnt sey; - ja, können sie auch nachweisen, daß diese Ahnen etwa als Kreuzritter bey der Eroberung Jerusalems zugegen waren, so sollten sie, ehe sie sich etwas darauf zu Gute thun, auch beweisen, daß jene Ritter ehrlich mitgefochten haben, daß ihre Eisenhosen nicht mit gelber Furcht wattirt worden, und daß unter ihrem rothen Kreuze das Herz eines honetten Mannes gesessen. Gäbe es keine Ilias, sondern bloß ein Namensverzeichniß der Helden, die vor Troja gestanden, und ihre Namen existirten noch jetzt - wie würde sich der Ahnenstolz Derer von Thersites zu blähen wissen! Von der Reinheit des Blutes will ich gar nicht einmal sprechen; Philosophen und Stallknechte haben darüber gar seltsame Gedanken.

Mein Tadel, wie gesagt, treffe zumeist die schlechte Erziehung des hannövrischen Adels und dessen früh eingeprägten Wahn von der Wichtigkeit einiger andressirten Formen. O! wie oft habe ich lachen müssen, wenn ich bemerkte, wie viel man sich auf diese Formen zu Gute that; - als sey es sogar überaus schwer zu erlernen dieses Repräsentiren, dieses Präsentiren, dieses Lächeln ohne Etwas zu sagen, dieses Sagen ohne Etwas zu denken, und all diese adligen Künste, die der gute Bürgersmann als Meerwunder angafft, und die doch jeder französische Tanzmeister besser inne hat, als der deutsche Edelmann, dem sie in der bärenleckenden Lutetia mühsam eingeübt worden, und der sie zu Hause wieder, mit deutscher Gründlichkeit und Schwerfälligkeit, seinen Descendenten überliefert. Dies erinnert mich an die Fabel von dem Bären, der auf Märkten tanzte, seinem führenden Lehrer entlief, zu seinen Mitbären in den Wald zurückkehrte, und ihnen vorprahlte: wie das Tanzen eine so gar schwere Kunst sey, und wie weit er es darin gebracht habe, - und in der That, den Proben, die er von seiner Kunst ablegte, konnten die armen Bestien ihre Bewunderung nicht versagen. Jene Nazion, wie sie Werther nennt, bildete die vornehme Welt, die hier dieses Jahr zu Wasser und zu Lande geglänzt hat, und es waren lauter liebe, liebe Leute, und sie haben alle gut gespielt.

Auch fürstliche Personen gab es hier, und ich muß gestehen, daß diese in ihren Ansprüchen bescheidener waren, als die geringere Noblesse. Ob aber diese Bescheidenheit in den Herzen dieser hohen Personen liegt, oder ob sie durch ihre äußere Stellung hervorgebracht wird, das will ich unentschieden lassen. Ich sage dieses nur in Beziehung auf deutsche mediatisirte Fürsten. Diesen Leuten ist in der letzten Zeit ein großes Unrecht geschehen, indem man sie einer Souverainität beraubte, wozu sie ein eben so gutes Recht haben, wie die größeren Fürsten, wenn man nicht etwa annehmen will, daß dasjenige, was sich nicht durch eigene Kraft erhalten kann, auch kein Recht hat, zu existiren. Für das vielzersplitterte Deutschland war es aber eine Wohlthat, daß diese Anzahl von Sedezdespötchen ihr Regieren einstellen mußten. Es ist schrecklich, wenn man bedenkt wie viele derselben wir armen Deutschen zu ernähren haben. Wenn diese Mediatisirten auch nicht mehr das Zepter führen, so führen sie doch noch immer Löffel, Messer und Gabel, und sie essen keinen Hafer, und auch der Hafer wäre theuer genug. Ich denke, daß wir einmal durch Amerika etwas von dieser Fürstenlast erleichtert werden. Denn, früh oder spät, werden sich doch die Präsidenten dortiger Freystaaten in Souveraine verwandeln, und dann fehlt es diesen Herren an Gemahlinnen, die schon einen legitimen Anstrich haben, sie sind dann froh wenn wir ihnen unsere Prinzessinnen überlassen, und wenn sie sechs nehmen, geben wir ihnen die siebente gratis, und auch unsre Prinzchen können sie späterhin bey ihren Töchtern employiren; - daher haben die mediatisirten Fürsten sehr politisch gehandelt, als sie sich wenigstens das Gleichbürtigkeitsrecht erhielten, und ihre Stammbäume eben so hoch schätzten, wie die Araber die Stammbäume ihrer Pferde, und zwar aus derselben Absicht, indem sie wohl wissen, daß Deutschland von jeher das große Fürstengestüte war, das alle regierenden Nachbarhäuser mit den nöthigen Mutterpferden und Beschälern versehen muß.

In allen Bädern ist es ein altes Gewohnheitsrecht, daß die abgegangenen Gäste von den zurückgebliebenen etwas stark kritisirt werden, und da ich der letzte bin, der noch hier weilt, so durfte ich wohl jenes Recht in vollem Maaße ausüben.

Es ist aber jetzt so öde auf der Insel, daß ich mir vorkomme wie Napoleon auf Sanct Helena. Nur daß ich hier eine Unterhaltung gefunden, die jenem dort fehlte. Es ist nämlich der große Kaiser selbst, womit ich mich hier beschäftige. Ein junger Engländer hat mir das eben erschienene Buch des Maitland mitgetheilt. Dieser Seemann berichtet die Art und Weise, wie Napoleon sich ihm ergab und auf dem Bellerophon sich betrug, bis er, auf Befehl des englischen Ministeriums, an Bord des Northumberland gebracht wurde. Aus diesem Buche ergiebt sich sonnenklar, daß der Kaiser, in romantischem Vertrauen auf brittische Großmuth, und um der Welt endlich Ruhe zu schaffen, zu den Engländern ging, mehr als Gast, denn als Gefangener. Das war ein Fehler, den gewiß kein Anderer, und am allerwenigsten ein Wellington begangen hätte. Die Geschichte aber wird sagen, dieser Fehler ist so schön, so erhaben, so herrlich, daß dazu mehr Seelengröße gehörte, als wir Anderen zu Allen unseren Großthaten erschwingen können.

Die Ursache, weßhalb Cap. Maitland jetzt sein Buch herausgiebt, scheint keine andere zu seyn, als das moralische Reinigungsbedürfniß, das jeder ehrliche Mann fühlt, den ein böses Geschick in eine zweydeutige Handlung verflochten hat. Das Buch selbst ist aber ein unschätzbarer Gewinn für die Gefangenschaftsgeschichte Napoleons, die den letzten Akt seines Lebens bildet, alle Räthsel der früheren Akte wunderbar löst, und wie es eine ächte Tragödie thun soll, die Gemüther erschüttert, reinigt und versöhnt. Der Charakterunterschied der vier Hauptschriftsteller, die uns von dieser Gefangenschaft berichten, besonders wie er sich in Styl und Anschauungsweise bekundet, zeigt sich erst recht durch ihre Zusammenstellung.

Maitland, der sturmkalte, englische Seemann, verzeichnet die Begebenheiten vorurtheilslos und bestimmt, als wären es Naturerscheinungen, die er in sein Loogbook einträgt; Las Cases, ein enthousiastischer Kammerherr, liegt in jeder Zeile, die er schreibt, zu den Füßen des Kaisers, nicht wie ein russischer Sclave, sondern wie ein freyer Franzose, dem die Bewunderung einer unerhörten Heldengröße und Ruhmeswürde unwillkührlich die Kniee beugt; O'Meara, der Arzt, obgleich in Irland geboren, dennoch ganz Engländer, als solcher ein ehemaliger Feind des Kaisers, aber jetzt anerkennend die Majestätsrechte des Unglücks, schreibt freymüthig, schmucklos, thatbeständlich, fast im Lapidarstyl, hingegen kein Styl, sondern ein Stilett ist die spitzige, zustoßende Schreibart des französischen Arztes, Antommarchi, eines Italieners, der ganz besonnentrunken ist von dem Ingrimm und der Poesie seines Landes.

Beide Völker, Britten und Franzosen, lieferten von jeder Seite zwey Männer, gewöhnlichen Geistes, und unbestochen von der herrschenden Macht, und diese Jury hat den Kaiser gerichtet, und verurtheilet: ewig zu leben, ewig bewundert, ewig bedauert.

Es sind schon viele große Männer über diese Erde geschritten, hier und da sehen wir die leuchtenden Spuren ihrer Fußstapfen, und in heiligen Stunden treten sie, wie Nebelgebilde vor unsere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann sieht seine Vorgänger weit deutlicher, aus einzelnen Funken ihrer irdischen Lichtspur erkennt er ihr geheimstes Thun, aus einem einzigen hinterlassenen Worte erkennt er alle Falten ihres Herzens; und solchermaßen, in einer mystischen Gemeinschaft, leben die großen Männer aller Zeiten, über die Jahrtausende hinweg nicken sie einander zu, und sehen sich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke begegnen sich auf den Gräbern untergegangener Geschlechter, die sich zwischen sie gedrängt hatten, und sie verstehen sich und haben sich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht so intimen Umgang pflegen können mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir nur selten die Spur und Nebelformen sehen, für uns ist es vom höchsten Werthe, wenn wir über einen solchen Großen so viel erfahren, daß es uns leicht wird, ihn ganz lebensklar in unsre Seele aufzunehmen, und dadurch unsre Seele zu erweitern. Ein solcher ist Napoleon Bonaparte. Wir wissen von ihm, von seinem Leben und Streben, mehr als von den andern Großen dieser Erde, und täglich erfahren wir davon noch mehr und mehr. Wir sehen wie das verschüttete Götterbild langsam ausgegraben wird, und mit jeder Schaufel Erdschlamm, die man von ihm abnimmt, wächst unser freudiges Erstaunen über das Ebenmaaß und die Pracht der edlen Formen, die da hervortreten, und die Geistesblitze der Feinde, die das große Bild zerschmettern wollen, dienen nur dazu, es desto glanzvoller zu beleuchten. Solches geschieht namentlich durch die Aeußerungen der Frau von Staël, die in all ihrer Herbheit doch nichts anders sagt, als daß der Kaiser kein Mensch war wie die Andern, und daß sein Geist mit keinem vorhandenen Maaßstab gemessen werden kann.

Ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeutet, wenn er sagt: daß wir uns einen Verstand denken können, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen geht, das ist, von dem Ganzen zu den Theilen. Ja, was wir durch langsames analytisches Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geist im selben Momente angeschaut und tief begriffen. Daher sein Talent die Zeit, die Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu kajoliren, ihn nie zu beleidigen, und immer zu benutzen.

Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revoluzionär ist, sondern durch den Zusammenfluß beider Ansichten, der revoluzionären und der contrerevoluzionären, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz revoluzionär und nie ganz contrerevoluzionär, sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Prinzipien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beständig naturgemäß, einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig milde. Daher intriguirte er nie im Einzelnen, und seine Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken. Zur verwickelten, langsamen Intrigue neigen sich kleine, analytische Geister, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben zu ihrem Zwecke schnell benutzen können. Erstere scheitern sehr oft, da keine menschliche Klugheit alle Vorfallenheiten des Lebens voraussehen kann und die Verhältnisse des Lebens nie lange stabil sind; letzteren hingegen, den intuitiven Menschen, gelingen ihre Vorsätze am leichtesten, da sie nur einer richtigen Berechnung des Vorhandenen bedürfen, und so schnell handeln, daß dieses, durch die Bewegung der Lebenswogen, keine plötzliche, unvorhergesehene Veränderung erleiden kann.

Es ist ein glückliches Zusammentreffen, daß Napoleon gerade zu einer Zeit gelebt hat, die ganz besonders viel Sinn hat für Geschichte, ihre Erforschung und Darstellung. Es werden uns daher, durch die Memoiren der Zeitgenossen, wenige Notizen über Napoleon vorenthalten werden, und täglich vergrößert sich die Zahl der Geschichtsbücher, die ihn mehr oder minder im Zusammenhang mit der übrigen Welt schildern wollen. Die Ankündigung eines solchen Buches aus Walter Scotts Feder erregt daher die neugierigste Erwartung.

Alle Verehrer Scotts müssen für ihn zittern; denn ein solches Buch kann leicht der russische Feldzug jenes Ruhmes werden, den er mühsam erworben durch eine Reihe historischer Romane, die mehr durch ihr Thema, als durch ihre poetische Kraft, alle Herzen Europas bewegt haben. Dieses Thema ist aber nicht bloß eine elegische Klage über Schottlands volksthümliche Herrlichkeit, die allmählig verdrängt wurde von fremder Sitte, Herrschaft und Denkweise; sondern es ist der große Schmerz über den Verlust der Nazional-Besonderheiten, die in der Allgemeinheit neuerer Cultur verloren gehen, ein Schmerz, der jetzt in den Herzen aller Völker zuckt. Denn Nazionalerinnerungen liegen tiefer in der Menschen Brust, als man gewöhnlich glaubt. Man wage es nur, die alten Bilder wieder auszugraben, und über Nacht blüht hervor auch die alte Liebe mit ihren Blumen. Das ist nicht figürlich gesagt, sondern es ist eine Thatsache: als Bullock vor einigen Jahren ein altheidnisches Steinbild in Mexiko ausgegraben, fand er den andern Tag, daß es nächtlicher Weile mit Blumen bekränzt worden; und doch hatte Spanien, mit Feuer und Schwert, den alten Glauben der Mexikaner zerstört, und seit drey Jahrhunderten ihre Gemüther gar stark umgewühlt und gepflügt und mit Christenthum besäet. Solche Blumen aber blühen auch in den Walter-Scottschen Dichtungen, diese Dichtungen selbst wecken die alten Gefühle, und wie einst in Granada Männer und Weiber mit dem Geheul der Verzweiflung aus den Häusern stürzten, wenn das Lied vom Einzug des Maurenkönigs auf den Straßen erklang, dergestalt, daß bey Todesstrafe verboten wurde, es zu singen: so hat der Ton, der in den Scottschen Dichtungen herrscht, eine ganze Welt schmerzhaft erschüttert. Dieser Ton klingt wieder in den Herzen unseres Adels, der seine Schlösser und Wappen verfallen sieht, er klingt wieder in den Herzen des Bürgers, dem die behaglich enge Weise der Altvordern verdrängt wird durch weite, unerfreuliche Modernität; er klingt wieder in katholischen Domen, woraus der Glaube entflohen, und in rabbinischen Synagogen, woraus sogar die Gläubigen fliehen; er klingt über die ganze Erde, bis in die Banianenwälder Hindostans, wo der seufzende Bramine das Absterben seiner Götter, die Zerstörung ihrer uralten Weltordnung, und den ganzen Sieg der Engländer voraussieht.

Dieser Ton, der gewaltigste, den der schottische Barde auf seiner Riesenharfe anzuschlagen weiß, paßt aber nicht zu dem Kaiserliede von dem Napoleon, dem neuen Manne, dem Manne der neuen Zeit, dem Manne, worin diese neue Zeit so leuchtend sich abspiegelt, daß wir dadurch fast geblendet werden, und unterdessen nimmermehr denken an die verschollene Vergangenheit und ihre verblichene Pracht. Es ist wohl zu vermuthen, daß Scott, seiner Vorneigung gemäß, jenes angedeutete, stabile Element im Charakter Napoleons, die contrerevoluzionäre Seite seines Geistes vorzugsweise auffassen wird, statt daß andere Schriftsteller bloß das revoluzionäre Prinzip in ihm erkennen. Von dieser letzteren Seite würde ihn Byron geschildert haben, der in seinem ganzen Streben den Gegensatz zu Scott bildete, und statt, gleich diesem, den Untergang der alten Formen zu beklagen, sich sogar von denen, die noch stehen geblieben sind, verdrießlich beengt fühlt, sie, mit revoluzionärem Lachen und Zähnefletschen, niederreißen möchte, und in diesem Aerger die heiligsten Blumen des Lebens mit seinem melodischen Gifte beschädigt, und sich, wie ein wahnsinniger Harlekin den Dolch ins Herz stößt, um, mit dem hervorströmenden, schwarzen Blute, Herren und Damen neckisch zu bespritzen.

Wahrlich, in diesem Augenblicke fühle ich sehr lebhaft, daß ich kein Nachbeter, oder besser gesagt Nachfrevler Byrons bin, mein Blut ist nicht so spleenisch schwarz, meine Bitterkeit kömmt nur aus den Galläpfeln meiner Dinte, und wenn Gift in mir ist, so ist es doch nur Gegengift, Gegengift wider jene Schlangen, die im Schutte der alten Dome und Burgen so bedrohlich lauern. Von allen großen Schriftstellern ist Byron just derjenige, dessen Lectüre mich am unleidlichsten berührt; wohingegen Scott mir, in jedem seiner Werke, das Herz erfreut, beruhigt und erkräftigt. Mich erfreut sogar die Nachahmung derselben, wie wir sie bey W. Alexis, Bronikowski und Cooper finden, welcher erstere, im ironischen Walladmor, seinem Vorbilde am nächsten steht, und uns auch in einer späteren Dichtung so viel Gestaltenund Geistesreichthum gezeigt hat, daß er wohl im Stande wäre, mit poetischer Ursprünglichkeit, die sich nur der scottischen Form bedient, uns die theuersten Momente deutscher Geschichte, in einer Reihe historischer Novellen, vor die Seele zu führen.

Aber keinem wahren Genius lassen sich bestimmte Bahnen vorzeichnen, diese liegen außerhalb aller kritischen Berechnung, und so mag es auch als ein harmloses Gedankenspiel betrachtet werden, wenn ich über W. Scotts Kaisergeschichte mein Vorurtheil aussprach. «Vorurtheil» ist hier der umfassendste Ausdruck. Nur eins läßt sich mit Bestimmtheit sagen: das Buch wird gelesen werden vom Aufgang bis zum Niedergang, und wir Deutschen werden es übersetzen.

Wir haben auch den Segür übersetzt. Nicht wahr, es ist ein hübsches episches Gedicht? Wir Deutschen schreiben auch epische Gedichte, aber die Helden derselben existiren bloß in unserem Kopfe. Hingegen die Helden des französischen Epos sind wirkliche Helden, die viel größere Thaten vollbracht, und viel größere Leiden gelitten, als wir in unseren Dachstübchen ersinnen können. Und wir haben doch viel Phantasie, und die Franzosen haben nur wenig. Vielleicht hat deßhalb der liebe Gott den Franzosen auf eine andere Art nachgeholfen, und sie brauchen nur treu zu erzählen, was sie in den letzten dreyßig Jahren gesehen und gethan, und sie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit sie hervorgebracht. Diese Memoiren von Staatsleuten, Soldaten und edlen Frauen, wie sie in Frankreich täglich erscheinen, bilden einen Sagenkreis, woran die Nachwelt genug zu denken und zu singen hat, und worin, als dessen Mittelpunkt, das Leben des großen Kaisers, wie ein Riesenbaum, emporragt. Die Segürsche Geschichte des Rußlandzuges ist ein Lied, ein französisches Volkslied, das zu diesem Sagenkreise gehört, und, in seinem Tone und Stoffe, den epischen Dichtungen aller Zeiten gleicht und gleich steht. Ein Heldengeschlecht, das durch den Zauberspruch «Freyheit und Gleichheit» aus dem Boden Frankreichs emporgeschossen, hat, wie im Triumphzug, berauscht von Ruhm und geführt von dem Gotte des Ruhmes selbst, die Welt durchzogen, erschreckt und verherrlicht, tanzt endlich den rasselnden Waffentanz auf den Eisfeldern des Nordens, und diese brechen ein, und die Söhne des Feuers und der Freyheit gehen zu Grunde durch Kälte und Sklaven.

Solche Beschreibung oder Prophezeyung des Untergangs einer Heldenwelt ist Grundton und Stoff der epischen Dichtungen aller Völker. Auf den Felsen von Ellore und anderer indischer Grottentempel steht solche epische Katastrophe eingegraben mit Riesenhieroglyphen, deren Schlüssel im Mahabarata zu finden ist; der Norden hat in nicht minder steinernen Worten, in seiner Edda, diesen Götteruntergang ausgesprochen; das Lied der Nibelungen besingt dasselbe tragische Verderben, und hat, in seinem Schlusse, noch ganz besondere Aehnlichkeit mit der Segürschen Beschreibung des Brandes von Moskau; das Rolandslied von der Schlacht bey Roncisval, dessen Worte verschollen, dessen Sage aber noch nicht erloschen, und noch unlängst von einem der größten Dichter des Vaterlandes, von Immermann, herauf beschworen worden, ist ebenfalls der alte Unglücksgesang; und gar das Lied von Ilion verherrlicht am schönsten das alte Thema, und ist doch nicht großartiger und schmerzlicher als das französische Volkslied, worin Segür den Untergang seiner Heroenwelt besungen hat. Ja, dieses ist ein wahres Epos, Frankreichs Heldenjugend ist der schöne Heros, der früh dahinsinkt, wie wir solches Leid schon sahen in dem Tode Baldurs, Siegfrieds, Rolands und Achilles, die ebenso durch Unglück und Verrath gefallen; und jene Helden, die wir in der Ilias bewundert, wir finden sie wieder im Liede des Segür, wir sehen sie rathschlagen, zanken und kämpfen, wie einst vor dem skäischen Thore, ist auch die Jacke des Königs von Neapel etwas allzubuntscheckig modern, so ist doch sein Schlachtmuth und Uebermuth eben so groß, wie der des Peliden, ein Hektor an Milde und Tapferkeit steht vor uns Prinz Eugèen, der edle Ritter, Ney kämpft wie ein Ajax, Berthier ist ein Nestor ohne Weisheit, Davoust, Darü, Caulaincourt u. s. w., in ihnen wohnen die Seelen des Menelaos, des Odysseus, des Diomedes - nur der Kaiser selbst findet nicht seines Gleichen, in seinem Haupte ist der Olymp des Gedichtes, und wenn ich ihn, in seiner äußeren Herrschererscheinung, mit dem Agamemnon vergleiche, so geschieht das, weil ihn, eben so wie den größten Theil seiner herrlichen Kampfgenossen, ein tragisches Schicksal erwartete, und weil sein Orestes noch lebt.

Wie die Scottschen Dichtungen hat auch das Segürsche Epos einen Ton, der unsere Herzen bezwingt. Aber dieser Ton weckt nicht die Liebe zu längst verschollenen Tagen der Vorzeit, sondern es ist ein Ton, dessen Klangfigur uns die Gegenwart giebt, ein Ton, der uns für eben diese Gegenwart begeistert.

Wir Deutschen sind doch wahre Peter Schlemiehle! Wir haben auch in der letzten Zeit viel gesehen, viel ertragen, z. B. Einquartierung und Adelstolz; und wir haben unser edelstes Blut hingegeben, z. B. an England, das noch jetzt jährlich eine anständige Summe, für abgeschossene deutsche Arme und Beine, ihren ehemaligen Eigenthümern zu bezahlen hat; und wir haben im Kleinen so viel Großes gethan, daß wenn man es zusammenrechnete, die größten Thaten herauskämen, z. B. in Tyrol; und wir haben viel verloren, z. B. unsern Schlagschatten, den Titel des lieben, heiligen, römischen Reichs - und dennoch, mit allen Verlüsten, Opfern, Entbehrungen, Malheurs und Großthaten, hat unsere Literatur kein einziges solcher Denkmäler des Ruhmes gewonnen, wie sie bey unseren Nachbaren, gleich ewigen Trophäen, täglich emporsteigen. Unsere Leipziger Messen haben wenig profitirt durch die Schlacht bey Leipzig. Ein Gothaer, höre ich, will sie noch nachträglich, in epischer Form, besingen; da er aber noch nicht weiß, ob er zu den 100,000 Seelen gehört, die Hildburghausen bekömmt, oder zu den 150,000, die Meiningen bekömmt, oder zu den 160,000, die Altenburg bekömmt, so kann er sein Epos noch nicht anfangen, er müßte denn beginnen: «Singe unsterbliche Seele, Hildburghäusische Seele, - Meining'sche Seele, oder auch Altenburgische Seele, - Gleichviel singe, singe der sündigen Deutschen Erlösung!» Dieser Seelenschacher im Herzen des Vaterlandes und dessen blutende Zerrissenheit, läßt keinen stolzen Sinn, und noch viel weniger ein stolzes Wort aufkommen, unsere schönsten Thaten werden lächerlich durch den dummen Erfolg, und während wir uns unmuthig einhüllen in den Purpurmantel des deutschen Heldenblutes, kömmt ein politischer Schalk und setzt uns die Schellenkappe aufs Haupt.

Eben die Literaturen unserer Nachbaren jenseits des Rheins und des Canals muß man mit unserer Bagatell-Literatur vergleichen, um das Leere und Bedeutungslose unseres Bagatell-Lebens zu begreifen. Da ich selbst mich erst späterhin über dieses Thema, über deutsche Literaturmisere verbreiten will, so liefere ich einen heitern Ersatz durch das Einschalten der folgenden Xenien, die aus der Feder Immermanns, meines hohen Mitstrebenden, geflossen sind. Die Gleichgesinnten danken mir gewiß für die Mittheilung dieser Verse, und bis auf wenige Ausnahmen, die ich mit Sternen bezeichne, will ich sie gern als meine eigne Gesinnung vertreten.

 

 

Der poetische Literator.

 

Laß dein Lächeln, laß dein Flennen, sag' uns ohne Hinterlist,

Wann Hans Sachs das Licht erblickte, Weckherlin gestorben ist.

 

«Alle Menschen müssen sterben», spricht das Männlein mit Bedeutung.

Alter Junge, dessengleichen ist uns keine große Zeitung.

 

Mit vergeß'nen, alten Schwarten schmiert er seine Autorstiefeln,

Daß er dazu heiter weine, frißt er fromm poet'sche Zwiefeln.

 

*Willst du commentiren, Fränzel, mindestens verschon' den Luther,

Dieser Fisch behagt uns besser, ohne die zerlaß'ne Butter.

 

 

Dramatiker.

 

1.

*«Nimmer schreib' ich mehr Tragödien, mich am Publikum zu rächen!»

Schimpf' uns, wie du willst, mein Guter, aber halte dein Versprechen.

2.

Diesen Reiterlieutnant müsset, Stachelverse, ihr verschonen;

Denn er commandirt Sentenzen und Gefühl' in Escadronen.

3.

Wär' Melpomene ein Mädchen, gut, gefühlvoll und natürlich,

Rieth ich ihr: Heirathe diesen, der so milde und so zierlich.

4.

Seiner vielen Sünden wegen geht der todte Kotzebue

Um in diesem Ungethüme ohne Strümpfe, ohne Schuhe.

 

Und so kommt zu vollen Ehren tiefe Lehr' aus grauen Jahren,

Daß die Seelen der Verstorb'nen müssen in die Bestien fahren.

 

 

Oestliche Poeten.

 

Groß' mérite ist es jetzo, nach Saadis Art zu girren,

Doch mir scheint's égal gepudelt, ob wir östlich, westlich irren.

 

Sonsten sang, beym Mondenscheine, Nachtigall seu Philomele;

Wenn jetzt Bülbül flötet, scheint es mir denn doch dieselbe Kehle.

 

Alter Dichter, Du gemahnst mich, als wie Hamelns Rattenfänger;

Pfeifst nach Morgen, und es folgen all die lieben, kleinen Sänger.

 

Aus Bequemlichkeit verehren sie die Kühe frommer Inden,

Daß sie den Olympus mögen nächst in jedem Kuhstall finden.

 

Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,

Essen sie zu viel, die Armen, und vomiren dann Ghaselen.

 

 

* Glockentöne.

 

Seht den dicken Pastor, dorten unter seiner Thür im Staate,

Läutet mit den Glocken, daß man ihn verehr' in dem Ornate.

 

Und es kamen, ihn zu schauen, flugs die Blinden und die Lahmen,

Engebrust und Krampf, besonders Hysteriegeplagte Damen.

 

Weiße Salbe weder heilet, noch verschlimmert irgend Schäden,

Weiße Salbe findest jetzo du in allen Bücherläden.

 

Geht's so fort, und läßt sich jeder Pfaffe ferner adoriren,

Werd' ich in den Schooß der Kirche ehebaldigst retourniren.

 

Dort gehorch' ich einem Papste, und verehr' ein praesens Numen,

Aber hier macht sich zum numen jeglich ordinirtes lumen.

 

 

Orbis pictus.

 

Hätte einen Hals das ganze weltverderbende Gelichter,

Einen Hals, ihr hohen Götter: Priester, Histrionen, Dichter!

 

In die Kirche ging ich Morgens, um Komödien zu schauen,

Abends ins Theater, um mich an der Predigt zu erbauen.

 

Selbst der liebe Gott verlieret sehr bey mir an dem Gewichte,

Weil nach ihrem Ebenbilde schnitzen ihn viel tausend Wichte.

 

Wenn ich Euch gefall', ihr Leute, dünk' ich mich ein Leineweber,

Aber, wenn ich Euch verdrieße, seht, das stärkt mir meine Leber.

 

«Ganz bewältigt er die Sprache»; ja, es ist, sich todt zu lachen,

Seht nur, was für tolle Sprünge lässet er die Arme machen.

 

Vieles Schlimme kann ich dulden, aber eins ist mir zum Ekel,

Wenn der nervenschwache Zärtling spielt den genialen Rekel.

 

*Damals mocht'st du mir gefallen, als du buhltest mit Lucindchen,

Aber, o der frechen Liebschaft! mit Marien wollen sünd'gen.

 

Erst in England, dann in Spanien, jetzt in Brahmas Finsternissen,

Ueberall umhergestrichen, deutschen Rock und Schuh zerrissen.

 

Wenn die Damen schreiben, kramen stets sie aus von ihren Schmerzen,

Fausses couches, touchirter Tugend, - ach, die gar zu offnen Herzen!

 

Laßt die Damen mir zufrieden; daß sie schreiben, find' ich räthlich,

Führt die Frau die Autor-Feder, wird sie wenigstens nicht schädlich.

 

Glaubt,das Schriftenthum wird gleichen bald den ärgsten Rockenstuben,

Die Gevatterinnen schnacken, und es hören zu die Buben.

 

Wär' ich Dschingischan, o China, wärst du längst von mir vernichtet,

Dein verdammtes Theegeplätscher hat uns langsam hingerichtet.

 

Alles setzet sich zur Ruhe, und der Größte wird geduldig,

Streicht gemächlich ein, was früh're Zeiten blieben waren schuldig.

 

Jene Stadt ist voller Verse, Töne, Statuen, Schilderey'n,

Wursthans steht mit der Trompete an dem Thor, und schreit: «Herein!»

 

«Diese Reime klingen schändlich, ohne Metrum und Caesuren»

Wollt in Uniform ihr stecken literarische Panduren? -

 

«Sag', wie kommst du nur zu Worten, die so grob und unge- zogen?»

Freund, im wüsten Marktgedränge braucht man seine Ellenbogen.

 

«Aber du hast auch bereimet, was unläugbar gut und groß.»

Mischt der Beste sich zum Plebse, duldet er des Plebses Loos.

 

Wenn die Sommerfliegen schwärmen, tödtet Ihr sie mit den Klappen,

Und nach diesen Reimen werdet schlagen Ihr mit Euren Kappen.