BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Briefe

 

1797

Hölderlin an Friedrich Schiller

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 6, Briefe.

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1959

 

______________________________________________________________________________

 

 

 

18. September 1797.

 

Ihr Brief wird mir unvergeßlich seyn, edler Man! Er hat mir ein neues Leben gegeben. Ich fühle tief, wie treffend Sie meine wahrsten Bedürfnisse beurtheilt haben, und ich folge um so freiwilliger Ihrem Rath, weil ich wirklich schon eine Richtung nach dem Wege genommen hatte, den Sie mir weisen.

Ich betrachte jezt die metaphysische Stimmung, wie eine gewisse Jungfräulichkeit des Geistes und glaube, daß die Scheue vor dem Stoffe, so unnatürlich sie an sich ist, doch als Lebensperiode sehr natürlich und auf eine Zeit so zuträglich ist, wie alle Flucht bestimmter Verhältnisse, weil sie die Kraft in sich zurükhält, weil sie das verschwenderische jugendliche Leben sparsam macht, so lange, bis sein reifer Überfluß es treibt, sich in die mannigfaltigen Objecte zu theilen. Ich glaube auch, daß eine allgemeinere Thätigkeit des Geistes und Lebens, nicht blos dem Gehalte, dem Wesen nach vor den bestimmtern Handlungen und Vorstellungen, sondern daß auch wirklich der Zeit nach, in der historischen Entwiklung der Menschennatur die Idee vor dem Begriffe ist, so wie die Tendenz vor der (bestimmten, regelmäßigen) That. Ich betrachte die Vernunft, als den Anfang des Verstandes, und wenn der gute Wille zaudert und sich sträubt, zur nüzlichen Absicht zu werden, so find' ich es ebenso karakteristisch für die Menschennatur überhaupt, als es für Hamlet karakteristisch ist, daß es ihn so schwer ankömmt, etwas zu thun, aus dem einzigen Zweke, seinen Vater zu rächen.

Ich hatte von je den Brauch, mein überflüssig Räsonnement Ihnen vorzuplaudern, aber ich habe so eine Art von Eingang nötig, um mich eigentlicher an Sie zu adressiren, und Sie sehen den Grund davon und verzeihens.

Sie werden fragen, wie ich dazu komme, die neue Übersezung von Kabale und Liebe, die Ihnen der Englische Übersezer zuschikt, durch meine Hände gehen zu lassen.

Ein Freund von mir, Sekretär Mögling aus Stutgard, der sich mit dem Würtembergischen Prinzen einige Zeit in London aufhielt, besuchte mich bei seiner Rükreise, und weil er weiß, daß ich die Ehre habe, Ihnen bekannt zu seyn, gab er mir den Auftrag, oder eigentlich, er wollte mir die Freude lassen, es Ihnen zu überschiken. Der Verleger des Buchs, der es meinem Freunde zunächst zustellte, empfiehlt sich Ihnen ebenfalls und äußert den Wunsch, Ihre neuesten Werke, sogleich bei ihrer Erscheinung zu bekommen; er habe es unternommen, eine Übersezung von all' Ihren Schriften zu liefern. Sollt' es Ihnen lästig seyn, diesen Wunsch selbst zu befriedigen, so würde ich es mir zur Ehre rechnen, nach Ihrer Disposition mich mit dem Verleger in Korrespondenz zu sezen.

Ich danke Ihnen innigst für Ihre gütige Aufnahme des Wanderers in die Horen. Glauben Sie, daß ich diese Ehre zu schäzen weiß! Auch freut es mich äußerst, daß Sie den Aether Ihres Allmanachs würdig gefunden haben. Ihrer Erlaubniß gemäß, schik' ich Ihnen das Gedicht an die klugen Rathgeber. Ich hab' es gemildert und gefeilt, so gut ich konnte. Ich habe einen bestimmteren Ton hineinzubringen gesucht, so viel es der Karakter des Gedichts leiden wollte. Ich lege Ihnen noch ein Lied bei. Es ist das umgearbeitete und abgekürzte Lied an Diotima, das Sie schon von mir besizen. Ich nähre die Hoffnung, daß es in dieser Gestalt wohl eine Stelle in Ihrem Allmanache finden dürfte.

Sie sagen, ich sollte Ihnen näher seyn, so würden Sie mir sich ganz verständlich machen können; von Ihnen bedeutet mir ein solches Wort so viel!

Aber glauben Sie, daß ich denn doch mir sagen muß, daß Ihre Nähe mir nicht erlaubt ist? Wirklich, Sie beleben mich zu sehr, wenn ich um Sie bin. Ich weiß es noch ganz gut, wie Ihre Gegenwart mich immer entzündete, daß ich den ganzen andern Tag zu keinem Gedanken kommen konnte. So lang ich vor Ihnen war, war mir das Herz fast zu klein, und wenn ich weg war, könnt' ich es gar nicht mehr zusammenhalten. Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesezt hat. Man muß sie zudeken um Mittag. Sie mögen über mich lachen; aber ich spreche Wahrheit.

Hölderlin.