BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Friedrich Hölderlin

1770 - 1843

 

Pindar-Fragmente

 

zwischen 1800 und 1805

 

Textgrundlage:

Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 5 Übersetzungen, S. 281 ff.

Hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart: Cotta, 1954

Die von Hölderlin wahrscheinlich bei der Ausarbeitung

der Pindar-Fragmente verwandte Pindar-Ausgabe findet

sich auf den Seiten des Instituts für Textkritik.

 

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Pindar-Fragmente

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Untreue der Weisheit

 

O Kind, dem an des pontischen Wilds Haut,

Des felsenliebenden, am meisten das Gemüth

Hängt, allen Städten geselle dich,

Das gegenwärtige lobend

Gutwillig,

Und anderes denk in anderer Zeit.

 

Fähigkeit der einsamen Schule für die Welt. Das Unschuldige des reinen Wissens als die Seele der Klugheit. Denn Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben, das Wissen die Kunst, bei positiven Irrtümern im Verstande sicher zu seyn. Ist intensiv der Verstand geübt, so erhält er seine Kraft auch im Zerstreuten; sofern er an der eigenen geschliffenen Schärfe das Fremde leicht erkennt, deßwegen nicht leicht irre wird in ungewissen Situationen.

So tritt Jason, ein Zögling des Centauren, vor den Pelias:

 

ich glaube die Lehre

Chirons zu haben. Aus der Grotte nemlich komm' ich

Bei Charikli und Philyra, wo des

Centauren Mädchen mich ernähret,

Die heilgen; zwanzig Jahre aber hab

Ich zugebracht und nicht ein Werk

Noch Wort, ein schmuziges jenen

Gesagt, und bin gekommen nach Haus,

Die Herrschaft wiederzubringen meines Vaters.

 

 

Von der Wahrheit

 

Anfängerin großer Tugend, Königin Wahrheit,

Daß du nicht stoßest

Mein Denken an rauhe Lüge.

 

Furcht vor der Wahrheit, aus Wohlgefallen an ihr. Nemlich das erste lebendige Auffassen derselben im lebendigen Sinne ist, wie alles reine Gefühl, Verwirrungen ausgesezt; so daß man nicht irret, aus eigener Schuld, noch auch aus einer Störung, sondern des höheren Gegenstandes wegen, für den, verhältnißmäßig, der Sinn zu schwach ist.

 

 

Von der Ruhe

 

Das Öffentliche, hat das ein Bürger

In stiller Witterung gefaßt,

Soll er erforschen

Großmänlicher Ruhe heiliges Licht,

Und dem Aufruhr von der Brust,

Von Grund aus wehren seinen Winden; denn Armuth macht er

Und feind ist er Erziehern der Kinder.

 

Ehe die Geseze, der grosmännlichen Ruhe heiliges Licht, erforschet werden, muß einer, ein Gesezgeber oder ein Fürst, in reißenderem oder stetigerem Schiksaal eines Vaterlandes und je nachdem die Receptivität des Volkes beschaffen ist, den Karakter jenes Schiksaals, das königlichere oder gesammtere in den Verhältnissen der Menschen, zu ungestörter Zeit, usurpatorischer, wie bei griechischen Natursöhnen, oder erfahrener, wie bei Menschen von Erziehung auffassen. Dann sind die Geseze die Mittel, jenes Schiksaal in seiner Ungestörtheit feszuhalten. Was für den Fürsten origineller Weise, das gilt, als Nachahmung, für den eigentlicheren Bürger.

 

 

Vom Delphin

 

Den in des wellenlosen Meeres Tiefe von Flöten

Bewegt hat liebenswürdig der Gesang.

 

Der Gesang der Natur, in der Witterung der Musen, wenn über Blüthen die Wolken, wie Floken, hängen, und über dem Schmelz von goldenen Blumen. Um diese Zeit giebt jedes Wesen seinen Ton an, seine Treue, die Art, wie eines in sich selbst zusammenhängt. Nur der Unterschied der Arten macht dann die Trennung in der Natur, daß also alles mehr Gesang und reine Stimme ist, als Accent des Bedürfnisses oder auf der anderen Seite Sprache.

Es ist das wellenlose Meer, wo der bewegliche Fisch die Pfeife der Tritonen, das Echo des Wachstums in den waichen Pflanzen des Wassers fühlt.

 

 

Das Höchste

 

Das Gesez,

Von allen der König, Sterblichen und

Unsterblichen; das führt eben

Darum gewaltig

Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.

 

Das Unmittelbare, streng genommen, ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen; der Gott muß verschiedene Welten unterscheiden, seiner Natur gemäß, weil himmlische Güte, ihret selber wegen, heilig seyn muß, unvermischet. Der Mensch, als Erkennendes, muß auch verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkenntniß nur durch Entgegensezung möglich ist. Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen.

Die strenge Mittelbarkeit ist aber das Gesez.

Deswegen aber führt es gewaltig das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.

Die Zucht, sofern sie die Gestalt ist, worin der Mensch sich und der Gott begegnet, der Kirche und des Staats Gesez und anererbte Sazungen (die Heiligkeit des Gottes, und für den Menschen die Möglichkeit einer Erkenntniß, einer Erklärung), diese führen gewaltig das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand, sie halten strenger, als die Kunst, die lebendigen Verhältnisse fest, in denen, mit der Zeit, ein Volk sich begegnet hat und begegnet. «König» bedeutet hier den Superlativ, der nur das Zeichen ist für den höchsten Erkenntnißgrund, nicht für die höchste Macht.

 

 

Das Alter

 

Wer recht und heilig

Das Leben zubringt,

Süß ihm das Herz ernährend,

Lang Leben machend,

Begleitet die Hoffnung, die

Am meisten Sterblichen

Die vielgewandte Meinung regieret.

 

Eines der schönsten Bilder des Lebens, wie schuldlose Sitte das lebendige Herz erhält, woraus die Hoffnung kommet; die der Einfalt dann auch eine Blüthe giebt, mit ihren mannigfaltigen Versuchen, und den Sinn gewandt und so lang Leben machet, mit ihrer eilenden Weile.

 

 

Das Unendliche

 

Ob ich des Rechtes Mauer,

Die hohe oder krummer Täuschung

Ersteig' und so mich selbst

Umschreibend, hinaus

Mich lebe, darüber

Hab ich zweideutig ein

Gemüth, genau es zu sagen.

 

Ein Scherz des Weisen, und das Räthsel sollte fast nicht gelöst werden. Das Schwanken und das Streiten zwischen Recht und Klugheit löst sich nemlich nur in durchgängiger Beziehung. «Ich habe zweideutig ein Gemüth, genau es zu sagen.» Daß ich dann zwischen Recht und Klugheit den Zusammenhang auffinde, der nicht ihnen selber, sondern einem dritten zugeschrieben werden muß, wodurch sie unendlich (genau) zusammenhängen, darum hab' ich ein zweideutig Gemüth.

 

 

Die Asyle

 

Zuerst haben

Die wohlrathende Themis

Die Himmlischen, auf goldenen Rossen, neben

Des Ozeans Salz,

Die Zeiten zu der Leiter,

Zur heiligen geführt des Olympos, zu

Der glänzenden Rükkehr,

Des Retters alte Tochter,

Des Zevs, zu seyn,

Sie aber hat

Die goldgehefteten, die gute,

Die glänzendbefruchteten Ruhestätten geboren.

 

Wie der Mensch sich sezt, ein Sohn der Themis, wenn, aus dem Sinne für Vollkommenes, sein Geist, auf Erden und im Himmel, keine Ruhe fand, bis sich im Schiksaal begegnend, an den Spuren der alten Zucht, der Gott und der Mensch sich wiedererkennt, und in Erinnerung ursprünglicher Noth froh ist da, wo er sich halten kann.

Themis, die ordnungsliebende, hat die Asyle des Menschen, die stillen Ruhestätten geboren, denen nichts Fremdes ankann, weil an ihnen das Wirken und das Leben der Natur sich konzentrirte, und ein Ahnendes um sie, wie erinnernd, dasselbige erfähret, das sie vormals erfuhren.

 

 

Das Belebende

 

Die männerbezwingende, nachdem

Gelernet die Centauren

Die Gewalt

Des honigsüßen Weines, plözlich trieben

Die weiße Milch mit Händen, den Tisch sie fort, von selbst,

Und aus den silbernen Hörnern trinkend

Bethörten sie sich.

 

Der Begriff von den Centauren ist wohl der vom Geiste eines Stromes, so fern der Bahn und Gränze macht, mit Gewalt, auf der ursprünglich pfadlosen aufwärtswachsenden Erde.

Sein Bild ist deswegen an Stellen der Natur, wo das Gestade reich an Felsen und Grotten ist, besonders an Orten, wo ursprünglich der Strom die Kette der Gebirge verlassen und ihre Richtung queer durchreißen mußte.

Centauren sind deswegen auch ursprünglich Lehrer der Naturwissenschaft, weil sich aus jenem Gesichtspuncte die Natur am besten einsehn läßt.

In solchen Gegenden mußt' ursprünglich der Strom umirren, eh' er sich eine Bahn riß. Dadurch bildeten sich, wie an Teichen, feuchte Wiesen, und Höhlen in der Erde für säugende Thiere, und der Centauer war indessen wilder Hirte, dem Odyssäischen Cyklops gleich; die Gewässer suchten sehnend ihre Richtung. Jemehr sich aber von seinen beiden Ufern das troknere fester bildete, und Richtung gewann durch festwurzelnde Bäume, und Gesträuche und den Weinstok, destomehr mußt' auch der Strom, der seine Bewegung von der Gestalt des Ufers annahm, Richtung gewinnen, bis er, von seinem Ursprung an gedrängt, an einer Stelle durchbrach, wo die Berge, die ihn einschlossen, am leichtesten zusammenhiengen.

So lernten die Centauren die Gewalt des honigsüßen Weins, sie nahmen von dem festgebildeten, bäumereichen Ufer Bewegung und Richtung an, und warfen die weiße Milch und den Tisch mit Händen weg, die gestaltete Welle verdrängte die Ruhe des Teichs, auch die Lebensart am Ufer veränderte sich, der Überfall des Waldes mit den Stürmen und den sicheren Fürsten des Forsts regte das müßige Leben der Haide auf, das stagnirende Gewässer ward so lange zurükgestoßen, vom jäheren Ufer, bis es Arme gewann, und so mit eigener Richtung, von selbst aus silbernen Hörnern trinkend, sich Bahn machte, eine Bestimmung annahm.

Die Gesänge des Ossian besonders sind wahrhafftige Centaurengesänge, mit dem Stromgeist gesungen, und wie vom griechischen Chiron, der den Achill auch das Saitenspiel gelehrt.

 

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