BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rudolf von Jhering

1818 - 1892

 

Der Kampf um's Recht

 

Druckfassung des Vortrags

 

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Der Begriff des Rechts ist bekanntlich ein praktischer, d. h. ein Zweckbegriff, jeder Zweckbegriff aber ist seiner Natur nach ein dualistisch gestalteter, denn er schliesst den Gegensatz von Zweck und Mittel in sich – es reicht nicht aus, bloss den Zweck namhaft zu machen, sondern es muss zugleich das Mittel angegeben werden, wie er erreicht werden kann. Auf diese beiden Fragen muss daher auch das Recht uns überall Rede und Antwort stehen – im Ganzen und Grossen sowohl, wie bei jedem einzelnen Rechtsinstitut, und in der That ist die ganze Systematik des Rechts nichts als die unausgesetzte Beantwortung beider Fragen. Jede Definition eines Rechtsinstituts, z. B. des Eigenthums, der Obligation ist nothwendigerweise zwiespältig, sie gibt den Zweck an, dem dasselbe dient, und zugleich das Mittel, wie er zu verfolgen ist. Das Mittel aber, wie verschiedenartig es auch gestaltet sein möge, reducirt sich stets auf den Kampf gegen das Unrecht. Im Begriffe des Rechts finden sich die Gegensätze: Kampf und Frieden zusammen – der Frieden als das Ziel, der Kampf als das Mittel des Rechts, beide durch den Begriff desselben gleichmässig gesetzt und von ihm unzertrennlich.

Man könnte dagegen einwenden: der Kampf, der Unfriede sei ja gerade das, was das Recht verhindern wolle, er enthalte eine Störung, eine Negation der Ordnung des Rechts, kein Moment des Rechtsbegriffs, und so wenig das Laster als Negation der Tugend in die Definition der letzteren gehöre, so wenig der Kampf und der Unfriede in die des Rechts. Der Einwand wäre richtig, wenn es sich um den Kampf des Unrechts gegen das Recht handelte, allein es handelt sich um den Kampf des Rechts gegen das Unrecht. Ohne diesen Kampf, d. h. ohne den Widerstand, den es dem Unrecht entgegensetzt, würde das Recht sich selber verläugnen. So lange noch das Recht auf den Angriff von Seiten des Unrechts gefasst sein muss – und dies wird dauern, so lange die Welt steht – wird der Kampf dem Recht nicht erspart bleiben. Der Kampf ist mithin nicht etwas dem Recht Fremdes, sondern er ist mit dem Wesen desselben unzertrennlich verbunden, ein Moment seines Begriffs.

Diesen Gedanken durchzuführen, die Bedeutung des Kampfes für das Recht nachzuweisen, ist die Aufgabe des gegenwärtigen Vortrages.

Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, das Recht eines Volkes, wie das eines Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus. Das Recht ist kein logischer, sondern es ist ein Kraftbegriff. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Wagschaale hält, mit der sie das Recht abwägt, in der andern das Schwert, mit dem sie es behauptet. Das Schwert ohne die Wage ist die nackte Gewalt, die Wage ohne das Schwert die Ohnmacht des Rechts. Beide gehören zusammen, und ein vollkommener Rechtszustand herrscht nur da, wo die Kraft, mit der die Gerechtigkeit das Schwert führt, der Geschicklichkeit gleich kommt, mit der sie die Wage handhabt.

Recht ist unausgesetzte Arbeit, und zwar nicht etwa bloss der Staatsgewalt, sondern des ganzen Volkes. Das Ganze des Rechtslebens, mit einem Blicke überschaut, vergegenwärtigt uns dasselbe Gemälde des rastlosen Ringens, Kämpfens, Arbeitens einer ganzen Nation, wie ihre Arbeit auf dem Gebiete des Eigenthums. Jeder Einzelne, der in die Lage kommt, sein Recht behaupten zu müssen, nimmt an dieser nationalen Arbeit seinen Antheil, trägt sein Scherflein bei zur Verwirklichung der Rechtsidee auf Erden.

Freilich tritt diese Anforderung nicht an Alle heran. Unangefochten und ohne Anstoss verläuft das Leben von Tausenden von Individuen in den geregelten Bahnen des Rechts, und würden wir ihnen sagen: Das Recht ist Kampf, sie würden uns nicht verstehen, sie kennen dasselbe nur als Zustand des Friedens, der Ruhe, der Ordnung. Und vom Standpunkt ihrer eigenen Erfahrung haben sie vollkommen Recht, ganz so wie der reiche Erbe, dem mühelos die Frucht fremder Arbeit in den Schoos gefallen ist. Recht hat, den Satz: Eigenthum ist Arbeit, in Abrede zu stellen. Die Täuschung Beider hat ihren Grund darin, dass die zwei Seiten des Eigenthums- und Rechtsbegriffes subjectiv in der Weise aus einander fallen können, dass dem Einen der Genuss und der Friede, dem Andern die Arbeit und der Kampf zu Theil wird. Würden wir Letzteren fragen, die Antwort würde gerade entgegengesetzt lauten. Das Eigenthum wie das Recht ist eben ein Januskopf mit einem Doppelantlitz; Manchen kehrt er bloss die eine Seite, Andern bloss die andere zu, daher denn die völlige Verschiedenheit des Bildes, das Jeder von ihm mit hinweg nimmt. In Bezug auf das Recht gilt dies, wie von einzelnen Individuen, so auch von ganzen Zeitaltern. Das Leben des einen ist Krieg, das Leben des andern Friede, und die Völker sind durch diese Verschiedenheit der subjectiven Vertheilung beider ganz derselben Täuschung ausgesetzt, wie die Individuen. Eine lange Periode des Friedens, und der Glaube an den ewigen Frieden steht in üppigster Blüthe, bis der erste Kanonenschuss den schönen Traum verscheucht, und an die Stelle eines Geschlechts, das den Frieden bloss genossen hat, ein anderes tritt, welches ihn wieder verdienen, in der schweren Arbeit des Krieges ihn erst suchen muss. So vertheilt sich beim Eigenthum wie beim Recht Arbeit und Genuss, aber ihre Zusammengehörigkeit erleidet dadurch keinen Eintrag; für den Einen, der geniesst und in Frieden lebt, hat ein Anderer arbeiten und kämpfen müssen. Der Frieden ohne Kampf, der Genuss ohne Arbeit gehört der Zeit des Paradieses an, die Geschichte kennt beide nur als Resultate mühevoller, unablässiger Arbeit.

Diesen Gedanken, dass der Kampf die Arbeit des Rechts ist und in Bezug auf seine praktische Nothwendigkeit sowohl wie seine ethische Würdigung ganz auf eine Linie mit der Arbeit beim Eigenthum zu stellen ist, gedenke ich im Folgenden weiter auszuführen. Ich glaube damit kein überflüssiges Werk zu thun, im Gegentheil eine Unterlassungssünde gut zu machen, die sich unsere Theorie – ich meine nicht bloss die Rechtsphilosophie, sondern auch unsere positive Jurisprudenz hat zu Schulden kommen lassen. Man merkt es unserer Theorie nur zu deutlich an, dass sie mehr mit der Wage als mit dem Schwert der Gerechtigkeit zu thun hat; die Einseitigkeit des Standpunktes, von dem aus sie das Recht zu betrachten gewohnt ist, und der sich kurz darin zusammenfassen lässt, dass ihr das Recht nicht als Machtbegriff, sondern als abstracte Ordnung des Lebens erscheint, hat meines Erachtens ihrer ganzen Auffassung von Recht einen einseitigen Charakter aufgedrückt, wie ich dies im Folgenden hoffe nachweisen zu können.

Zwei Richtungen sind es, nach denen wir den Kampf um's Recht verfolgen müssen, sie sind uns bezeichnet durch den Doppelsinn des Wortes: Recht – das Recht im objectiven und das Recht im subjectiven Sinn. Nach der ersten Richtung ist es der Kampf, der die Entstehung, Bildung, den Fortschritt des abstracten Rechts in der Geschichte begleitet, nach der zweiten ist es der Kampf um die Verwirklichung der concreten Rechte.

Der Kampf beim Werden des Rechts! Ist denn das Recht bei seiner Entstehung einem solchen Kampf ausgesetzt? Die herrschende Savigny-Puchta'sche Theorie von der Entstehung des Rechts weiss uns davon nichts zu berichten. Ihr zufolge geht die Bildung des Rechts ganz so schmerzlos vor sich, wie die der Sprache oder der Kunst, es bedarf keines Ringens, Kämpfens, ja nicht einmal des Suchens, sondern es ist die still wirkende Kraft der Wahrheit, welche ohne gewaltsame Anstrengung langsam, aber sicher sich Bahn bricht, die Macht der Ueberzeugung, der sich allmählig die Gemüther erschliessen, und der sie durch ihr Handeln Ausdruck geben – ein neuer Rechtssatz tritt eben so mühelos in's Dasein, wie irgend eine Regel der Sprache. Der Satz, dass der Gläubiger den zahlungsunfähigen Schuldner als Sklaven in auswärtige Knechtschaft verkaufen, oder dass der Eigenthümer seine Sache von Jedem vindiciren könne, bei dem er sie trifft, würde sich dieser Ansicht zufolge im alten Rom in kaum anderer Weise gebildet haben, als die Regel, dass cum den Ablativ regiere.

Das ist die Anschauung von der Entstehung des Rechts, mit der ich selber seiner Zeit die Universität verlassen, und unter deren Einfluss ich noch viele Jahre hindurch gestanden habe. Hat dieselbe auf Wahrheit Anspruch? Es muss zugegeben werden, dass auch das Recht ganz wie die Sprache oder Kunst, eine ungestörte, nennen wir sie mit dem hergebrachten Ausdruck: organische Entwicklung von Innen heraus kennt. Ihr gehören alle diejenigen Rechtssätze an, welche sich aus der gleichmässigen autonomischen Abschliessung der Rechtsgeschäfte im Verkehr nach und nach ablagern, sowie alle diejenigen Abstractionen, Consequenzen, Regeln, welche die Wissenschaft aus dem vorhandenen Rechte mittelst der Dialektik des Begriffes erschliesst und zum Bewusstsein bringt. Aber die Macht dieser beiden Factoren: des Verkehrs wie der Wissenschaft, ist eine beschränkte, sie kann innerhalb der vorhandenen Bahnen die Bewegung reguliren, fördern, aber sie kann die Dämme nicht einreissen, die dem Strome verwehren, eine neue Richtung einzuschlagen. Das kann nur das Gesetz, d.h. die absichtliche, auf dieses Ziel gerichtete That der Staatsgewalt, und es ist daher nicht Zufall, sondern eine im Wesen des Rechts tief begründete Nothwendigkeit, dass alle eingreifenden Reformen des Processes und materiellen Rechts auf Gesetze zurückweisen. Nun kann zwar eine Aenderung, welche das Gesetz an dem bestehenden Rechte trifft, ihren Einfluss möglicherweise ganz auf letzteres: auf die Region des Abstracten, beschränken, ohne ihre Wirkungen bis in die Region der concreten Verhältnisse hinab zu erstrecken, die sich auf Grund des bisherigen Rechts gebildet hatten, – eine blosse Aenderung der Rechtsmaschinerie; bei der eine untaugliche Schraube oder Walze durch eine vollkommenere ersetzt wird. Sehr häufig ist aber bekanntlich das Gegentheil der Fall, und die Aenderung lässt sich nur um den Preis eines höchst empfindlichen Eingriffes in vorhandene Rechte und Privatinteressen erreichen. Mit dem bestehenden Recht haben sich im Laufe der Zeit die Interessen von Tausenden von Individuen und ganzer Stände in einer Weise verbunden, dass dasselbe sich nicht beseitigen lässt, ohne letztere in empfindlichster Weise zu gefährden – den Rechtssatz oder die Einrichtung aufheben wollen, heisst allen diesen Interessen den Krieg erklären, einen Polypen losreissen, der sich mit tausend Armen festgeklammert hält. Jeder solche Versuch ruft also in naturgemässer Bethätigung des Selbsterhaltungstriebes den heftigsten Widerstand der bedrohten Interessen, und damit einen Kampf hervor, bei dem, wie bei jedem Kampfe, nicht das Gewicht der Gründe, sondern das Machtverhältniss der sich gegenüberstehenden Kräfte den Ausschlag gibt und damit nicht selten dasselbe Resultat hervorruft, wie beim Parallelogramm der Kräfte: eine Ablenkung von der ursprünglichen Linie in die Diagonale. Nur so wird es erklärlich, dass Einrichtungen, über welche das öffentliche Urtheil längst den Stab gebrochen hat, oft noch lange ihr Leben zu fristen vermögen; es ist nicht die vis inertiae, die es ihnen erhält, sondern die Widerstandskraft der bei ihrem Bestände betheiligten Interessen. In allen solchen Fällen nun, wo das bestehende Recht diesen Rückhalt am Interesse findet, ist es ein Kampf, den das Neue zu bestehen hat, um sich den Eingang zu erzwingen, ein Kampf, der sich oft über ein ganzes Jahrhundert hinzieht. Den höchsten Grad der Intensivität erreicht derselbe dann, wenn die Interessen die Gestalt erworbener Rechte angenommen haben. Hier stehen sich zwei Partheien gegenüber, von denen jede die Heiligkeit des Rechts in ihrem Panier führt, die eine die des historischen Rechts, des Rechts der Vergangenheit, die andere die des ewig werdenden und sich verjüngenden Rechts, des ewigen Urrechts der Menschheit auf das Werden – ein Conflictsfall der Rechtsidee mit sich selber, der in Bezug auf die Subjecte, die ihre ganze Kraft und ihr ganzes Sein für ihre Ueberzeugung eingesetzt haben und schliesslich dem Gottesurtheil der Geschichte erliegen, etwas wahrhaft Tragisches hat. Alle grossen Errungenschaften, welche die Geschichte des Rechts zu registriren hat: die Aufhebung der Sklaverei, der Leibeigenschaft, die Freiheit des Grundeigenthums, der Gewerbe, die Glaubensfreiheit u.s.w. haben auf diesem Wege des heftigsten, oft Jahrhunderte lang fortgesetzten Kampfes gewonnen werden müssen; nicht selten bezeichnen Ströme Bluts, überall aber zertretene Rechte den Weg, den das Recht dabei zurückgelegt hat. Denn „das Recht ist der Saturn, der seine eigenen Kinder verspeist“; 1) das Recht kann sich nur dadurch verjüngen, dass es mit seiner eigenen Vergangenheit aufräumt. Ein concretes Recht, das, weil es einmal entstanden, unbegränzte, also ewige Fortdauer beansprucht, ist das Rind, das seinen Arm gegen die eigene Mutter erhebt; es verhöhnt die Idee des Rechts, indem es sich auf sie beruft, denn die Idee des Rechts ist ewiges Werden, das Gewordene aber muss dem neuen Werden weichen, denn

 

– – Alles, was entsteht,

Ist werth, dass es zu Grunde geht.

 

So vergegenwärtigt uns also das Recht in seiner historischen Bewegung das Bild des Suchens, Ringens, Kämpfens, kurz der gewaltsamen Anstrengung. Dem menschlichen Geiste, der unbewusst an der Sprache seine Bildnerarbeit vollzieht, stellt sich kein gewaltsamer Widerstand entgegen, und die Kunst hat keinen andern Gegner zu überwinden als ihre eigene Vergangenheit: den herrschenden Geschmack. Aber das Recht als Zweckbegriff, mitten hineingestellt in das chaotische Getriebe menschlicher Zwecke, Bestrebungen, Interessen, muss unausgesetzt tasten, suchen, um den richtigen Weg zu finden, und, wenn es ihn entdeckt hat, kämpfen und Gewalt anwenden, um ihn wirklich zu beschreiten. So zweifellos es ist, dass auch diese Entwicklung, ganz so wie die der Kunst und Sprache, eine gesetzmässige, einheitliche ist, so sehr weicht sie doch eben in der Art und Form, wie sie Statt findet, von der letzteren ab, und wir müssen daher in diesem Sinn die von Savigny aufgebrachte und so rasch zur allgemeinen Geltung gelangte Parallele zwischen dem Recht auf der einen, und der Sprache und Kunst auf der andern Seite entschieden zurückweisen. Als theoretische Ansicht falsch, aber ungefährlich, enthält sie als politische Maxime eine der verhängnissvollsten Irrlehren, die sich denken lassen, denn sie vertröstet den Menschen auf einem Gebiete, wo er handeln soll, und mit vollem, klarem Bewusstsein des Zweckes und mit Aufbietung aller seiner Kräfte handeln soll, darauf, dass die Dinge sich von selber machen, dass er am bessten thue, die Hände in den Schooss zu legen und vertrauensvoll abzuwarten, was aus dem Urquell des Rechts: der nationalen Rechtsüberzeugung, nach und nach an's Tageslicht trete. Daher die Abneigung Savigny's und aller seiner Jünger gegen das Einschreiten der Gesetzgebung, 2) daher das gänzliche Verkennen der wahren Bedeutung der Gewohnheit in der Puchta'schen Theorie des Gewohnheitsrechts. Die Gewohnheit ist für Puchta nichts als ein blosses Erkenntnissmittel der rechtlichen Ueberzeugung; dass diese Ueberzeugung sich selber erst bildet, indem sie handelt, dass sie erst durch dies Handeln ihre Kraft, und damit ihren Beruf bewährt, das Leben zu beherrschen – kurz, dass auch für das Gewohnheitsrecht der Satz gilt: das Recht ist ein Machtbegriff – dafür war das Auge dieses hervorragenden Geistes völlig verschlossen. Er zahlte damit nur der Zeit seinen Tribut. Denn die Zeit war die der romantischen Periode in unserer Poesie, und wer nicht zurückschrickt vor der Uebertragung des Begriffs des Romantischen auf die Jurisprudenz, und sich die Mühe nehmen will, die entsprechenden Richtungen auf beiden Gebieten mit einander zu vergleichen, wird mir vielleicht nicht Unrecht geben, wenn ich behaupte, dass die historische Schule eben so gut die romantische genannt werden könnte. Es ist eine wahrhaft romantische, d. h. auf einer falschen Idealisirung vergangener Zustände beruhende Idee, dass das Recht sich schmerzlos, mühelos, thatenlos bilde, wie die Pflanze des Feldes; die rauhe Wirklichkeit lehrt uns das Gegentheil, und nicht bloss das kleine Stück derselben, das wir selber vor Augen haben, und das uns fast überall die gewaltsamsten Anstrengungen der Völker in Bezug auf die Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse vorführt – Fragen der eingreifendsten Art, von denen die eine die andere drängt –, sondern der Eindruck bleibt derselbe, wohin wir unsere Blicke in die Vergangenheit zurückschweifen lassen. So erübrigt für die Savigny'sche Theorie lediglich die vorgeschichtliche Zeit, über die uns alle Nachrichten fehlen. Aber wenn es einmal verstattet sein soll, über sie Vermuthungen zu äussern, so setze ich der Savigny'schen, welche sie zum Schauplatz jener harmlosen, friedlichen Bildung des Rechts aus dem Innern der Volksüberzeugung heraus ausersehen hat, die meinige, ihr diametral entgegengesetzte gegenüber, und man wird mir zugestehen müssen, dass sie wenigstens die Analogie der sichtbaren historischen Entwicklung des Rechts für sich hat, und wie ich meinerseits glaube, auch den Vorzug grösserer psychologischer Wahrscheinlichkeit. Die Urzeit! Es war einmal Mode, sie auszustatten mit allen schönen Eigenschaften: Wahrheit, Offenheit, Treue, kindlichem Sinn, frommem Glauben, und auf solchem Boden würde sicherlich auch ein Recht haben gedeihen können ohne eine weitere Triebkraft als die Macht der rechtlichen Ueberzeugung; der Faust und des Schwertes hätte es nicht bedurft. Aber heutzutage weiss Jeder, dass die fromme Urzeit die gerade entgegengesetzten Züge an sich trug, und die Supposition, dass sie auf leichtere Weise zu ihrem Recht gekommen sei als alle späteren Zeitalter, dürfte schwerlich noch auf Glauben rechnen können. Ich meinerseits bin der Ueberzeugung, dass die Arbeit, die sie daran hat setzen müssen, eine noch viel härtere gewesen ist, und dass selbst die einfachsten Rechtssätze, wie z. B. die oben genannten aus dem ältesten römischen Recht über die Befugniss des Eigenthümers, seine Sache von jedem Besitzer zu vindiciren, und des Gläubigers, den zahlungsfähigen Schuldner in auswärtige Knechtschaft zu verkaufen, erst in wildem Kampf haben erstritten werden müssen, bevor sie wirklich feststanden, und Jeder sich ihnen fügte. Doch wie dem auch sei, wir sehen [ab von] der Urzeit; die Auskunft, welche die urkundliche Geschichte uns über die Entstehung des Rechts ertheilt, kann uns genügen, diese Auskunft aber lautet: die Geburt des Rechts ist wie die des Menschen regelmässig begleitet von heftigen Geburtswehen.

Und dass sie es ist, sollen wir es beklagen? Gerade der Umstand, dass das Recht den Völkern nicht mühelos zufällt, dass sie darum haben ringen und streiten, kämpfen und bluten müssen, gerade dieser Umstand knüpft zwischen ihnen und ihrem Rechte ein Band, ganz so fest, wie der Einsatz des eigenen Lebens bei der Geburt zwischen der Mutter und dem Kinde. Ein mühelos gewonnenes Recht steht auf Einer Linie mit den Kindern, die der Storch gebracht hat; was der Storch gebracht hat, kann der Fuchs oder Geier wieder holen. Aber der Mutter, die das Kind geboren, holt er es nicht, und eben so wenig einem Volke Rechte und Einrichtungen, die es in schwerer, harter, blutiger Arbeit errungen hat. Man darf geradezu behaupten: die Energie der Liebe, mit der ein Volk seinem Recht anhängt und es behauptet, bestimmt sich nach dem Einsatz an Mühe und Anstrengung, um den es dasselbe erworben hat. Nicht die Gewohnheit, sondern das Opfer ist das feste Band, welches das Volk an sein Recht kettet, und welchem Volke Gott wohl will, dem schenkt er nicht das Recht, noch erleichtert er ihm die Arbeit, sondern dem erschwert er dieselbe. Der Kampf, den das Recht erfordert, ist nicht ein Fluch, sondern ein Segen.

 

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Ich wende mich nunmehr dem zweiten Theil meines Vortrages zu: dem Kampf um das concrete Recht zum Zweck seiner Behauptung von Seiten des Berechtigten. Derselbe wird hervorgerufen durch die Verletzung, Vorenthaltung, Missachtung desselben von Seiten eines Andern. Da kein Recht, weder das der Individuen noch das der Völker, gegen diese Gefahr geschützt ist, so ergibt sich daraus, dass dieser Kampf sich in allen Sphären des Rechts wiederholen kann: in den Niederungen des Privatrechts wie auf den Höhen des Staatsrechts und Völkerrechts. Der Krieg, der Aufruhr, die Revolution, das Lynchsgesetz, die Gottesurtheile, das Faust- und Fehderecht und dessen Ueberbleibsel in der heutigen Zeit: das Duell, endlich die Nothwehr, und der zahme Kampf: der Process – was sind sie trotz aller Verschiedenheit des Streitobjectes und des Einsatzes, der Formen und der Dimensionen des Kampfes, anders als Scenen desselben Drama's: des Kampfes um's Recht? Wenn ich nun von allen diesen die nüchternste und prosaischeste herausgreife: den legalen Kampf um's Privatrecht, so geschieht es nicht darum, weil gerade er für uns, die wir hier versammelt sind, das nächste Interesse hat, sondern weil eben bei ihm das wahre Sachverhältniss am meisten der Gefahr einer Verkennung ausgesetzt ist, und zwar nicht etwa bloss von Seiten der Laien, sondern selbst der Juristen. In jenen andern Fällen tritt dasselbe offen und mit voller Klarheit hervor. Dass es sich bei ihnen um Güter handelt, welche den höchsten Einsatz lohnen, begreift auch der blödeste Verstand, und Niemand wird hier die Frage erheben: warum kämpfen, warum nicht lieber nachgeben? Die Grossartigkeit des Schauspiels höchster menschlicher Kraftentfaltung und Aufopferung reisst unwiderstehlich Jeden mit sich fort und erhebt ihn auf die Höhe idealer Beurtheilung. Aber bei jenem privatrechtlichen Kampf steht die Sache völlig anders. Die relative Geringfügigkeit der Interessen, um die er sich dreht, regelmässig die Frage von Mein und Dein, die unzerstörliche Prosa, die dieser Frage einmal anklebt, weist ihn, wie es scheint, ausschliesslich in die Region der nüchternen Berechnung und Lebensbetrachtung, und die Formen, in denen er sich bewegt, das Mechanische derselben, die Ausschliessung eines jeden freien kräftigen Hervortretens der Person ist wenig geeignet, den ungünstigen Eindruck abzuschwächen. Allerdings gab es auch für ihn eine Zeit, wo diese Formen die Person selber in die Schranken riefen und eben dadurch die wahre Bedeutung des Kampfes zum klaren Ausdruck brachten. Als noch das Schwert den Streit um Mein und Dein entschied, als der Ritter des Mittelalters dem andern den Fehdebrief schickte, mochte auch der Unbetheiligte zu der Ahnung gedrängt werden, dass es sich bei diesem Kampfe nicht bloss um den Werth der Sache handele, um Abwehr eines pekuniären Verlustes, sondern dass in der Sache die Person sich selber, ihr Recht und ihre Ehre behaupte.

Doch wir werden nicht nöthig haben, längst entschwundene Zustände herauf zu beschwören, um ihnen die Deutung dessen zu entnehmen, was heute, wenn auch der Form nach anders, doch der Sache nach ganz ebenso ist, wie damals. Ein Blick auf die Erscheinungen unseres heutigen Lebens und die psychologische Selbstbeobachtung werden uns ganz dieselben Dienste thun.

Mit der Verletzung des Rechts tritt an jeden Berechtigten die Frage heran: ob er es behaupten, dem Gegner Widerstand leisten, also kämpfen, oder ob er es im Stich lassen, ihm weichen will; den Entschluss darüber ninmit ihm Niemand ab. Wie derselbe auch ausfallen möge, in beiden Fällen ist er mit einem Opfer verbunden, in dem einen wird das Recht dem Frieden, in dem andern der Friede dem Recht geopfert. Die Frage scheint sich demnach dahin zuzuspitzen: welches Opfer nach den individuellen Verhältnissen des Falles und der Person das erträglichere ist. Der Reiche wird des Friedens willen den für ihn unbedeutenden Streitbetrag, der Arme, für den dieser Betrag ein verhältnissmässig bedeutender ist, seinetwegen den Frieden daran geben. So würde sich also die Frage von dem Kampf um's Recht zu einem reinen Rechenexempel gestalten, bei dem Vortheile und Nachtheile auf beiden Seiten gegen einander abgewogen werden und darnach der Entschluss bestimmt wird.

Dass dies nun in Wirklichkeit keineswegs der Fall ist, weiss Jeder von Ihnen. Die tägliche Erfahrung zeigt uns Processe, bei denen der Werth des Streitobjects ausser allem Verhältniss steht zu dem voraussichtlichen Aufwand an Mühe, Aufregung, Kosten. Wem ein Thaler in's Wasser gefallen, der wird nicht zwei daran setzen, ihn wieder zu erlangen – hier ist die Frage, wie viel er daran wenden soll, in der That ein reines Rechenexempel. Warum stellt er aber dasselbe Rechenexempel nicht bei seinem Processe an? Man sage nicht: er rechnet auf den Gewinn desselben und erwartet, dass die Kosten auf seinen Gegner fallen werden. Jeder von Ihnen weiss, dass selbst die sichere Aussicht, den Sieg theuer bezahlen zu müssen, manche Partheien vom Process nicht abhält; wie Viele von Ihnen werden bereits als Erwiderung auf Ihre Vorstellungen von der Parthei die Antwort erhalten haben: sie wolle den Process führen, es koste was es wolle. Was ist es denn, das eine solche Hartnäckigkeit erklärt? Die gangbare Antwort ist bekannt: die Processsucht. Und wie liesse sich auch eine solche, vom Standpunkt einer verständigen Interessenberechnung geradezu unsinnige Handlungsweise anders erklären als durch eine solche Streitsucht? Es ist die Lust am Streit, der unwiderstehliche Drang, dem Gegner wehe zu thun, selbst auf die Gewissheit hin, dies ganz so theuer, vielleicht noch theurer bezahlen zu müssen als er selber. Lassen wir einmal den Streit der beiden Leute, setzen wir an ihre Stelle zwei Völker. Das eine hat dem andern widerrechtlich eine Stadt entzogen, oder sagen wir: eine Quadratmeile öden werthlosen Landes; soll letzteres den Krieg beginnen? Betrachten wir die Frage ganz von demselben Standpunkt, wie die Theorie der Processsucht sie bei dem Bauern beurtheilt, dem der Nachbar einige Fuss von seinem Acker abgepflügt oder Steine auf sein Feld geworfen hat. Was bedeutet eine Quadratmeile öden Landes gegen einen Krieg, der Tausenden das Leben kosten, Kummer und Elend in Hütten und Paläste bringen und dem Staatsschatz Millionen und Milliarden kosten kann! Welche Thorheit, um solch' ein Object einen Krieg zu beginnen! So müsste das Urtheil lauten, wenn der Bauer und das Volk mit demselben Masse gemessen würden. Gleichwohl wird aber Niemand dem Volke denselben Rath ertheilen wollen, wie dem Bauer. Jeder fühlt, dass ein Volk, welches zu einer solchen Rechtsverletzung schwiege, sein Todesurtheil besiegelt haben würde. Einem Volke, dem man ungestraft eine Quadratmeile entziehen kann, wird man auch die übrigen nehmen, bis es gar nichts mehr hat, und dasselbe verdient es auch nicht anders. Aber wenn demnach das Volk sich wehren soll wegen der Quadratmeile, warum nicht auch der Bauer wegen des Streifens Landes? Oder sollen wir ihn mit dem Spruch abfertigen: quod licet Jovi, non licet bovi?

So wenig das Volk der blossen Quadratmeile, sondern seiner selbst willen, seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit wegen kämpft, so wenig handelt es sich in allen jenen Processen, in denen das oben erwähnte schreiende Missverhältniss zwischen dem Werth des Streitobjects und den voraussichtlichen Kosten und sonstigen Opfern Statt findet, um das geringfügige Streitobject, sondern um einen idealen Zweck: um die Behauptung der Person selber und ihres Rechtsgefühles; und ihm gegenüber fallen in den Augen des Berechtigten alle Opfer und Unannehmlichkeiten, die der Process in seinem Gefolge haben wird, nicht weiter in's Gewicht – der Zweck lohnt sich für ihn der Mittel. Nicht das Interesse ist es, das den Verletzten antreibt, den Process zu erheben, sondern der moralische Schmerz über das erlittene Unrecht; nicht darum ist es ihm zu thun, bloss das Object wieder zu erlangen – er hat es vielleicht, wie dies oft in solchen Fällen zur Constatirung des wahren Processmotivs geschieht, von vornherein der Armenanstalt gewidmet –, sondern darum, sein Recht zur Anerkennung zu bringen. Eine innere Stimme sagt ihm, dass er nicht zurücktreten darf, dass es sich nicht um das werthlose Object, sondern um sein Rechtsgefühl, seine Selbstachtung, seine Persönlichkeit handelt – kurz, der Process gestaltet sich für ihn aus einer blossen Interessenfrage zu einer Charakterfrage.

Nun zeigt aber die Erfahrung nicht minder, dass manche Andere in gleicher Lage die gerade entgegengesetzte Entscheidung treffen – der Frieden ist ihnen lieber als das unbedeutende Recht. Wie sollen wir uns nun mit unserm Urtheil dieser Verschiedenheit der beiderseitigen Handlungsweise gegenüber verhalten, sollen wir einfach sagen: das ist Sache des individuellen Geschmacks und Temperaments, der Eine ist streitsüchtiger, der Andere friedfertiger, vom Standpunkt des Rechts aus ist Beides in gleicher Weisa zu respectiren, denn das Recht überlässt ja dem Berechtigten die Wahl, ob er sein Recht geltend machen oder im Stich lassen will? Ich halte diese Ansicht, der man bekanntlich im Leben nicht selten begegnet, für eine höchst verwerfliche, dem innersten Wesen des Rechts widerstreitende; wäre es denkbar, dass sie irgendwo die allgemeine würde, es wäre um das Recht selber geschehen, denn während das Recht zu seinem Bestehen den mannhaften Widerstand gegen das Unrecht nöthig hat, predigt sie die feige Flucht vor demselben. Ich setze ihr gegenüber den Satz: Der Widerstand gegen das Unrecht ist Pflicht, Pflicht des Berechtigten gegen sich selber – denn es ist ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung – Pflicht gegen das Gemeinwesen – denn er muss, um erfolgreich zu sein, ein allgemeiner sein. Mit diesen beiden Behauptungen habe ich die Aufgabe bezeichnet, für die ich mir im Folgenden Ihre Aufmerksamkeit erbitte.

 

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Der Kampf um's Recht ist eine Pflicht des Berechtig­ten gegen sich selbst.

Behauptung der eigenen Existenz ist das höchste Gesetz der ganzen belebten Schöpfung; in dem Triebe der Selbsterhaltung gibt es sich kund in jeder Creatur. Für den Menschen aber handelt es sich nicht bloss um das physische Leben, sondern um seine moralische Existenz, die Bedingung derselben aber ist das Recht. In dem Recht besitzt und vertheidigt der Mensch seine moralische Existenzialbedingung – ohne das Recht sinkt er auf die Stufe des Thieres herab 3), wie denn ja die Römer ganz consequenterweise die Sklaven vom Standpunkt des abstracten Rechts aus auf Eine Stufe mit den Thieren stellten. Behauptung des Rechts ist demnach eine Pflicht der moralischen Selbsterhaltung – gänzliche Aufgabe desselben, wie sie zwar jetzt nicht mehr, aber einst möglich war, moralischer Selbstmord. Das Recht aber ist nur die Summe seiner einzelnen Institute, jedes derselben enthält eine eigenthümliche moralische Existenzialbedingung: das Eigenthum so gut wie die Ehe, der Vertrag so gut wie die Ehre – ein Verzicht auf eine einzelne derselben ist daher rechtlich ebenso unmöglich, wie ein Verzicht auf das gesammte Recht. Aber was allerdings möglich ist, das ist ein Angriff eines Andern auf eine dieser Bedingungen, und dieser Angriff muss vom Subject zurückgeschlagen werden. Denn mit der blossen abstracten Gewährung dieser Lebensbedingungen von Seiten des Rechts ist es nicht gethan, sie müssen vom Subject behauptet werden, den Anlass dazu aber gibt die Willkühr, wenn sie es wagt, sie anzutasten.

Aber nicht jedes Unrecht ist Willkühr, d. h. eine Auflehnung gegen die Idee des Rechts. Der Besitzer meiner Sache, der sich für den Eigenthümer hält, negirt in meiner Person nicht die Idee des Eigenthums, er ruft sie vielmehr für sich selber an; der Streit zwischen uns Beiden dreht sich bloss darum, wer von uns der Eigenthümer ist. Aber der Dieb und der Räuber stellen sich ausserhalb des Rechtsbereichs des Eigenthums, sie negiren in meinem Eigenthum zugleich die Idee desselben, und damit eine wesentliche Existenzialbedingung meiner Person. Man denke sich ihre Handlungsweise als eine allgemeine, als Maxime des Rechts, und das Eigenthum ist praktisch und principiell negirt. Darum enthält ihre That nicht bloss einen Angriff gegen meine Sache, sondern gegen meine Person, und wenn es einmal meine Pflicht ist, letztere zu behaupten, so gilt dies auch für diesen Fall, und nur der Conflict dieser Pflicht mit der höhern der Erhaltung meines Lebens, wie er in dem Fall eintritt, wenn mir der Räuber die Alternative zwischen Leben und Geld stellt, kann eine Modification begründen. Aber abgesehen von diesem Fall ist es meine Pflicht, diese Missachtung des Rechts in meiner Person mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen, durch Duldung derselben statuire ich einen einzelnen Moment der Rechtlosigkeit in meinem Leben, und dazu darf Niemand selber die Hand bieten. Dem gutgläubigen Besitzer meiner Sache gegenüber befinde ich mich in einer völlig andern Lage; hier ist die Frage, was ich zu thun habe, keine Frage meines Rechtsgefühls, meines Charakters, meiner Persönlichkeit, sondern eine reine Interessenfrage, denn es steht hier nichts für mich auf dem Spiel als der Werth der Sache, und da ist es vollkommen gerechtfertigt, dass ich Gewinn und Einsatz und die Möglichkeit eines doppelten Ausganges gegen einander abwäge und darnach meinen Entschluss treffe: den Process erhebe, von ihm abstehe oder mich vergleiche. Der Vergleich ist der Coincidenzpunkt einer derartigen, von beiden Seiten angestellten Wahrscheinlichkeitsberechnung und unter den Prämissen, wie ich sie hier voraussetze, das richtigste Lösungsmittel des Streites. Wenn er dennoch oft so schwer zu erzielen ist, ja wenn beide Partheien nicht selten von vornherein alle Vergleichsunter­handlungen ablehnen, so hat dies nicht bloss darin seinen Grund, dass die beiderseitigen Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu weit auseinander gehen, um sich treffen zu können, sondern dass jeder der streitenden Theile bei dem andern bewusstes Unrecht, böse Absicht voraussetzt. Damit nimmt die Frage, wenn sie processualisch sich auch in den Formen des objectiven Unrechts bewegt (reivindicatio), dennoch psychologisch für die Parthei ganz dieselbe Gestalt an, wie in dem obigen Fall: die einer bewussten Rechtskränkung, und vom Standpunkt des Subjects aus ist die Hartnäckigkeit, mit der dasselbe hier den Angriff auf sein Recht zurückweist, ganz so motivirt und sittlich gerechtfertigt wie dem Diebe gegenüber. In einem solchen Fall die Parthei durch Hinweisung auf die Kosten und sonstigen Folgen des Processes und die Unsicherheit des Ausganges von demselben abschrecken zu wollen, ist ein psychologischer Missgriff, denn die Frage ist für sie keine Frage des Interesses, sondern des Rechtsgefühls; der einzige Punkt, bei dem sich mit Erfolg der Hebel ansetzen lässt, ist die Voraussetzung der schlechten Absicht des Gegners, durch welche die Parthei sich leiten lässt; gelingt es, sie zu bekämpfen, so ist der eigentliche Nerv des Widerstandes durchschnitten, und die Parthei der Betrachtung der Sache unter dem Gesichtspunkt des Interesses, und damit dem Vergleich zugänglich gemacht. Welchen hartnäckigen Widerstand die Voreingenommenheit der Parthei oft allen solchen Versuchen entgegenstellt, weiss Niemand besser als Sie, und ich glaube mich ihrer Zustimmung versichert zu halten, wenn ich behaupte, dass diese Unzugänglichkeit, diese psychologische Tenacität des Misstrauens nicht etwas rein Individuelles, durch den sonstigen Charakter der Person Bedingtes ist, sondern dass dafür die allgemeinen Gegensätze der Bildung und des Berufs massgebend sind. Am unüberwindlichsten ist dies Misstrauen beim Bauer, und die s. g. Processsucht, deren man ihn beschuldigt, ist nichts als das Product zweier gerade ihm vorzugsweise eigenthümlicher Factoren: eines starken Eigenthumssinnes, um nicht zu sagen des Geizes, und des Misstrauens. Kein Anderer versteht sich so gut auf sein Interesse und hält das, was er hat, so fest wie der Bauer, und doch opfert bekanntlich Niemand so leicht wie er Hab und Gut einem Processe. Scheinbar ein Widerspruch, in Wirklichkeit ganz erklärlich. Denn gerade sein stark entwickelter Eigenthumssinn macht den Schmerz einer Verletzung desselben für ihn nur um so empfindlicher, und damit die Reaction um so heftiger. Die Processsucht des Bauern ist nichts als die durch das Misstrauen bewirkte Verirrung des Eigenthumssinnes, eine Verirrung, die wie die analoge Erscheinung in der Liebe: die Eifersucht, ihre Spitze gegen sich selber kehrt, indem sie gerade das, was sie zu retten sucht; im Erfolge zerstört.

Eine interessante Bestätigung zu dem; was ich so eben gesagt habe, bietet das altrömische Recht. Da ist jenes Misstrauen des Bauern, welches bei jedem Rechtsconflict böse Absicht des Gegners wittert, geradezu in Form von Rechtssätzen ausgeprägt. Ueberall, auch wo es sich um einen Fall des objectiven Unrechts handelt, die Folge des subjectiven, d. h. eine Strafe für den unterliegenden Theil. Dem gereizten Rechtsgefühl geschieht durch die einfache Wiederherstellung des Rechts selber kein Genüge, sondern es verlangt noch eine besondere Genugthuung dafür, dass der Gegner, schuldig oder unschuldig, unserm Recht zu nahe getreten ist. 4) Hätten unsere heutigen Bauern das Recht zu machen; es würde muthmasslich ebenso lauten, wie das ihrer altrömischen Standesgenossen, aber schon in Rom ist das Misstrauen im Recht durch die Cultur mittelst der Scheidung der zwei Arten des Unrechts: des verschuldeten und unverschuldeten, oder des subjectiven und objectiven, (in Hegel'scher Sprache des unbefangenen) principiell überwunden worden.

Dieser Gegensatz ist für die Frage, die mich hier beschäftigt: von dem Verhalten des in seinem Recht Verletzten dem Unrecht gegenüber nur von secundärer Bedeutung. Er drückt die Art aus, wie das Recht die Sache ansieht, und er bestimmt die Folgen, welche das Unrecht nach sich zieht. Aber für die Auffassung des Subjects, für die Art, wie dessen Rechtsgefühl, das nicht nach den Begriffen des Systems pulsirt, durch ein ihm widerfahrenes Unrecht irritirt wird, ist derselbe in keiner Weise massgebend. Die Umstände des besonderen Falls können von der Art sein, dass der Berechtigte allen Grund hat, bei einem Rechtsconflict, der dem Recht zufolge unter den Gesichtspunkt der objectiven Rechtsverletzung fällt, von der Unterstellung böser Absicht, bewussten Unrechts auf Seiten seines Gegners auszugehen, und für sein Verhalten ihm gegenüber wird dieses sein Urtheil mit vollem Recht den Ausschlag geben. Dass das Recht mir gegen den Erben meines Schuldners, der um die Schuld nicht weiss und seine Zahlung von dem Beweise, derselben abhängig macht, dieselbe condictio ex mutuo gibt, wie gegen den Schuldner selber, der schamloser Weise das gegebene Darlehen in Abrede stellt oder grundlos die Rückgabe verweigert, wird mich nicht abhalten, die Handlungsweise Beider in ganz verschiedenem Licht zu erblicken und darnach die meinige einzurichten. Der Schuldner selber steht für mich auf Einer Linie mit dem Diebe, er versucht, mich wissentlich um das Meinige zu bringen, es ist die Willkühr, die sich gegen das Recht auflehnt, nur dass sie vor dem Richter in anderm Gewande erscheint, und die ich ganz so bekämpfen muss wie in der Person des Diebes. Der Erbe des Schuldners dagegen steht dem gutgläubigen Besitzer meiner Sache gleich, er negirt nicht den Satz, dass der Schuldner zahlen müsse, sondern nur die Behauptung, dass er selber Schuldner sei, und Alles, was ich oben von Jenem gesagt habe, gilt auch von ihm. Mit ihm mag ich mich vergleichen, von der Erhebung des Processes ganz absehen, aber dem Schuldner gegenüber soll und muss ich mein Recht verfolgen, es koste was es wolle; thue ich es nicht, so gebe ich nicht bloss dieses Recht, sondern das Recht preis.

Ich erwarte auf meine bisherigen Ausführungen den Einwand: was weiss das Volk von dem Rechte des Eigenthums, der Obligation als sittlicher Existenzialbedingungen der Person? Wissen? – nein! aber ob es sie nicht dennoch als solche fühlt, ist eine andere Frage, und ich hoffe zeigen zu können, dass dies der Fall ist. Was weiss das Volk von der Niere, Lunge, Leber als Bedingungen des physischen Lebens? Aber den Stich in der Lunge, den Schmerz in der Niere oder Leber empfindet Jeder, ohne dass er zu wissen braucht, worauf er beruht. Der physische Sehmerz ist das Signal einer Störung im Organismus, der Anwesenheit eines demselben feindlichen Einflusses; er öffnet uns die Augen über eine uns drohende Gefahr und zwingt uns durch das Leiden, das er uns bereitet, ihm zeitig entgegen zu treten. Ganz dasselbe gilt von dem moralischen Schmerz, den das absichtliche Unrecht, die Willkühr verursacht. Von verschiedener Intensivität, ganz wie der physische, nach der Verschiedenheit der subjectiven Empfindlichkeit und der Form und dem Gegenstand der Rechtsverletzung, worüber nachher das Nähere, kündigt er sich gleichwohl in jedem Individuum, das nicht bereits völlig abgestumpft ist, d. h. sich an thatsächliche Rechtlosigkeit gewöhnt hat, als moralischer Schmerz an und fordert eben damit zur Bekämpfung der Ursache auf, die ihm denselben bereitet – nicht sowohl, um dem Gefühl des Schmerzes selber ein Ende zu machen, sondern um die Gesundheit, die durch das unthätige Erdulden desselben bedroht wird, zu erhalten. Es ist dieselbe Mahnung an die Pflicht der moralischen Selbsterhaltung, wie sie der physische Schmerz in Bezug auf die physische Selbsterhaltung erhebt. Nehmen wir den zweifellosesten Fall, den der Ehrverletzung, und den Stand, in dem das Gefühl für Ehre am empfindlichsten ausgebildet ist, den Officierstand. Ein Officier, der eine Ehrenbeleidigung geduldig ertragen hat, ist als solcher unmöglich geworden. Warum? Die Behauptung der Ehre ist Pflicht eines Jeden, warum accentuirt denn der Officierstand in gesteigerter Weise die Erfüllung dieser Pflicht? Weil er das richtige Gefühl hat, dass ein Stand, der seiner Natur nach die Verkörperung des persönlichen Muthes sein soll, Feigheit nicht dulden kann, ohne sich selbst Preis zu geben, muthige Behauptung der Persönlichkeit also eine moralische Lebensbedingung seiner Stellung und seines Berufes ist. Dagegen stelle man unsern Bauern, der mit aller Hartnäckigkeit sein Eigenthum vertheidigt; warum thut er dasselbe nicht auch in Bezug auf seine Ehre? Eben weil auch er ein richtiges Gefühl seiner eigenthümlichen Existenzialbedingungen hat. Sein Beruf verweist ihn nicht auf den Muth, sondern auf die Arbeit, sein Eigenthum ist aber nichts als die sichtbare Gestalt seiner Arbeitsvergangenheit; ein fauler Bauer, der seinen Acker nicht in Stand hält oder leichtsinnig das Seinige durchbringt, ist bei seinen Standesgenossen ebenso verachtet wie ein Officier, der nicht auf seine Ehre hält, bei Seinesgleichen, während kein Bauer dem andern daraus einen Vorwurf machen wird, dass er wegen einer Beleidigung keine Schlägerei oder keinen Process begonnen hat, kein Officier dem andern daraus, dass er kein guter Wirth ist. Für den Bauern ist das Grrundstück, das er bebaut, und das Vieh, das er zieht, die Basis seiner ganzen Existenz, und gegen den Nachbarn, der ihm einige Fusse davon abgepflügt, oder den Händler, der ihm für seinen Ochsen das Geld vorenthält, beginnt er in seiner Weise, d.h. in Form eines mit erbittertster Leidenschaft geführten Processes ganz denselben Kampf um sein Recht, den der Officier mit dem Degen in der Faust ausmacht. Beide opfern sich dabei mit voller Rücksichtslosigkeit – die Folgen kommen für sie gar nicht in Betracht. Und sie müssen es thun, Beide gehorchen damit nur dem eigenthümlichen Gesetz ihrer moralischen Selbsterhaltung. Man setze dieselben Leute auf die Geschwornenbank und lasse das eine Mal Officiere über Eigenthumsverbrechen, Bauern über Ehrverletzungen richten, das andere Mal tausche man die Rollen, wie verschieden werden in beiden Fällen die Urtheile ausfallen! Es ist bekannt, dass es keine strengeren Richter über Eigenthumsverbrechen gibt als die Bauern. Und obschon ich selber darüber keine Erfahrung habe, so möchte ich doch wetten, dass ein Richter in dem seltenen Fall, wo ihm einmal ein Bauer mit einer Injurienklage kommt, mit seinen Vergleichsermahnungen ein ungleich leichteres Spiel haben wird als bei einer Klage desselben um Mein und Dein. Der altrömische Bauer nahm bei einer Ohrfeige mit 25 As vorlieb, und wenn ihm Einer das Auge ausgeschlagen hatte, liess er mit sich reden und verglich sich, anstatt, wie er es gedurft hätte, ihm wieder eins auszuschlagen, aber er beanspruchte vom Gesetz die Befugniss, dass er den Dieb, den er bei der That ertappe, als Sklaven behalten und im Fall des Widerstandes niedermachen dürfe, und das Gesetz bewilligte ihm dies.

Als Dritten im Bunde geselle ich noch den Kaufmann hinzu. Was dem Officier die Ehre, dem Bauern das Eigenthum, das ist dem Kauftnann der Credit. Die Aufrechthaltung desselben ist für Letzteren eine Lebensfrage, und wer über ihn das Gerücht ausbreitet, dass er seine Verbindlichkeiten nicht pünktlich erfüllt habe, der trifft ihn empfindlicher als wer ihn persönlich beleidigt oder ihn bestiehlt, während der Officier über eine derartige Beschuldigung vielleicht lachen, und der Bauer den darin liegenden Vorwurf als solchen gar nicht empfinden wird. Es entspricht dieser eigenthümlichen Stellung des Kaufmanns, wenn die neueren Gesetzbücher das Verbrechen des leichtsinnigen und betrügerischen Bankbruchs mehr und mehr auf ihn und die ihm gleich stehenden Personen eingeschränkt haben.

Ich habe diese Beispiele nur hervorgehoben, weil sie die Bedeutung des von mir für die pathologische Affection des Rechtsgefühls aufgestellten Gesichtspunktes der moralischen Lebensbedingungen der Person mit besonderer Klarheit zur Anschauung bringen. Dass dieser Gesichtspunkt nicht bloss für das Privatrecht, sondern auch für das Strafrecht volle Geltung hat, liesse sich leicht nachweisen, muss hier aber unterbleiben; es genügt auf Montesquieu's bekanntes Werk de l'esprit des lois Bezug zu nehmen. Eine principielle Verschiedenheit in der Beurtheilung mancher Verbrechen in solchen Gesetzbüchern, die verschiedenen Culturstufen und Verfassungsformen angehören, entstammt regelmässig dem richtigen Gefühl von der Nothwendigkeit, die eigenthümlichen Existenzialbedingungen gerade dieses Staatswesens durch strenge Strafen zu sichern. Es wird nicht der Verwahrung bedürfen, als ob ich dadurch, dass ich den Officier und den Bauer als die beredtesten Zeugen für meine Behauptung herangezogen habe, die Bedeutung der Ehre und des Eigenthums als allgemeiner menschlicher Existenzialbedingungen habe abschwächen wollen; bei ihnen tritt das Gefühl davon nur am schärfsten hervor. In Bezug auf das Eigenthum halte ich die Betonung dieses Gesichtspunktes für so nöthig, dass Sie mir erlauben müssen, darüber noch Einiges hinzuzufügen. @@@

Nicht in allen Kreisen begegnen wir jenem ausgeprägten Eigenthumssinn, als dessen mustergültigsten Repräsentanten ich den Bauern hingestellt habe, und gerade der Ort, an dem wir leben, dürfte dafür den besten Beleg bieten. Soll ich einmal die entgegengesetzte Anschauung in möglichster Schärfe zeichnen, so würde sie etwa so lauten. Was hat die Sache, die mein ist, mit meiner Person zu schaffen? Sie dient mir als Mittel für meine Zwecke, ein Mittel des Genusses, des Erwerbes, des Lebensunterhaltes, aber so wenig es eine sittliche Pflicht für mich ist, viel Geld zu erwerben, so wenig kann es als solche gelten, wegen einer Bagatelle einen Process zu beginnen, der ein schweres Geld kostet und meine Behaglichkeit stört. Das einzige Motiv, das mich bei der rechtlichen Behauptung des Vermögens zu leiten hat, ist dasselbe, das mich bei dem Erwerb und der Verwendung desselben bestimmt: mein Interesse – ein Process um Mein und Dein ist eine reine Interessenfrage.

Und was sollen wir dieser Art der Betrachtung der Eigenthumsfrage entgegensetzen? Ich erbiicke darin nur ein Symptom der leichten Art, wie vielfach das Vermögen erworben wird, der Entfernung des Eigenthums von seinem historischen und sittlichen Ursprung: der Arbeit. Nur an dieser seiner Quelle ist es klar und durchsichtig bis auf den Grund, aber je weiter es sich von ihr entfernt und weiter abwärts in die Regionen des leichteren oder mühelosen Erwerbs gelangt, desto trüber wird es, bis es endlich im Schlamm des Börsenspiels und betrügerischen Actienschwindels jede Spur von dem, was es ursprünglich war, verloren hat. An einer solchen Stelle, wo jeder Rest von der sittlichen Idee des Eigenthums abhanden gekommen ist, kann freilich von einem Gefühl der sittlichen Pflicht der Vertheidigung desselben nicht mehr die Rede sein; für den Eigenthumssinn, wie er in Jedem lebt, der sein Brod im Schweisse seines Angesichts verdienen muss, fehlt es hier an jeglichem Verständniss. Das Schlimmste daran ist leider das, dass die durch derartige Gründe erzeugte Stimmung und Gewohnheit des Lebens sich nach und nach auch auf solche Kreise ausdehnt, in denen sie sich ohne den Contact mit jenen spontan nicht erzeugt haben würde. 5) Den Einfluss der durch das Börsenspiel erworbenen Millionen verspürt man bis in die Hütten hinab, und derselbe Mann, der in eine andere Umgebung verpflanzt an seiner eigenen Arbeit des Segens inne geworden wäre, der auf der Arbeit ruht, empfindet sie unter dem entnervenden Druck einer solchen Atmosphäre als Fluch – der Communismus gedeiht nur in jenem Sumpfe, in dem die Eigenthumsidee sich völlig verlaufen hat, an ihrer Quelle kennt man ihn nicht. Dieser Satz, dass die Eigenthumsanschauung der herrschenden Kreise nicht auf sie selber beschränkt bleibt, sondern sich auch den übrigen Klassen der Gesellschaft mittheilt, bewährt sich in gerade entgegengesetzter Richtung auf dem Lande. Wer hier dauernd lebt und nicht etwa ausser aller und jeder Verbindung mit dem Bauern steht, wird, auch wenn seine Verhältnisse und seine Persönlichkeit im Uebrigen dem keinen Vorschub leisten, unwillkührlich Etwas von dem Eigenthumssinn und der Sparsamkeit des Bauern annehmen. Derselbe Durchschnittsmann, unter übrigens völlig gleichen Verhältnissen, wird auf dem Lande mit dem Bauern sparsam, in einer Stadt wie Wien mit dem Millionär Verschwender.

Woher aber immerhin jene Lauheit der Gesinnung stammen möge, die der Bequemlichkeit zu Liebe dem Kampfe um das Recht aus dem Wege geht, insofern nicht der Werth des Gegenstandes sie zum Widerstande nöthigt, für uns kommt es nur darauf an, sie zu erkennen und zu bezeichnen als das, was sie ist. Die praktische Lebensphilosophie aber, welche sie predigt, was ist sie Anderes als die Politik der Feigheit? Auch der Feige, der aus der Schlacht flieht, rettet, was Andere opfern: sein Leben; aber er rettet es um den Preis seiner Ehre. Nur der Umstand, dass die Andern Stand halten, schützt ihn und das Gemeinwesen gegen die Folgen, die seine Handlungsweise sonst unabwendbar nach sich ziehen müsste; dächten Alle wie er, so wären sie Alle verloren. Ganz dasselbe gilt von jener feigen Preisgabe des Rechts. Als Handlung eines Einzelnen unschädlich, würde sie, zur allgemeinen Maxime des Handelns erhoben, den Untergang des Rechts bedeuten. Auch in diesem Verhältniss wird der Schein der Unschädlichkeit einer solchen Handlungsweise nur dadurch möglich, dass der Kampf des Rechts gegen das Unrecht im Ganzen und Grossen dadurch nicht weiter berührt wird. Denn einmal ist derselbe nicht bloss auf die Individuen gestellt, sondern im entwickelten Staatswesen betheiligt sich an ihm in ausgedehntester Weise die Staatsgewalt, indem sie alle schwereren Vergehungen gegen das Recht des Individuums, sein Leben, seine Person und sein Vermögen vor das Forum des Strafrichters verweist, – die Polizei und der Strafrichter nehmen dem Subjecte bereits das schwerste Stück Arbeit ab. Aber auch in Bezug auf diejenigen Rechtsverletzungen, deren Verfolgung ausschliesslich dem Individuum überlassen bleibt, ist dafür gesorgt, dass der Kampf nie abreisse, denn nicht Jeder befolgt die Politik des Feigen, und selbst Letzterer stellt sich unter die Kämpfer, wo der Werth des Gegenstandes seine Bequemlichkeit überwindet. Aber denken wir uns Zustände, wo der Rückhalt hinwegfällt, den das Subject an der Polizei und Strafrechtspflege hat, versetzen wir uns in die Zeiten, wo, wie im alten Rom, die Verfolgung des Diebes und Räubers rein Sache des Verletzten war, wer sieht nicht ein, wohin hier jene Selbstpreisgabe des Rechts hätte führen müssen? Wohin anders als zur Ermuthigung der Diebe und Räuber? Und ganz dasselbe gilt auch für das Völkerleben; denn hier ist jedes Volk ganz auf sich selbst gestellt, keine höhere Macht nimmt ihm die Sorge für die Behauptung seines Rechts ab; und ich brauche nur an mein obiges Beispiel von der Quadratmeile zu erinnern, um zu zeigen, was jene Lebensanschauung, welche den Widerstand gegen das Unrecht nach dem materiellen Werth des Streitobjects bemessen will, für das Völkerleben bedeuten würde. Eine Maxime aber, welche überall, wo wir sie zu erproben versuchen, sich als eine völlig undenkbare, als Ruin des Rechts, erweist, kann auch da, wo ausnahmsweise ihre letalen Folgen durch die Gunst anderer Verhältnisse paralysirt werden, unmöglich als die richtige bezeichnet werden. Ich werde unten Gelegenheit haben, den verderblichen .Einfluss, den sie selbst da ausübt, in das richtige Licht zu setzen.

Weisen wir sie also von uns: diese Moral der Bequemlichkeit, die kein Volk, kein Individuum von gesundem Rechtsgefühl je zu der seinigen gemacht hat. Sie ist das Anzeichen und das Product eines kranken, stumpfen, lahmen Rechtsgefühls, der krasse, nackte Materialismus auf dem Gebiete des Rechts. Auch letzterer hat auf diesem Gebiete seine volle Berechtigung, aber innerhalb bestimmter Gränzen. Der Erwerb des Rechts, die Benutzung und selbst die Geltendmachung desselben in Fällen des rein objectiven Unrechts (S. 29) ist eine reine Interessenfrage – das Recht selber ist nach meiner eigenen Definition 6) nichts Anderes als ein rechtlich geschütztes Interesse. Aber mit dem Momente, wo die Willkühr ihre Hand gegen das Recht erhebt, es zu würgen, verliert jene materialistische Betrachtung ihre Berechtigung.

Es ist gleichgültig, welche Sache den Gegenstand des Rechts bildet. Triebe der Zufall die Sache in den Kreis meines Rechts, es möchte darum sein, dass sie ohne Verletzung meiner selbst wieder daraus entrissen werden könnte; aber nicht der Zufall, sondern mein Wille knüpft das Band zwischen ihr und mir, und auch er nur um den Preis vorangegangener eigener oder fremder Arbeit – es ist ein Stück eigener oder fremder Kraft und Vergangenheit, das ich in ihr besitze und behaupte. Indem ich sie zu der meinigen gemacht habe, habe ich ihr den Stempel meiner Person aufgedrückt; wer sie antastet, tastet letztere an, der Schlag, den man auf sie führt, trifft mich selber, der ich in ihr anwesend bin – das Eigenthum ist nur die sachlich erweiterte Peripherie meiner Person.

Dieser Zusammenhang des Rechtes mit der Person verleiht allen Rechten, welcher Art sie auch seien, jenen incommensurablen Werth, den ich im Gegensatz zu dem rein substantiellen Werth, den sie vom Standpunkt des Interesses aus haben; als idealen Werth bezeichne. Ihm entstammt jene Hingebung und Energie in der Behauptung des Rechts; deren ich oben gedacht habe. Diese ideale Auffassung des Rechts ist aber nicht etwa nur das Vorrecht edlerer Naturen, sondern der Roheste ist ihr eben so zugänglich, wie der Gebildetste, der Reichste wie der Aermste, die wilden Naturvölker wie die civilisirtesten Nationen, und gerade darin, dass kein Gegensatz der Bildung und des Vermögens Macht über ihn hat, offenbart sich so recht, wie sehr dieser Idealismus im innersten Wesen begründet ist – er ist nichts als die Gesundheit des Rechtsgefühls. So erhebt also das Recht, das scheinbar den Menschen ausschliesslich in die niedere Region des Egoismus und der Berechnung versetzt, ihn andererseits wieder auf eine ideale Höhe, wo er alles Klügeln und Berechnen, das er dort gelernt hat, und seinen Massstab des Nutzens, nach dem er sonst Alles zu bemessen pflegt, vergisst, um sich rein und ganz für eine Idee einzusetzen – Prosa in jener Region, wird das Recht in dieser, im Kampf um's Recht, zur Poesie – denn der Kampf um's Recht ist in Wirklichkeit die Poesie des Charakters.

Und was ist es, das all' dies Wunder thut? Nicht die Erkenntniss, nicht die Bildung, sondern das einfache Gefühl des Schmerzes. Der Schmerz ist der Nothschrei und der Hülfsruf der bedrohten Natur. Das gilt, wie ich früher (S. 35) bereits bemerkt habe, ganz so von dem moralischen, wie dem physischen Organismus, und was dem Mediciner die Pathologie des menschlichen Organismus, das ist die Pathologie des Rechtsgefühls dem Juristen und Rechtsphilosophen, oder richtiger sollte sie ihm sein, denn es wäre verkehrt, zu behaupten, dass sie es ihm bereits geworden sei. In ihr steckt aber in Wahrheit das ganze Geheimniss des Rechts. Der Schmerz, den der Mensch bei der Verletzung seines Rechts empfindet, enthält das gewaltsam erpresste, instinctive Selbstgeständniss über das, was das Recht ihm ist, zunächst was es ihm, dem Einzelnen, sodann aber auch, was es an sich ist. In diesem einen Moment kommt in Form des Affects, des unmittelbaren Gefühls von der wahren Bedeutung und dem wahren Wesen des Rechts mehr zum Vorschein als während hundert Jahre ungestörten Genusses. Wer nicht an sich selbst oder an einem Andern diesen Schmerz erfahren hat, weiss nicht, was das Recht ist, und wenn er auch das ganze Corpus juris im Kopfe hätte. Nicht der Verstand, nur das Gefühl vermag uns diese Frage zu beantworten, darum hat die Sprache mit Recht den psychologischen Urquell alles Rechts als Rechtsgefühl bezeichnet. – Rechtsbewusstsein, rechtliche Ueberzeugung sind Abstractionen der Wissenschaft, die das Volk nicht kennt, – die Kraft des Rechts ruht im Gefühl, ganz so wie die der Liebe; der Verstand kann das mangelnde Gefühl nicht ersetzen. Aber wie die Liebe sich oft selber nicht kennt, und ein einziger Moment ausreicht, sie zum vollen Bewusstsein ihrer selbst zu bringen, so weiss auch das Rechtsgefühl im unversehrten Zustande regelmässig nicht, was es ist und in sich birgt, aber die Rechtsverletzung ist die peinliche Frage, die es zum Sprechen nöthigt, die Wahrheit an den Tag und die Kraft zum Vorschein bringt. Worin diese Wahrheit bestehe, habe ich früher (S. 28) bereits angegeben. Das Recht ist die moralische Existenzialbedingung der Person, die Behauptung desselben ihre moralische Selbsterhaltung.

Die Heftigkeit oder Nachhaltigkeit, mit der das Rechtsgefühl gegen eine ihm widerfahrene Verletzung reagirt, ist der Prüfstein seiner Gesundheit. Nicht die blosse Empfindung des Schmerzes – der Grad des Schmerzes, den es fühlt, verkündet ihm nur, welchen Werth es auf das bedrohte Gut legt – aber den Schmerz empfinden, ohne die darin liegende Mahnung zur Abwehr der Gefahr zu beherzigen, ihn geduldig ertragen, ohne sich zu wehren, ist eine Verläugnung des Rechtsgefühls, entschuldbar vielleicht im einzelnen Falle durch die Umstände, aber auf die Dauer nicht möglich ohne die nachtheiligsten Folgen für das Rechtsgefühl selber. Denn das Wesen des letzteren ist die That, – wo es der That entbehren muss, verkümmert es und stumpft sich nach und nach völlig ab, bis es zuletzt den Schmerz kaum noch empfindet. Reizbarkeit, d.h. Fähigkeit, den Schmerz der Rechtskränkung zu empfinden, und Thatkraft, d. h. der Muth und die Entschlossenheit, sie zurückzuweisen, sind die zwei Kriterien eines gesunden Rechtsgefühls.

Ich muss es mir hier versagen, dieses ebenso interessante wie ausgiebige Thema der Pathologie des Rechtsgefühls des Weiteren auszuführen, aber einige Andeutungen mögen mir doch erlaubt sein. Jeder von Ihnen weiss, wie verschieden eine und dieselbe Rechtskränkung auf verschiedene Personen und Glieder verschiedener Stände einwirkt, und ich habe oben (S. 36) bereits für eine derartige Erscheinung die Lösung zu geben versucht. Es knüpft sich für uns daran der Schluss, dass die Reizbarkeit des Rechtsgefühls nicht in Bezug auf alle Rechte dieselbe ist, sondern sich abschwächt und steigert, je nach dem Masse, in welchem dieses Individuum, dieser Stand, dieses Volk die Bedeutung des verletzten Rechts als einer moralischen Existenzialbedingung seiner selbst empfindet. Wer diesen Gesichtspunkt weiter verfolgen will, kann einer sehr lohnenden Ausbeute sicher sein; zu den oben von mir benutzten Instituten der Ehre und des Eigenthums möchte ich Ihnen insbesondere anempfehlen, die Ehe hinzuzufügen, – welche Reflexionen knüpfen sich an die Art, wie verschiedene Individuen, Völker, Gesetzgebungen sich dem Ehebruch gegenüber verhalten!

Das zweite Moment beim Rechtsgefühl: die Thatkraft, ist rein Sache des Charakters; das Verhalten eines Menschen oder Volkes Angesichts einer Rechtskränkung ist der sicherste Prüfstein seines Charakters. Verstehen wir unter Charakter die volle, in sich ruhende, sich selbst behauptende Persönlichkeit, so gibt es keinen besseren Anlass, diese Eigenschaft zu bewähren, als wenn die Willkühr mit dem Rechte zugleich die Person antastet. Die Formen, in denen das verletzte Rechts- und Persönlichkeitsgefühl dagegen reagirt, ob unter dem Einfluss des Affects in wilder, leidenschaftlicher That, ob mit massvollem, aber nachhaltigem Widerstand, sind für die Intensivität der Kraft des Rechtsgefühls in keiner Weise massgebend, und es gäbe keinen grösseren Irrthum, als dem wilden Volke, bei dem die erstere Form die normale ist, oder dem Ungebildeten ein regeres Rechtsgefühl beizuschreiben, als dem Gebildeten, der den zweiten Weg einschlägt. Die Formen sind mehr oder weniger Sache der Bildung und des Temperaments, aber der Heftigkeit, Leidenschaftlichkeit steht die feste Entschlossenheit und Unbeugsamkeit, die Nachhaltigkeit des Widerstandes vollkommen gleich. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Das hiesse, dass die Individuen und Völker um eben so viel an ihrem Rechtsgefühl einbüssten, als sie an Bildung zunähmen. Ein Blick auf die Geschichte und das bürgerliche Leben reicht aus, um diese Meinung zu widerlegen. Ebenso wenig ist der Gegensatz des Reichthums und der Armuth dafür massgebend. So verschieden auch der ökonomische Massstab ist, mit dem beide eine und dieselbe Sache werthen, so kommt doch derselbe, wie oben bereits ausgeführt, bei der Verletzung des Eigenthums gar nicht zur Geltung, hier handelt es sich nicht um den materiellen Werth der Sache, sondern um den idealen Werth des Rechts, also um die Energie des Rechtsgefühls in besonderer Richtung auf das Eigenthum, und nicht wie das Vermögen, sondern wie das Rechtsgefühl beschaffen ist, gibt darüber den Ausschlag. Den besten Beweis dafür liefert das englische Volk; sein Reichthum hat seinem Rechtsgefühl keinen Abbruch gethan, und mit welcher Energie sich dasselbe selbst in blossen Eigenthumsfragen bewährt, davon haben wir auf dem Continente oft Gelegenheit, uns zu überzeugen, an jener fast typisch gewordenen Figur des reisenden Engländers, der dem Versuch einer Prellerei von Seiten der Gastwirthe und Lohnkutscher mit einer Mannhaftigkeit entgegentritt, als gälte es, das Recht Altenglands zu vertheidigen, zur Noth seine Abreise verschiebt, Tage lang am Orte bleibt und den zehnfachen Betrag von dem ausgibt, was er sich zu zahlen weigert. Das Volk lacht darüber und versteht ihn nicht. Es wäre besser, wenn es ihn verstände. Denn in den wenigen Gulden, die der Mann hier vertheidigt, steckt in der That Altengland, und daheim in seinem Vaterlande begreift ihn ein Jeder und wagt es daher auch nicht so leicht, ihn in seinem Rechte zu verkürzen. Ich beabsichtige nicht, Ihnen wehe zu thun, aber der Ernst der Sache drängt mir eine Parallele auf. Ich versetze einen Oesterreicher von derselben socialen Stellung und denselben Vermögensverhältnissen in dieselbe Situation; wie wird er handeln? Wenn ich meinen eigenen Erfahrungen in dieser Beziehung trauen darf, so werden es von Hundert nicht Zehn sein, die das Beispiel des Engländers nachahmen. Die Andern scheuen die Unannehmlichkeit des Streites, das Aufsehen, die Möglichkeit der Missdeutung, der sie sich aussetzen könnten, einer Missdeutung, die ein Engländer in England gar nicht zu befürchten braucht und bei uns ruhig in den Kauf nimmt: kurz sie zahlen. Aber in dem Gulden, den der Engländer verweigert und der Oesterreicher zahlt, liegt ein Stück England und Oesterreich, liegen Jahrhunderte ihrer beiderseitigen politischen Entwicklung und ihres socialen Lebens. Ich bin damit auf einen Gedanken gerathen, der mir einen bequemen Uebergang zum Folgenden bahnt. Lassen Sie mich die bisherige Ausführung mit demselben Satz schliessen, mit dem ich sie oben begonnen habe: Behauptung des verletzten Rechts ist ein Act der Selbsterhaltung der Person, und darum eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selber.

 

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Diese Behauptung des Rechts ist aber zugleich eine Pflicht gegen das Gemeinwesen. Damit habe ich Ihnen den Gedanken bezeichnet, den ich im Folgenden zu begründen gedenke.

Um denselben zu beweisen, bin ich genöthigt, das Verhältniss des Rechts im objectiven zu dem im subjectiven Sinn in's Auge zu fassen. Worin besteht dasselbe? Ich glaube, die gangbare Vorstellung völlig getreu wiederzugeben, wenn ich sage: darin, dass ersteres die Voraussetzung des letzteren bildet; ein concretes Recht ist nur da vorhanden, wo die Bedingungen vorliegen, an welche der abstracte Rechtssatz das Dasein desselben geknüpft hat. Damit ist nach der herrschenden Lehre die gegenseitige Beziehung beider zu einander vollständig erschöpft. Aber diese Vorstellung ist eine durchaus einseitige, sie betont ausschliesslich die Abhängigkeit des concreten Rechtes vom abstracten, übersieht aber, dass ein solches Abhängigkeitsverhältniss nicht minder in entgegengesetzter Richtung existirt. Das concrete Recht empfängt nicht bloss Leben und Kraft vom abstracten, sondern es gibt dasselbe zurück. Das Wesen des Rechts ist praktische Verwirklichung. Ein Rechtssatz, welcher derselben nie theilhaftig geworden ist, oder der sie wieder verloren hat, hat auf diesen Namen keinen Anspruch, er ist eine lahme Feder, die in der Maschinerie des Rechts nicht mit arbeitet, und die man herausnehmen kann, ohne dass sich das Mindeste ändert. Dieser Satz gilt ohne Einschränkung für alle Theile des Rechts, für das Staatsrecht so gut wie für das Criminalrecht und das Privatrecht, und das römische Recht hat ihn ausdrücklich sanctionirt, indem es die desuetudo als Aufhebungsgrund der Gesetze anerkennt, wie ja auch andererseits die concreten Rechte durch dauernde Nichtverwirklichung untergehen. Während nun die Verwirklichung des öffentlichen Rechts und des Strafrechts den Organen der Staatsgewalt überwiesen und in Form einer Pflicht gesichert ist, ist die des Privatrechts in Form des Rechts ganz der freien Initiative und der Selbstthätigkeit der Privatpersonen überlassen. Aber so gut wie dieselbe in jenem Fall davon abhängt, dass die Behörden und Beamten des Staats ihre Pflicht erfüllen, so in diesem Falle davon, dass die Privatpersonen ihr Recht geltend machen. Unterbleibt dies dauernd und allgemein bei einem bestimmten Verhältniss, aus welchem Grunde es sei, aus Bequemlichkeit oder aus Furcht, so ist der Rechtssatz selber damit lahm gelegt. So dürfen wir also sagen: die Wirklichkeit, die praktische Kraft der Sätze des Privatrechts documentirt sich in und an den concreten Rechten; und wie letztere einerseits ihr Leben vom Gesetze erhalten, so geben sie es andererseits wiederum zurück; es ist der Kreislauf des Blutes, der vom Herzen und zum Herzen strömt. Ist die Existenzfrage aller den öffentlichen Behörden zur Handhabung überwiesenen Gesetze auf die Pflichttreue der Beamten gestellt, so die der Privatrechtssätze auf die Wirksamkeit jener Motive, welche den Berechtigten zur Behauptung seines Rechts veranlassen: seines Interesses und seines Rechtsgefühls; versagen diese ihren Dienst, ist das Rechtsgefühl matt und stumpf, und das Interesse nicht mächtig genug, um über die Bequemlichkeit und die Scheu vor Zank und Streit den Sieg davon zu tragen, so ist die einfache Folge, dass der Rechtssatz nicht zur Anwendung gelangt.

Aber was verschlägt es? Leidet doch Niemand anders darunter als die Berechtigten selber. Ich komme damit auf den Einwand zurück, den ich schon oben berührt habe, und ich nehme das Bild wieder auf, dessen ich mich dort bedient habe: der Flucht des Einzelnen aus der Schlacht. Wenn tausend Mann zu kämpfen haben, mag man die Entfernung eines Einzelnen nicht verspüren: wenn aber hundert, und wenn gar hunderte die Fahnen verlassen, so wird die Lage derer, die treu aushalten, eine immer misslichere, die ganze Last des Widerstandes fällt schliesslich auf sie allein. In diesem Bilde glaube ich die wahre Gestalt der Sache vollständig veranschaulicht zu haben. Auch auf dem Gebiete des Privatrechts gilt es einen Kampf des Rechts gegen das Unrecht, einen gemeinsamen Kampf, bei dem Alle fest zusammen halten müssen, eine nationale Arbeit, und Jeder, der flieht, begeht einen Verrath an der gemeinsamen Sache, denn er stärkt die Macht des Gegners, indem er seine Dreistigkeit und Keckheit erhöht. Wo die Willkühr und Gesetzlosigkeit frech und dreist ihr Haupt zu erheben wagt, da ist dies immer ein sicheres Zeichen, dass diejenigen, welche berufen waren, das Gesetz zu vertheidigen, ihrer Pflicht nicht nachgekommen sind. Im Privatrecht aber ist Jeder an seiner Stelle berufen, das Gesetz zu vertheidigen, ist Jeder Wächter und Vollstrecker des Gesetzes. Das concrete Recht, das er hat, ist nichts als eine Anweisung, die der Staat ihm gegeben hat – eine hypothetische und specielle im Gegensatz zu der unbedingten und allgemeinen, die der Beamte erhalten hat – für das Gesetz in die Schranken zu treten und dem Unrecht zu wehren; indem er sein Recht behauptet, hält er das Recht aufrecht. Das Interesse und die Folgen dieser seiner Handlungsweise gehen daher über seine Person weit hinaus; ja es ist nicht bloss das ideale Interesse, dass die Autorität und Majestät des Gesetzes gewahrt bleibe, sondern es ist das sehr reale, höchst praktische der Sicherung der festen Ordnung des Verkehrslebens. Wenn der Dienstherr nicht mehr wagt, die Gesindeordnung zur Anwendung zu bringen, der Gläubiger, den Schuldner pfänden zu lassen, der Käufer, auf genaues Gewicht und Innehaltung der Taxen zu halten, wird dadurch etwa bloss die Autorität des Gesetzes gefährdet? Es ist die Ordnung des bürgerlichen Lebens, die damit in einer bestimmten Richtung preisgegeben wird, und es ist schwer zu sagen, bis wie weit sich die nachtheiligen Folgen davon erstrecken können, ob nicht z. B. das ganze Creditsystem dadurch in empfindlichster Weise betroffen wird. In solchen Verhältnissen gestaltet sich das Loos der Wenigen, welche den Muth haben, das Gesetz zur Anwendung zu bringen, zu einem wahren Märtyrerthum, ihr reges, energisches Rechtsgefühl wird für sie geradezu zum Fluch. Verlassen von allen denen, die ihre natürlichen Bundesgenossen wären, stehen sie ganz allein der durch die allgemeine Indolenz und Feigheit grossgezogenen Willkühr gegenüber, und ärndten, wenn sie mit schweren Opfern die Genugthuung erkauft haben, sich selber treu geblieben zu sein, vielleicht gar statt Anerkennung Spott und Hohn. Die Verantwortlichkeit für derartige Zustände fällt nicht auf denjenigen Theil der Bevölkerung, der das Gesetz übertritt, sondern auf denjenigen, der nicht den Muth hat, es aufrecht zu erhalten. Nicht das Unrecht soll man anklagen, wenn es das Recht von seinem Sitze verdrängt, sondern das Recht, dass es sich dies gefallen lässt, und wenn ich die beiden Sätze: thue kein Unrecht, und dulde kein Unrecht, nach ihrer socialpolitischen – wohl bemerkt, nicht nach ihrer ethischen – Bedeutung für das Privatleben zu lociren hätte, so würde ich sagen, die erste Regel des Rechts ist: dulde kein Unrecht, die zweite: thue keines; so wie der Mensch einmal ist, wird die Gewissheit, einem festen entschlossenen Widerstande auf Seiten des Berechtigten zu begegnen, ihn mehr von der Begehung des Unrechts abhalten als ein Gebot, das, wenn wir uns jenes Hinderniss hinweg denken, im Grund kaum etwas Anderes wäre als ein blosses Moralgebot.

Ist es nun nach allem diesem zu viel gesagt, wenn ich behaupte: die Vertheidigung des angegriffenen Rechts von Seiten des Berechtigten ist nicht bloss eine Pflicht gegen sich selbst, sondern auch gegen das Gemeinwesen? Wenn es wahr ist, was ich ausgeführt habe, dass er in seinem Rechte zugleich das Gesetz, und im Gesetz zugleich die unerlässliche Ordnung des Gemeinwesens vertheidigt, wer will läugnen, dass er damit zugleich eine Pflicht gegen das Gemeinwesen erfüllt? Wenn letzteres das Recht hat, ihn aufzurufen zum Kampfe gegen den äusseren Feind, dem gegenüber er Leib und Leben für dasselbe opfern soll, warum nicht auch gegen den inneren Feind, der den Bestand desselben in nicht minderer Weise gefährdet als der äussere? Und wenn in jenem Kampf die feige Flucht als Verrath an der gemeinschaftlichen Sache gilt, können, wir ihr hier diesen Namen ersparen? Nein! Recht und Gerechtigkeit können in einem Lande nicht bloss dadurch gedeihen, dass der Richter stets in Bereitschaft auf seinem Stuhle sitzt, und dass die Polizei ihre Häscher ausschickt, sondern Jeder zu seinem Theil muss selber dazu thun, Jeder hat den Beruf und die Verpflichtung, der Hydra der Willkühr und der Gesetzlosigkeit, wo sie sich hervorwagt, den Kopf zu zertreten.

Ich brauche nicht zu sagen, wie durch diese meine Auffassung von der Sache der Beruf des Einzelnen bei der Geltendmachung seines Rechts geadelt wird. An Stelle jenes bloss receptiven Verhaltens dem Gesetz gegenüber, bei dem er sich darauf beschränkt, Rechte aus dessen Hand entgegen zu nehmen, die er behaupten und preisgeben kann, ganz wie Lust und Laune ihm eingibt, tritt ein Verhältniss der Gegenseitigkeit; was er vom Gesetz erhalten, gibt er ihm zurück, indem er demselben zur Verwirklichung verhilft. Es ist die Mitarbeit an einer grossen nationalen Aufgabe, zu der er berufen ist, möge er sie selber als solche erkennen, oder nicht. Denn das ist das Grosse und Erhabene in unserer sittlichen Weltordnung, dass sie nicht verstanden zu werden braucht, um der Dienste des Menschen sicher zu sein, dass sie der Hebel und Motive genug besitzt, um auch denjenigen, dem das Verständniss für ihre Gebote abgeht, zur Arbeit heranzuziehen. Möge den Einen das Interesse, den Andern der Schmerz der widerfahrenen Rechtskränkung, den Dritten die Idee des Rechts auf den Kampflatz rufen, sie Alle bieten sich die Hand zur gemeinschaftlichen Arbeit: das Recht zu schützen gegen die Willkühr.

Wir haben hiermit, wenn ich so sagen darf, den idealen Höhepunkt unseres Kampfes um's Recht erreicht. Aufsteigend von dem niedern Motiv des Interesses sind wir zu dem Gesichtspunkt der moralischen Selbsterhaltung der Person, und jetzt schliesslich zu dem der Mitwirkung an der Verwirklichung der Rechtsidee gelangt.

In meinem Rechte ist das Recht gekränkt, negirt, wird es behauptet und wieder hergestellt. Welch' hohe Bedeutung gewinnt damit der Kampf des Subjects um sein Recht! In welcher verschwindenden Tiefe liegt unter der idealen Höhe, in die ihn dieser Gedanke entrückt, die Sphäre des rein Persönlichen, die Region der persönlichen Interessen, Zwecke, Leidenschaften, welche der Unkundige als das eigentliche Gebiet des Rechts ansieht! Aber diese Höhe, mag Mancher sagen, liegt so hoch, dass sie nur noch für den Rechtsphilosophen wahrnehmbar bleibt, für das praktische Leben kommt sie gar nicht in Betracht, denn wer führt einen Process um die Idee des Rechts? Das ist ein Irrthum. Ich könnte, um ihn zu widerlegen, auf das römische Recht verweisen, in welchem die Thatsächlichkeit dieses idealen Sinnes in dem Institut der Popularklagen 7) zum klarsten Ausdruck gelangt ist, allein wir würden uns selber Unrecht thun, wenn wir uns ihn absprechen wollten. Jeder, der beim Anblick der Uebermacht oder des Uebermuthes des Unrechts Entrüstung, sittlichen Zorn empfindet, besitzt ihn, denn während das Gefühl, welches die Rechtskränkung hervorruft, der Verletzung der eigenen Person entstammt, hat jenes Gefühl seinen Grund in der Macht der sittlichen Idee über das menschliche Gemüth, es ist der Protest, der sittlichen kräftigen Natur gegen den Frevel am Recht, das schönste und erhabenste Zeugniss, welches das Rechtsgefühl von sich selber ablegen kann, – ein sittliches Phänomen, gleich anziehend und ergiebig für den Psychologen wie den Dichter. Für Ersteren, indem es meines Wissens keinen andern Affect gibt, der so plötzlich eine so gewaltige Umwandlung im Menschen hervorrufen kann. Es ist bekannt, dass gerade die mildesten, versöhnlichsten Naturen dadurch in einen Zustand der Leidenschaft versetzt werden können, der ihnen sonst völlig fremd ist – ein Beweis, dass sie in dem Edelsten, das sie in sich tragen, in ihrem innersten Mark getroffen sind. Für den Dichter. Es ist das Phänomen des Gewitters in der moralischen Welt – erhaben, majestätisch in seinen Formen, durch die Plötzlichkeit, Unmittelbarkeit, Heftigkeit seines Ausbruchs, das orkanartige, elementare, Alles vergessende und Alles vor sich darnieder werfende Walten der sittlichen Kraft; und wiederum versöhnend und erhebend zugleich durch seine Impulse und seine Wirkungen: eine moralische Luftreinigung für das Subject wie für die Welt. Aber freilich, wenn diese Kraft des Subjects sich bricht an Einrichtungen, die der Willkühr den Halt gewähren, den sie dem Recht versagen, dann schlägt der Sturm, den er entfesselt, auf den Urheber selber zurück, und es harrt des Letzteren entweder das Loos des Verbrechers aus verletztem Rechtsgefühl, von dem ich nachher reden werde, oder das nicht minder tragische, am Stachel, den das machtlos erlittene Unrecht in seinem Herzen zurückgelassen, sich moralisch zu verbluten und den Glauben an das Recht zu verlieren.

Aber dieser Idealismus des Rechtssinnes im Menschen, der den Frevel und Hohn gegen die Idee des Rechts tiefer empfindet als das persönliche Unrecht, und für den eben dieser Schmerz die sittliche Nöthigung enthält, für die gefährdete Rechtsidee einzutreten, kurz jene Naturen, denen eine innere Stimme denselben Satz verkündet, den ich oben ausgesprochen habe: Der Dienst für das Recht um des Rechtes halber ohne eigenes Interesse ist sittliche Pflicht – diese Naturen mögen immerhin spärlich gesäet sein. Aber auch der ganz gewöhnlichen Natur ohne jeglichen idealen Schwung ist wenigstens jener Standpunkt der Betrachtung des Rechts zugänglich, den wir oben mit den Worten gezeichnet haben: mein Recht ist das Recht, in jenem ist dieses angegriffen und wird es behauptet. Uns Juristen ist diese Auffassungsweise nicht gerade sehr geläufig, denn für unsere Vorstellung tritt bei dem Streit um das concrete Recht das Gesetz, soll ich sagen? ganz zurück, oder vielleicht richtiger: es existirt für uns nur als immanentes Moment des concreten Rechts; es ist nicht sowohl das abstracte Gesetz, um das sich der Streit dreht, als seine Verkörperung in Gestalt dieses concreten Rechts, gewissermassen ein Lichtbild desselben, in dem es sich fixirt hat, in dem es aber nicht selber unmittelbar getroffen wird. Ich vermeine nicht, die technische Nothwendigkeit dieser Auffassung in Abrede zu stellen, aber sie darf uns nicht abhalten, die Berechtigung der obigen Anschauungsweise anzuerkennen, welche, wenn ich so sagen soll, das Gesetz auf Eine Linie mit dem concreten Rechte rückt und in einer Gefährdung des letztem zugleich eine Gefährdung des erstem erblickt. Dem unbefangenen Rechtsgefühl liegt dieselbe, wie ich glaube, ungleich näher als unsere juristische, wenigstens überall da, wo das Gesetz bereits seine volle Kraft und Herrschaft entfaltet hat. Hier wird, wie es übereinstimmend der sprachliche Instinct sowohl der römischen als deutschen Sprache richtig ausgedrückt hat, vom Kläger das „Gesetz angerufen“, „lege agitur“; das Gesetz selber ist in Frage gestellt, es ist ein Streit um's Gesetz, der in dem einzelnen Fall entschieden werden muss – eine Auffassung, welche insbesondere für das Verständniss des altrömischen Processes von höchster Wichtigkeit ist. 8) Im Lichte dieser Vorstellung ist daher der Kampf um's Recht zugleich ein Kampf um's Gesetz, es handelt sich bei dem Streit nicht bloss um das Interesse des Subjects, um ein einzelnes Verhältniss, in dem das Gesetz sich verkörpert hat, ein Lichtbild, wie ich es nannte, in dem ein flüchtiger Lichtstrahl des Gesetzes aufgefangen und fixirt worden ist, und das man zerbrechen und zerstören kann, ohne das Gesetz selber zu afficiren, sondern das Gesetz selber ist missachtet, mit Füssen getreten; das Gesetz, wenn es nicht eitel Spiel und Phrase sein soll, muss sich behaupten, mit dem Recht des Verletzten stürzt das Gesetz selbst zusammen.

Dass diese Vorstellungsweise, die ich kurz als Solidarität des Gesetzes mit dem concreten Rechte bezeichnen kann, das Verhältniss beider in seinem tiefsten Grunde erfasst und trifft, habe ich oben ausgeführt. Und dennoch liegt dieselbe so plan und offen auf der Oberfläche, dass sie auch dem einfachsten Sinne, dem crassesten, jedes idealen Schwunges unfähigen Egoismus zugänglich ist. Möge dieselbe immerhin im Subject nicht die entsprechende ethische Lebensanschauung zu ihrer Grundlage haben; zweifellos ist doch, dass sie dasselbe unwillkührlich auf die ideale Höhe der Rechtsidee hebt. Die Wahrheit aber bleibt Wahrheit und verliert nichts an ihrer Macht über das menschliche Gemüth, wenn sie dem Subject auch nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel seines eigenen Interesses sichtbar geworden ist. Hass und Rachsucht sind es, die den Shylok vor Gericht führen, um sein Pfund Fleisch aus dem Leibe des Antonio zu schneiden, aber die Worte, die der Richter ihm in den Mund legt, sind in seinem Munde eben so wahr, wie in jedem andern; es ist die Sprache, die das verletzte Rechtsgefühl an allen Orten und zu allen Zeiten stets reden wird, die Kraft, die Unerschütterlichkeit der Ueberzeugung, dass Recht Recht bleiben muss, der Schwung und das Pathos eines Mannes, der sich bewusst ist, dass es sich bei der Sache, die er führt, nicht bloss um seine Person, sondern um eine Idee handelt. Das Pfund Fleisch, lässt Shakespeare ihn sagen,

 

„Das Pfund Fleisch, das ich verlange,

Ist theu'r gekauft, ist mein, und ich will's haben.

Wenn ihr versagt, pfui über euer Gesetz!

So hat das Recht Venedigs keine Kraft.

– – Ich fordere das Gesetz.

– – Ich steh' hier auf meinem Schein.“

 

Ja, ich fordere das Gesetz. Der Dichter hat mit diesen vier Worten das wahre Verhältniss des Rechts im subjectiven zum objectiven Sinn und die Bedeutung des Kampfes um's Recht in einer Weise gezeichnet, wie kein Rechtsphilosoph es treffender hätte thun können. Mit diesen Worten ist die Sache mit einem Male aus einem Rechtsanspruch des Shylok eine Frage um das Recht Venedigs geworden. Wie mächtig, wie riesig dehnt sich die Gestalt des schwachen Mannes aus, wenn er diese Worte spricht, es ist nicht mehr der Jude, der sein Pfund Fleisch verlangt, es ist das Gesetz Venedigs selber, das an die Schranken des Gerichts pocht; denn sein Recht und das Recht Venedigs sind eins; mit seinem Recht bricht letzteres zusammen. Und wenn er selber dann zusammenbricht unter der Wucht des Richterspruches, der durch schnöden Witz sein Recht vereitelt, 9) wenn er, verfolgt von bitterem Hohn, geknickt, gebrochen, mit schlotternden Knieen dahin wankt, wer kann sich des Gefühls erwehren, dass mit ihm selber das Recht Venedigs gebeugt worden ist, dass es nicht der Jude Shylok ist, der von dannen schleicht, sondern die typische Figur des Juden im Mittelalter, jener Paria der Gesellschaft, der vergebens nach Recht schreit? Die gewaltige Tragik seines Schicksals beruht nicht darauf, dass ihm einfach das Recht versagt wird, sondern dass er, ein Jude des Mittelalters, den Glauben an das Recht hat – man möchte sagen, dass er sich für ebenso gut hielt wie ein Christ –, einen felsenfesten Glauben, den nichts beirren kann, und den der Richter selber nährt, und dass dann wie ein Donnerschlag die Katastrophe über ihn hineinbricht, die ihn aus seinem Wahn reisst und ihn belehrt, dass er nichts ist als der Jude des Mittelalters, dem man sein Recht gibt, indem man ihn darum betrügt.

Das Bild des Shylok ruft mir eine andere Gestalt vor die Seele, die nicht minder historische wie dichterische des Michael Kohlhaas, welche Heinrich von Kleist in seiner gleichnamigen Novelle mit ergreifender Wahrheit gezeichnet hat. 10) Shylok geht geknickt von dannen, seine Kraft ist gebrochen, widerstandslos fügt er sich dem Spruch. Anders Michael Kohlhaas. Nachdem alle Mittel, zu seinem in schnödester Weise missachteten Rechte zu gelangen, erschöpft sind, nachdem ein Act sündhafter Cabinetsjustiz ihm den Rechtsweg verschlossen, und die Gerechtigkeit bis zu ihrem höchsten Repräsentanten, dem Landesherrn hinauf sich offen auf die Seite des Unrechts gestellt hat, da übermannt ihn das Gefühl unendlichen Wehes über den Frevel, den man mit ihm getrieben: „Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füssen getreten werden soll, als ein Mensch“ (S. 23), und sein Entschluss steht fest: „Wer mir den Schutz der Gesetze versagt, der stösst mich zu den Wilden der Einöde hinaus, er gibt mir die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand“ (S. 44). Er reisst der feilen Gerechtigkeit das besudelte Schwert aus der Hand und schwingt es in einer Weise, dass Furcht und Entsetzen sich weit im Lande verbreiten, das morsche Staatswesen in seinen Fugen erbebt, und der Fürst auf dem Thron erzittert. Aber es ist nicht das wilde Gefühl der Rache, das ihn, beseelt, er wird nicht Räuber und Mörder wie Karl Moor, der „durch die ganze Natur das Horn des Aufruhrs blasen möchte, um Luft, Erde und Meer wider das Hyänengezücht in's Treffen zu führen“, der aus verletztem Rechtsgefühl der ganzen Menschheit den Krieg erklärt, sondern es ist eine sittliche Idee, die ihn treibt, die Idee, „er sei mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen, sich Genugthuung für die erlittene Kränkung und seinen Mitbürgern Sicherheit gegen zukünftige zu verschaffen“ (S. 9). Ihr opfert er Alles, das Glück seiner Familie, seinen geachteten Namen, Gut und Habe, Leib und Leben, und er führt keinen ziellosen Vernichtungskrieg, sondern er richtet denselben nur gegen den Schuldigen und alle Diejenigen, welche sich seiner annehmen. Und als ihm die Aussicht wird, zu seinem Recht zu kommen, legt er freiwillig die Waffen aus der Hand; aber als ob der Mann einmal ausersehen wäre, an seinem Beispiele zu zeigen, bis wie weit die Schmach der Recht- und Ehrlosigkeit damaliger Zeit sich zu versteigen wagte, so brach man ihm das freie Geleit und die Amnestie, und er endete sein Leben auf dem Richtplatz. Aber sein Recht wird ihm noch zuletzt, und dieser Gedanke, dass er nicht umsonst gestritten, dass er das Recht wieder zu Ehren gebracht, dass er seine Stellung und Würde als Mensch erhalten, erhebt sein Herz über die Schrecknisse des Todes; versöhnt mit sich, der Welt und Gott, folgt er willig und gefasst dem Henker. Welche Betrachtungen knüpfen sich an diesen Fall! Ein Mann, rechtschaffen, streng rechtlich, voller Liebe für seine Familie, von kindlich frommem Sinn, wird zu einem Attila, der mit Feuer und Schwert die Orte vernichtet, in die sein Gegner sich geflüchtet hat. Und wodurch wird er es? Gerade durch die Eigenschaft, die ihn sittlich so hoch über alle seine Gegner stellt, die ihn in die Hand des Henkers liefern: durch seine hohe Achtung vor dem Recht, seinen Glauben an die Heiligkeit desselben, die Thatkraft seines ächten, gesunden Rechtsgefühls. Und gerade darauf beruht die tief erschütternde Tragik seines Schicksals, dass eben das, was den Vorzug und den Adel seiner Natur ausmacht: der ideale Schwung seines Rechtsgefühls, seine heroische, Alles vergessende und Alles opfernde Dahingabe an die Idee des Rechts, im Contact mit der elenden damaligen Welt, dem Uebermuth der Grossen und Mächtigen und der Pflichtvergessenheit und Feigheit der Richter zu seinem Verderben ausschlägt. Aber was er verbrach, fällt mit verdoppelter und verdreifachter Wucht auf Diejenigen zurück, die ihn gewaltsam aus der Bahn des Rechts in die der Gesetzlosigkeit drängten. Denn kein Unrecht, das der Mensch zu erdulden hat, und wiege es noch so schwer, reicht von Weitem an das heran – wenigstens für das unbefangene sittliche Gefühl –, welches die von Gott gesetzte Obrigkeit verübt, indem sie selber das Recht bricht. Das ist die wahre Todsünde des Rechts, der Verrath des Rechts an sich selber – im alten Rom traf den bestochenen Richter Todesstrafe – und es gibt keinen vernichtenderen Ankläger gegen sie, als die dunkle, vorwurfsvolle Gestalt des Verbrechers aus verletztem Rechtsgefühl – es ist ihr eigener blutiger Schatten. Das Opfer einer käuflichen oder partheiischen Justiz wird fast gewaltsam aus der Bahn des Rechts herausgestossen, wird Rächer und Vollstrecker seines Rechts auf eigene Hand und nur zu oft Feind der Gesellschaft, Räuber, Mörder, oder, wen seine edle, sittliche Natur gegen diese Gefahr schützt, wie Michael Kohlhaas, Märtyrer seines Rechtsgefühls. Man sagt, dass das Blut der Märtyrer nicht umsonst fliesse, und es mag sich das bei ihm wohl bewahrheitet, und sein mahnender Schatten noch auf lange ausgereicht haben, um Andere vor solcher Vergewaltigung des Rechts, wie sie ihn getroffen hatte, zu bewahren.

Wenn ich an dieser Stelle diesen Schatten heraufbeschworen habe, so geschah es, um an einem ergreifenden Beispiel zu zeigen, welcher Abweg gerade dem kräftigen und ideal angelegten Rechtsgefühl droht, wenn die Unvollkommenheit der Rechtseinrichtungen ihm seine Befriedigung versagt. Da wird der Kampf für das Gesetz zu einem Kampf gegen das Gesetz. Das Rechtsgefühl, im Stich gelassen von der Macht, die es schützen sollte, verlässt den Boden des Gesetzes und sucht durch Selbsthülfe zu erlangen, was Unverstand, böser Wille, Ohnmacht ihm versagen. Und zwar sind es nicht bloss einzelne, besonders kraftvoll oder gewaltthätig angelegte Naturen, in denen das nationale Rechtsgefühl, wenn ich so sagen darf, seine Anklage und seinen Protest gegen derartige Rechtszustände erhebt; sondern diese Anklage und dieser Protest wiederholt sich in höherer Potenz in gewissen Einrichtungen des Lebens, Gewohnheiten der Sitte, die wir ihrer Bestimmung oder der Art nach, wie das Volk oder der bestimmte Stand sie betrachtet, als volksthümliche Surrogate und Seitenstücke der Einrichtungen des Staats bezeichnen können. Dahin gehören im Mittelalter die Vehmgerichte, das schwerwiegende Zeugniss für die Ohnmacht oder Partheilichkeit der damaligen Strafgerichte, sowie das Fehderecht, das Eingeständniss der Machtlosigkeit der Staatsgewalt, und in der Gegenwart das Institut des Duells, der Beweis, dass die Strafen, welche der Staat über die Ehrverletzung verhängt, dem empfindlichen Ehrgefühl gewisser Klassen der Gesellschaft kein Genüge leistet. Dahin gehört die Blutrache der Corsicaner und das sogenannte Lynchsgesetz, die Volksjustiz in Nordamerika. Sie alle bezeugen, dass die Einrichtungen des Staats sich mit dem Rechtsgefühl des Volkes oder Standes nicht im Einklang befinden; jedenfalls aber enthalten sie einen Vorwurf für ihn, entweder den, dass er sie nöthig macht, oder den, dass er sie duldet. Für den Einzelnen können sie, wenn das Gesetz sie zwar verboten, aber thatsächlich nicht zu unterdrücken vermocht hat, die Quelle eines schweren Conflicts werden. Der Corsicaner, der in Befolgung des Staatsgebots sich der Blutrache enthält, ist bei den Seinigen geächtet; der unter dem Druck der volksthümlichen Rechtsansicht ihr nachgibt, verfällt dem rächenden Arm der Justiz. Ebenso bei unserm Duell. Wer in Verhältnissen, die dasselbe zu einer Ehrenpflicht machen, dasselbe ablehnt, schädigt seine Ehre, wer es vollzieht, wird bestraft – eine Lage, für den Einzelnen wie für den Richter in gleicher Weise peinlich. Im alten Rom sehen wir uns vergebens nach Spuren solcher Einrichtungen um; die Einrichtungen des Staats und das nationale Rechtsgefühl befanden sich hier im vollen Einklang; erst in der christlichen Zeit flüchteten sich die Christen von den weltlichen Gerichten an das Schiedsgericht des Bischofs, ganz ebenso wie im Mittelalter die Juden von den Gerichten der Christen an die Rechtskunde ihrer Rabbiner.

 

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Ich bin hiermit am Ende meiner Betrachtungen über den Kampf des Einzelnen um sein Recht. Wir sind ihm gefolgt in der Gradation seiner Motive, von dem untersten des reinen Interessencalculs zu dem idealeren der Behauptung der Persönlichkeit und ihrer ethischen Lebensbedingungen, bis zu seinem höchsten Gipfel, der Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit, – der Spitze, von der aus ein Fehltritt den Verbrecher aus verletztem Rechtsgefühl in den Abgrund der Gesetzlosigkeit stürzt.

Aber das Interesse unseres Kampfes ist keineswegs auf das Privatrecht oder das Privatleben beschränkt; reicht vielmehr weit über dasselbe hinaus. Eine Nation ist schliesslich nur die Summe aller einzelnen Individuen, und wie die einzelnen Individuen fühlen, denken, handeln, so fühlt, denkt, handelt die Nation. Zeigt sich das Rechtsgefühl der Einzelnen, wie es in den Verhältnissen des Privatrechts Gelegenheit hat sich zu bethätigen, lahm, stumpf, apathisch, findet es wegen der Hemmnisse, welche ungerechte Gesetze oder schlechte Einrichtungen ihm entgegensetzen, keinen Spielraum, sich zu entfalten und zu kräftigen; trifft es Verfolgung, wo es Unterstützung und Förderung erwarten dürfte: wer möchte glauben, dass ein solches geknechtetes, verkümmertes, sieches, alles idealen Schwunges baares Rechtsgefühl sich plötzlich zur tiefen, lebendigen Empfindung sollte aufraffen können, wenn es Interessen gilt, die über die Sphäre des Privatrechtes hinausragen, Fragen des Staatsrechtes oder des Völkerrechts? Wer nicht einmal gewohnt gewesen, sein eigenes Recht muthig zu vertheidigen, wie soll der den Antrieb empfinden, für das der Gesammtheit sein Leben und seine Habe einzusetzen? Wer kein Verständniss gezeigt hat für den idealen Schaden, den er an seiner Ehre und Person erleidet, indem er aus Bequemlichkeit sein gutes Recht preisgibt, wer für sein Recht bloss den Massstab des materiellen Interesses kennt, wie kann man von dem erwarten, dass er einen andern Massstab zur Anwendung bringe und anders empfinde, wenn es das Recht und die Ehre der Nation gilt? Woher sollte hier plötzlich der Idealismus der Gesinnung kommen, der sich bisher stets verläugnet hat? Nein! der Mann des Staatsrechts und Völkerrechts ist kein anderer als der des Privatrechts – dieselben Eigenschaften, die er sich in den Verhältnissen des letzteren angeeignet hat, werden ihn auch dorthin begleiten und den Ausschlag geben – was für die Nation im Privatrecht gesäet und gezeitigt ist, wird im Staatsrecht und Völkerrecht seine Früchte tragen. In den Niederungen des Privatrechts, in den kleinen und kleinsten Verhältnissen des Lebens muss tropfenweis sich jene Kraft bilden und sammeln, sich jenes Kapital moralischer Kraft anhäufen, dessen der Staat bedarf, um im Grossen damit operiren zu können. Das Privatrecht, nicht das Staatsrecht, ist die wahre Schule der politischen Entwicklung eines Volkes, und will man wissen, wie dasselbe erforderlichen Falls seine politischen Rechte und seine völkerrechtliche Stellung vertheidigen wird, so sehe man zu, wie der Einzelne im Privatleben sein eigenes Recht behauptet. Ich habe bereits oben das Beispiel des Engländers angeführt, und ich kann hier nur wiederholen, was ich dort von ihm gesagt: in dem Gulden, um den er tapfer streitet, steckt die politische Entwicklung Englands. Einem Volke, bei dem es allgemeine Uebung ist, dass Jeder auch im Kleinen und Kleinsten sein Recht aufrecht hält, nimmt Niemand das Höchste, was es hat, und es ist daher kein Zufall, dass dasselbe Volk des Alterthums, welches im Innern die höchste politische Entwicklung und nach Aussen hin die grösste Kraftentfaltung aufzuweisen hatte, das römische, zugleich das ausgebildetste Privatrecht besass. Recht ist Idealismus, so paradox es klingen mag. Nicht Idealismus des Dichters, aber Idealismus des Charakters, des Mannes, der sich selber als Selbstzweck fühlt und alles Andere gering achtet, wenn er in diesem innersten Heiligthum angegriffen wird. Woher dieser Angriff auf seine Rechte ausgeht: ob von einem Einzelnen, von der eigenen Regierung, von einem fremden Volk – was verschlägt es? Ueber den Widerstand, den er diesen Angriffen entgegensetzt, entscheidet nicht die Person des Angreifenden, sondern die moralische Kraft, mit der er sich selbst zu behaupten pflegt. Darum ist der Satz ein ewig wahrer: Die politischen Rechte und die Stellung eines Volkes nach Aussen entsprechen seiner moralischen Kraft – das Reich der Mitte mit seinen hunderten von Millionen wird den fremden Nationen gegenüber niemals die geachtete völkerrechtliche Stellung der kleinen Schweiz einnehmen. Das Naturell der Schweizer ist im Sinne des Dichters gewiss nichts weniger als ideal, es ist nüchtern, praktisch, wie das der Römer. Aber in dem Sinn, in dem ich bisher diesen Ausdruck in Beziehung auf das Recht gebraucht habe, passt derselbe auf den Schweizer ganz so wie auf den Engländer. Dieser Idealismus des gesunden Rechtsgefühls würde sein eigenes Fundament untergraben, wenn er sich darauf beschränkte, lediglich sein eigenes Recht zu vertheidigen, im Uebrigen aber an der Aufrechthaltung von Recht und Ordnung keinen weitern Antheil nähme. Er weiss nicht bloss, dass er in seinem Recht das Recht, sondern auch, dass er in dem Recht sein Recht vertheidigt. In einem Gemeinwesen, wo diese Stimmung, dieser Sinn für strenge Gesetzlichkeit der herrschende ist, wird man vergebens sich nach jener betrübenden Erscheinung umsehen, die anderwärts so häufig ist, dass nämlich die Masse des Volks, wenn die Behörde den Verbrecher oder den Uebertreter des Gesetzes verfolgt oder zur Haft bringen will, die Parthei des Letzteren ergreift, d. h. also in der Staatsgewalt den natürlichen Gegner des Volks erblickt; Jeder weiss hier, dass die Sache des Rechts auch die seinige ist – mit dem Verbrecher sympathisirt hier nur der Verbrecher selber, aber nicht der ehrliche Mann, Letzterer leistet der Polizei und der Obrigkeit hülfreiche Hand.

Ich werde nicht nöthig haben, die Schlussfolgerung, die ich an das Gesagte knüpfe, in Worte zu fassen. Es ist der einfache Satz: Für einen Staat, der geachtet dastehen will nach Aussen, fest und unerschüttert im Innern, gibt es kein kostbareres Gut, das er zu hüten und zu pflegen hat, als das nationale Rechtsgefühl. Diese Sorge ist eine der höchsten und wichtigsten Aufgaben der politischen Pädagogik. In dem gesunden, kräftigen Rechtsgefühl jedes Einzelnen besitzt der Staat die sicherste Garantie seines eigenen Bestehens nach Innen wie nach Aussen; das Rechtsgefühl ist die Wurzel des ganzen Baumes; taugt die Wurzel nicht, verdorrt sie in Gestein und ödem Sand, so ist alles Andere Blendwerk – wenn der Sturm kommt, wird der ganze Baum entwurzelt. Aber der Stamm und die Krone haben den Vorzug, dass man sie sieht, während die Wurzeln im Boden stecken und sich dem Blicke entziehen. Der zersetzende Einfluss, den ungerechte Gesetze und schlechte Rechtseinrichtungen auf die moralische Kraft des Volks ausüben, spielt unter der Erde, in jenen Regionen, die so mancher Politiker nicht seiner Beachtung werth hält, indem es ihm bloss auf die stattliche Krone ankommt; von dem Gift, das aus der Wurzel in die Krone steigt, hat er keine Ahnung. Aber der Despotismus weiss, wo er ansetzen muss, um den Baum zu Fall zu bringen; er lässt die Krone zunächst unangetastet, aber er zerstört die Wurzeln. Mit Eingriffen in das Privatrecht, mit der Rechtlosigkeit des Individuums hat jeder Despotismus begonnen; hat er hier seine Arbeit vollendet, so stürzt der Stamm von selbst. Darum gilt es, ihm hier vor Allem entgegenzutreten, und die Römer wussten wohl, was sie thaten, als sie ein Attentat auf die weibliche Keuschheit und Ehre zum Anlass nahmen, um sich gegen das Königthum und den Decemvirat zu erheben und ihnen ein Ende zu machen. Das freie Selbstgefühl des Bauern zerstören durch Lasten und Frohnden, den Bürger unter die Vormundschaft der Polizei stellen und selbst die Erlaubniss seiner Reise an die Gewährung eines Passes knüpfen, die Feder des Schriftstellers an die Kette legen, die Steuern vertheilen nach Lust und Gnade – ein Macchiavell hätte kein besseres Recept geben können, um alles männliche Selbstgefühl und alle sittliche Kraft im Volk zu ertödten und dem Despotismus einen widerstandslosen Eingang zu sichern. Dass dasselbe Thor, durch das der Despotismus und die Willkühr einziehen, auch dem auswärtigen Feind offen steht, wird freilich dabei nicht in Anschlag gebracht, und erst wenn er da ist, kommen die Weisen zu der verspäteten Erkenntniss, dass die sittliche Kraft und das Rechtsgefühl eines Volks dem äussern Feind gegenüber eine gewaltige Schutzwehr hätte bilden können! In derselben Zeit, als der Bauer und Bürger Gegenstand feudaler und absolutistischer Willkühr war, ging Lothringen und Elsass für das deutsche Reich verloren!

Aber es ist unsere eigene Schuld, wenn wir die Lehren der Geschichte erst verstehen, wenn es zu spät ist; an ihr liegt es nicht, dass wir sie nicht rechtzeitig erfahren, denn sie predigt dieselben laut und vernehmlich. Die Kraft eines Volkes ist gleichbedeutend mit der Kraft seines Rechtsgefühls – Pflege des nationalen Rechtsgefühls ist Pflege der Gesundheit und Kraft des Staats. Diese Pflege ist aber selbstverständlich nicht etwas Doctrinäres: Schule und Unterricht, sondern sie besteht in der praktischen Durchführung der Grundsätze der Gerechtigkeit in allen Lebensverhältnissen. Festigkeit, Klarheit, Bestimmtheit des materiellen Rechts, Beseitigung aller Sätze in allen Sphären des Rechts, an denen ein gesundes Rechtsgefühl Anstoss nehmen muss, nicht bloss des Privatrechts, sondern der Polizei, der Verwaltung, der Finanzgesetzgebung; Unabhängigkeit der Gerichte, möglichste Vervollkommnung der processualischen Einrichtungen – das ist ein sichererer Weg zur Hebung der Kraft des Staats als die höchste Steigerung des Militärbudgets. Jede willkührliche oder ungerechte Bestimmung, welche die Staatsgewalt erlässt oder aufrecht erhält, ist eine Schädigung des nationalen Rechtsgefühls, und damit der nationalen Kraft selbst, eine Versündigung gegen die Idee des Rechts, die auf den Staat selbst zurück schlägt, und die er oft theuer mit Zinseszinsen bezahlen muss – sie können ihm unter Umständen eine Provinz kosten! Ich selber bin freilich der Ansicht, dass der Staat nicht bloss wegen solcher Zweckmässigkeitsrücksichten diese Sünden vermeiden soll, ich betrachte es vielmehr als seine höchste und heiligste Pflicht, diese Idee ihrer selbst willen zu verwirklichen, aber das ist ja doctrinäre Phantasterei, und ich will es dem praktischen Politiker und Staatsmann nicht verdenken, wenn er eine solche Zumuthung achselzuckend abweist. Aber eben darum haben wir ihm gegenüber die praktische Seite der Frage hervorgekehrt, für die er das volle Verständniss hat – die Idee und das Interesse des Staats gehen hier Hand in Hand. Einem schlechten Recht ist auf die Dauer kein noch so gesundes Rechtsgefühl gewachsen, es erlahmt, stumpft sich ab, verkümmert. Denn das Wesen des Rechts ist, wie schon öfter bemerkt, die That, – was der Flamme die freie Luft, ist dem Rechtsgefühl die Freiheit der That; ihm dieselbe verwehren oder verkümmern, heisst es ersticken.

Ich habe oben den Nachweis geliefert, dass die Behauptung des Rechts eine Pflicht der Person gegen sich selber ist, und ich glaube nach dem Bisherigen für die Aufgabe, die dem Staat dabei zufällt, ganz denselben Gesichtspunkt der Pflicht gegen sich selbst aufstellen zu können. Nicht in dem Sinn ist diese Pflicht gemeint, dass der Staat ohne Recht und Ordnung nicht bestehen kann, – das weiss Jeder. Der äussere Mechanismus des Rechts kann so vollkommen hergestellt sein und gehandhabt werden, dass die höchste Ordnung regiert, und dennoch kann die Anforderung, die wir gestellt haben: die Pflege und Förderung des Rechtsgefühls, in glänzendster Weise missachtet sein. Gesetz und Ordnung war auch die Leibeigenschaft, der Schutzzoll des Juden und so viele andere Sätze und Einrichtungen einer hinter uns liegenden Zeit, die mit den Anforderungen eines gesunden, kräftigen Rechtsgefühls im grauenhaftesten Widerspruch standen. Schädigte der Staat bloss den Bürger, Bauern, Juden, indem er diese Einrichtungen duldete? Sie waren ein Schnitt in sein eigenes Fleisch, er durchschnitt sich selber die Sehnen, und als es galt, sie zu gebrauchen gegen den äussern Feind, versagten sie den Dienst.

 

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Ich könnte damit meinen Vortrag schliessen, denn mein Thema ist erschöpft. Ich hoffe aber, dass Sie es mir verstatten werden, wenn ich Ihre Anfinerksamkeit noch für eine Frage in Anspruch nehme, die mit dem Gegenstand meines Vortrages eng zusammenhängt, es ist nämlich die: in wie weit unser heutiges Recht, oder genauer das heutige gemeine römische Recht, über das ich mir allein getraue ein Urtheil abzugeben, den von mir so eben entwickelten Anforderungen entspricht. Ich nehme keinen Anstand, diese Frage mit aller Entschiedenheit zu verneinen. Dasselbe bleibt hinter den berechtigten Ansprüchen eines gesunden Rechtsgefühls weit zurück, und zwar nicht etwa, weil es bloss hie und da nicht das Richtige getroffen hätte, sondern weil es im Ganzen und Grossen von einer Anschauungsweise beherrscht ist, die zu dem, was nach meinen obigen Ausführungen gerade das Wesen des gesunden Rechtsgefühls ausmacht, ich meine damit jenen Idealismus, der in der Rechtsverletzung nicht bloss einen Angriff auf das Object, sondern auf die Person selber erblickt, im diametralen Gegensatze steht. Unser gemeines Recht weiss von diesem Idealismus nichts, der Gesichtspunkt, von dem es die Rechtsverletzung beurtheilt, und der Massstab, mit dem es dieselbe misst, ist lediglich der des materiellen Werthes – es ist der nüchterne, platte Materialismus, der in demselben zur vollendeten Ausprägung gelangt ist.

Aber was soll das Recht dem Verletzten anders gewähren, wenn es sich um Mein und Dein handelt, als das Streitobject oder seinen Betrag? 11) Wäre das richtig, so könnte man auch den Dieb entlassen, wenn er die gestohlene Sache herausgegeben hat. Aber der Dieb, wendet man ein, vergeht sich nicht bloss gegen den Bestohlenen, sondern auch gegen die Gesetze des Staats, gegen die Rechtsordnung, gegen das Sittengesetz. Thut das etwa der Schuldner nicht, der wissentlich das gegebene Darlehen in Abrede stellt, der Mandatar, der das Vertrauen, das ich ihm geschenkt habe, in schmählicher Weise missbraucht? Ist es eine Genugthuung für mein verletztes Rechtsgefühl, wenn ich nach langem Kampfe nichts weiter erhalte, als was mir von Anfang an gebührte? Aber ganz abgesehen von diesem berechtigten Verlangen nach Genugthuung, welche Verrückung des natürlichen Gleichgewichtes zwischen beiden Partheien! Die Gefahr, die der ungünstige Ausgang des Processes ihnen drohte, besteht für die eine darin, dass sie Alles verliert, für die andere, dass sie Nichts gewinnt, der Vortheil aber, den der günstige Ausgang ihnen in Aussicht stellt, für die eine darin, dass sie Nichts verliert, für die andere, dass sie Alles gewinnt. Heisst das nicht geradezu die schamlose Lüge herausfordern und eine Prämie auf Begehung von Treulosigkeiten setzen? Damit habe ich aber in der That nur unser heutiges Recht gezeichnet. Ich werde später Gelegenheit haben, dies Urtheil zu begründen, ich glaube aber, dass dies um so leichter werden dürfte, wenn wir vorher des Gegensatzes wegen der Stellung gedenken, welche das römische Recht zu dieser Frage eingenommen hat.

Ich unterscheide in dieser Beziehung drei Entwicklungsstufen desselben: die des, wenn ich so sagen soll, in seiner Heftigkeit noch völlig masslosen, nicht zur Selbstbeherrschung gelangten Rechtsgefühls im älteren Recht, die Periode massvoller Kraft desselben im mittleren Recht und die der Abschwächung und Verkümmerung desselben in der spätem Kaiserzeit, speciell im Justinianeischen Recht.

Ueber die Gestalt, welche die Sache auf jener niedersten Entwicklungstufe an sich trägt, habe ich bereits früher Untersuchungen angestellt und veröffentlicht, 12) deren Resultat ich hier in wenige Worte zusammendränge. Das reizbare Rechtsgefühl der älteren Zeit erfasst jede Verletzung oder Bestreitung des eigenen Rechts unter dem Gesichtspunkte des subjectiven Unrechts, ohne dabei die Schuldlosigkeit oder das Mass der Verschuldung, des Gegners in Anschlag zu bringen, und verlangt dem entsprechend eine Sühne, gleichmässig von dem Unschuldigen wie dem Schuldigen. Wer die klare Schuld (nexum) oder die von ihm dem Gegner zugefügte Sachbeschädigung in Abrede stellt, zahlt im Unterliegungsfalle das Doppelte, ebenso hat, wer im Vindicationsprocess als Besitzer die Früchte gezogen, dieselben doppelt zu vergüten, während ihn ausserdem noch für das Unterliegen in der Hauptsache der Verlust des Processwettgeldes (sacramentum) trifft. Dieselbe Strafe erleidet der Kläger, wenn er den Process verliert, denn er hat fremdes Gut in Anspruch genommen; hat er sich in dem Betrage der eingeklagten Schuld um ein Minimum geirrt, so verwirkt er den ganzen Anspruch. 13)

Von diesen Einrichtungen und Sätzen des älteren Rechts ist Manches in das neuere hinübergenommen, aber die selbstständigen neuen Schöpfungen desselben athmen einen völlig anderen Geist. 14) Er lässt sich mit Einem Wort als Aufstellung und Anwendung des Massstabes der Verschuldung auf alle Verhältnisse des Privatrechts bezeichnen. Das objective und subjective Unrecht werden streng geschieden, ersteres zieht bloss die einfache Restitution des schuldigen Gegenstandes, dieses ausserdem auch eine Strafe nach sich, bald eine Geldstrafe, bald Ehrlosigkeit, und gerade diese Beibehaltung der Strafen innerhalb der richtigen Gränzen ist einer der gesundesten Gedanken des mittleren römischen Rechts. Dass ein Depositar, der die Schamlosigkeit gehabt hatte, das Depositum abzuläugnen oder vorzuenthalten, dass der Mandatar oder Vormund, der seine Vertrauensstellung zu seinem eigenen Vortheil ausgebeutet oder seine Pflicht treulos hintangesetzt hatte, sich mit blosser Herausgabe der Sache oder einfachem Schadensersatz sollte abkaufen können, wollte dem gesunden römischen Rechtsgefühl nicht in den Sinn, es verlangte für sich eine Genugthuung und zur Sicherung gegen derartige Schlechtigkeiten ein Abschreckungsmittel, und das Gesetz gewährte diese Forderung, indem es dafür die Strafe der Infamie aussprach. Ungleich ausgedehnter war der Gebrauch, den es von den Vermögensstrafen machte. Wer in ungerechter Sache es zum Process kommen lässt oder selber ihn erhebt, für den ist ein ganzes Arsenal von derartigen Schreckmitteln in Bereitschaft; sie beginnen mit Bruchtheilen des Streitobjects (1/10, 1/5, 1/3, 1/2), steigen bis zum Mehrfachen seines Betrages und verlieren sich unter Umständen, wo der Trotz des Gegners in keiner andern Weise zu brechen ist, sogar in's Unbegrenzte, d. h. was der Kläger eidlich als genügende Satisfaction feststellen will. Insbesondere sind es zwei processualische Einrichtungen, die zum Zweck haben, den Beklagten in die Lage zu versetzen, entweder von seinem Unterfangen abzustehen ohne weitere nachtheilige Folgen, oder aber sich darauf gefasst zu machen, einer absichtlichen Uebertretung des Gesetzes schuldig befunden und demzufolge behandelt zu werden: die prohibitorischen Interdicte des Prätors und die actiones arbitrariae. Sie zwangen den Beklagten, seinen Widerstand oder Angriff, wenn er dabei verharren wollte, von der Person des Klägers auf die Obrigkeit zu erstrecken; es stand fortan nicht mehr das Recht des Klägers in Frage, sondern das Gesetz selber in der Auctorität seiner Vertreter.

Was ist nun der Zweck aller dieser Strafen? Es ist derselbe wie der der Strafe im Criminalrecht. Einmal nämlich der rein praktische, die Interessen des Privatlebens auch gegen solche Verletzungen sicher zu stellen, die nicht unter den Begriff des Verbrechens fallen, sodann aber auch der ethische, dem verletzten Rechtsgefühl – und ich verstehe darunter nicht bloss das des unmittelbar Betheiligten, sondern das aller Personen, die von dem Fall Kunde erhalten – eine Genugthuung zu verschaffen, die missachtete Auctorität des Gesetzes wieder zu Ehren zu bringen. Das Geld ist also nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. 15)

In meinen Augen ist nun diese Gestalt, welche die Sache im mittleren römischen Rechte an sich trägt, eine wahrhaft mustergültige. Gleichweit entfernt von dem Extrem des älteren Rechts, welches das objective Unrecht über den Leisten des subjectiven schlägt, sowie von dem entgegengesetzten unseres heutigen, welches das subjective ganz auf das Niveau des objectiven herabgedrückt hat, gewährt es den berechtigten Forderungen des gesunden Rechtsgefühls volle Befriedigung, indem es nicht bloss beide Arten des Unrechts streng von einander unterscheidet, sondern innerhalb des Rahmens des subjectiven alle Schattirungen desselben in Bezug auf die Form, die Art, das Gewicht der Verletzung mit feinstem Verständniss zum Ausdruck bringt.

Indem ich mich jetzt der letzten Entwicklungsstufe des römischen Rechts, wie sie in der Justinianeischen Compilation ihren Abschluss gefunden hat, zuwende, drängt sich mir unwillkührlich die Bemerkung auf, von welcher Bedeutung doch, wie für das Leben des Einzelnen, so auch für das der Völker, das Erbrecht ist. Was wäre das Recht dieser Zeit, wenn sie selber es hätte schaffen sollen! Aber wie der Erbe, der durch eigene Kraft sich kaum nothdürftig das Leben hätte fristen können, von dem Reichthum des Erblassers lebt, so zehrt auch ein mattes, heruntergekommenes Geschlecht noch lange von dem geistigen Kapital der vorhergehenden kraftvollen Zeit. Wer möchte glauben, dass das gesunde römische Rechtsgefühl sich unter dem entnervenden Druck des späteren Despotismus noch lange in seiner alten Kraft hätte erhalten können, und dass das spätere Geschlecht für jenen idealen Sinn, der das wahre Rechtsgefühl kennzeichnet, ich meine die Schätzung des Rechts um seiner selbst willen ohne Rücksicht auf seinen materiellen Werth, noch Verständniss behalten hätte? Wer diesen idealen Werth des Rechts empfinden will, muss sich selber fühlen; wie konnte dies aber ein Volk, das seit Jahrhunderten der Spielball despotischer Willkühr gewesen war? Wenn sich gleichwohl eine Menge von Sätzen, in denen die ächtrömische Empfindungsweise sich noch erhalten hat, in das neuere Recht gerettet haben, so ist es eben reines Erbgut. Aber neben dem, was sich behauptet hat, ist doch auch Manches beseitigt, so sind z. B. die schärfsten der alten Processstrafen abgethan 16) – die gesunde Strenge der alten Zeit missfiel der weichlichen Schwäche der spätem Zeit – und als ganz charakteristischer Zug macht sich das Bestreben geltend, die Stellung des Schuldners auf Kosten des Gläubigers zu verbessern. 17) Ich glaube, dass man die ganz allgemeine Bemerkung aufstellen kann: es ist das Zeichen einer schwachen Zeit, mit dem Schuldner zu sympathisiren. Sie selber nennt das Humanität. Eine kräftige Zeit sorgt vor Allem dafür, dass der Gläubiger zu seinem Recht komme, selbst wenn der Schuldner darüber zu Grunde geht. Auch das privilegirte Pfandrecht, welches Justinian der Ehefrau einräumte, entstammte jenem humanen Zuge seines Herzens, über den er selber nicht umhin kann bei jeder neuen Anwandlung sich höchlich zu erstaunen und zu beglückwünschen; aber es war die Humanität des heiligen Crispinus, der den Reichen das Leder stahl, um den Armen Stiefel daraus zu machen.

Und nun schliesslich unser heutiges römisches Recht! Fast möchte ich bedauern, desselben Erwähnung gethan zu haben, denn ich habe mich damit in die Lage versetzt, ein Urtheil über dasselbe aussprechen zu müssen, ohne es an dieser Stelle so, wie ich wünschte, begründen zu können. Aber mit meinem Urtheil selber will ich wenigstens nicht zurückhalten.

Wenn ich dasselbe in wenig Worte zusammendrängen soll, so setze ich die Signatur der gesammten Geschichte und der gesammten Geltung des modernen römischen Rechts in das eigenthümliche, durch die Verhältnisse selber allerdings bis zu einem gewissen Grade nothwendig gemachte Uebergewicht der blossen Gelehrsamkeit über alle jene Factoren, welche sonst die Gestaltung und Entwicklung des Rechts bestimmen: das nationale Rechtsgefühl, die Praxis, die Gesetzgebung. Ein fremdes Recht in fremder Sprache, eingeführt durch die Gelehrten und nur ihnen vollständig zugänglich und von vornherein dem Gegensatz und Wechsel zweier ganz verschiedenartiger, oft sich selber gegenseitig bekämpfender Interessen ausgesetzt – ich meine das der rein unbefangenen historischen Erkenntniss und das der praktischen Accommodirung und Fortbildung des Rechts – dem gegenüber eine Praxis ohne die nöthige Kraft der vollen geistigen Beherrschung des Stoffes; und daher zur dauernden Abhängigkeit von der Theorie, d.h. zur Unmündigkeit,verdammt, der Particularismus in der Rechtsprechung wie in der Gesetzgebung dominirend über die schwachen, wenig entwickelten Ansätze zur Centralisation. Kann es uns Wunder nehmen, dass zwischen dem nationalen Rechtsgefühl und einem solchen Recht ein klaffender Zwiespalt bestand, dass das Volk sein Recht, und das Recht das Volk nicht verstand? Einrichtungen und Sätze, die in Rom bei den dortigen Verhältnissen und Gewohnheiten verständig gewesen waren, gestalteten sich hier bei gänzlichem Wegfall ihrer Voraussetzungen geradezu zum Fluch, und nie, so lange die Welt steht, mag eine Rechtsprechung so sehr im Volk den Glauben und das Vertrauen zum Recht erschüttert haben, wie diese. Was soll der einfache, gesunde Verstand des Laien dazu sagen, wenn er mit einem Schein vor den Richter tritt, in dem sein Gegner bekennt, ihm hundert Gulden schuldig geworden zu sein, und der Richter den Schein einfach als cautio indiscreta bei Seite schiebt, oder dazu, dass ein Schein, der ausdrücklich das Darlehen als Schuldgrund nennt, vor Ablauf von zwei Jahren keine Beweiskraft hat? Doch ich will mich nicht in Einzelheiten ergehen – wo wäre das Ende davon abzusehen? – ich beschränke mich vielmehr darauf, zwei Verirrungen unserer gemeinrechtlichen Jurisprudenz – ich kann sie nicht anders bezeichnen – namhaft zu machen, die principieller Natur sind und eine wahre Saat des Unrechts in sich schliessen. Die eine besteht darin, dass der modernen Jurisprudenz jener oben von mir entwickelte einfache Gedanke, dass es sich bei einer Rechtsverletzung nicht bloss um den Geldwerth, sondern um eine Genugthuung des verletzten Rechtsgefühls handelt, völlig abhanden gekommen ist. Ihr Massstab ist ganz der des platten, öden Materialismus: das blosse Geldinteresse. Ich erinnere mich, von einem Richter gehört zu haben, der bei geringem Betrage des Streitobjects dem Kläger denselben aus eigener Tasche offerirte und höchst entrüstet war, wenn dies Anerbieten zurückgewiesen ward. Dass das Recht etwas Anderes sei, als sein Gegenstand, – was der einfache Bauer sehr wohl wusste – wollte diesem gelehrten Richter nicht in den Kopf, und wir rechnen es ihm nicht zur hohen Schuld an, er konnte den Vorwurf von sich abwälzen auf die Wissenschaft. Die Geldcondemnation, die in den Händen des römischen Richters, so wie er sie zu üben verstand, 18) das ausreichendste Mittel gewährte, dem idealen Interesse der Rechtsverletzung gerecht zu werden, hat sich unter dem Einfluss unserer modernen Beweistheorie zu einem der trostlosesten Nothbehelfe gestaltet, mit denen die Gerechtigkeit je dem Unrecht zu steuern gesucht hat. Der Kläger muss sein Geldinteresse beweisen genau bis auf Heller und Pfennig. Wo bleibt der Rechtsschutz, wenn ein solches Geldinteresse nicht existirt? Der Vermiether verschliesst dem Miether den Garten, an dem Letzterer contractlich das Mitbenutzungsrecht hat; welchen Geldwerth hat der Aufenthalt in einem Garten? Oder er vermiethet die Wohnung, bevor der Miether sie bezogen, einem Andern, und Jener muss sich ein halbes Jahr lang mit dem elendesten Unterkommen behelfen. Ein Privatlehrer, der ein Engagement bei einem Privatinstitut angenommen, findet einen vortheilhafteren Platz und wird contractbrüchig, ein anderer ist zunächst nicht zu haben; es deducire hier Einer den Geldwerth davon, dass die Schüler mehrere Wochen oder Monate hindurch keinen Unterricht in der französischen Sprache oder im Zeichnen genossen haben. Eine Köchin verlässt ohne Grund den Dienst und versetzt dadurch die Herrschaft in die grösste Noth, da ein Ersatz am Ort nicht zu haben ist; beweise Einer den Geldwerth dieser Calamität. In allen diesen Fällen ist man nach dem gemeinen Recht völlig hülflos, es ist geradezu eine sporadische Rechtlosigkeit. Und nicht das ist das Drückende dabei, dass man dadurch in Ungemach aller Art geräth, sondern dass das gute Recht in frivolster Weise mit Füssen getreten werden kann, ohne dass es dagegen eine Hülfe gibt.

Mit dieser Unempfindlichkeit unserer Jurisprudenz gegen die ideale Seite der Rechtskränkung hängt auch das Verschwinden aller jener Strafen zusammen, in denen das verletzte Rechtsgefühl und Gesetz im römischen Rechte seine Genugthuung erhielt. Den treulosen Depositar oder Mandatar trifft bei uns keine Infamie mehr; die grösste Schurkerei, sofern sie nur das Criminalgesetz geschickt zu vermeiden versteht; geht völlig frei und straflos aus. Zwar die Geldstrafen und die Strafen des Läugnens figuriren noch in den Lehrbüchern, aber dem Bewusstsein der Praxis sind sie der Mehrzahl nach völlig entschwunden. Was heisst das aber? Nichts anders, als dass bei uns das subjective Unrecht seine Qualification im Gegensatz zum objectiven eingebüsst hat und auf die Stufe des letzteren herabgedrückt ist Zwischen dem Schuldner, der in schamloser Weise das ihm gegebene Darlehen in Abrede stellt, und dem Erben, der dies bona fide thut, zwischen dem Mandatar, der mich betrogen, und dem, der sich bloss versehen, kurz zwischen der absichtlichen, frivolen Rechtskränkung und der Unkenntniss oder dem Versehen kennt unser heutiges Recht gar keinen Unterschied mehr – es ist überall nur das Geld, dem Recht gesprochen wird.

Aber selbst das Geld – – wie wird ihm das Recht gesprochen! Dies bringt mich auf die zweite Verirrung, deren ich oben gedachte, es ist unsere moderne Beweistheorie. Man möchte glauben, dass sie bloss zu dem Zweck erfunden worden sei, um das Recht zu vereiteln; wenn alle Schuldner der Welt sich verschworen hätten, die Gläubiger um ihr Recht zu bringen, sie hätten nichts Besseres zu Tage fördern können als unsere Jurisprudenz es gethan. Kein Mathematiker kann eine exactere Methode des Beweises erfinden, als unsere Jurisprudenz sie zur Anwendung bringt. Den Höhenpunkt des Unverstandes erreicht dieselbe in den Schadensersatzprocessen und Interessenklagen, und man kann geradezu behaupten, dass, wer eine Ahnung davon hat, was er bei ihnen beweisen soll, mit Entsetzen vor der Anstellung einer solchen Klage zurückschrecken wird. Der grauenhafte Unfug, der hier unter dem Schein des Rechts mit dem Recht selber getrieben wird, und der wohlthätige Contrast, den dazu die verständige Weise der französischen Gerichte bildet, ist in mehreren neueren Schriften in so drastischer Weise geschildert worden, dass ich mich jeder weiteren Worte enthalten kann; nur das eine kann ich nicht unterdrücken: Wehe dem Kläger, wohl dem Beklagten!

Fasse ich Alles zusammen, was ich bisher gesagt habe, so möchte ich diesen letztem Ausruf überhaupt als Losungswort der Tendenz unserer modernen Jurisprudenz bezeichnen. Sie ist auf dem Wege, den Justinian eingeschlagen, rüstig fortgeschritten; der Schuldner, nicht der Gläubiger, ist es, der ihre Sympathie erregt: lieber hundert Gläubigem eclatantes Unrecht thun als möglicherweise einen Schuldner zu streng behandeln.

Ein Unkundiger sollte kaum glauben, dass diese partielle Rechtlosigkeit, welche wir der verkehrten Theorie der Civilisten und Processualisten verdanken, noch einer Steigerung fähig wäre, und doch wird selbst sie noch weit überboten durch eine Verirrung früherer Criminalisten, die sich geradezu als ein Attentat gegen die Idee des Rechts und als die grauenhafteste Versündigung gegen das Rechtsgefühl bezeichnen lässt, welche wohl jemals auf dem Gebiete der Wissenschaft begangen worden ist. Ich meine die schmähliche Verkümmerung des Rechts der Nothwehr, jenes Urrechtes des Menschen, das, wie Cicero sagt, ein dem Menschen angeborenes Gesetz der Natur selber ist, und von dem die römischen Juristen naiv genug waren zu glauben, dass es in keinem Rechte der Welt versagt sein könne. (Vim vi repellere omnes leges omniaque jura permittunt.) In den letzten Jahrhunderten, und selbst noch in unserm Jahrhundert hätten sie sich vom Gegentheil überzeugen können! Zwar im Princip erkannten die gelehrten Herren dieses Recht an, aber von gleicher Sympathie für den Verbrecher beseelt, wie die Civilisten und Processualisten für den Schuldner, suchten sie es in der Ausübung in einer Weise zu beschränken und zu beschneiden, dass in den meisten Fällen der Verbrecher geschützt, der Angegriffene aber schutzlos ward. Welcher Abgrund von Verkommenheit des Persönlichkeitsgefühls, von Unmännlichkeit, von gänzlicher Entartung und Abgestumpftheit des einfachen, gesunden Rechtsgefühls öffnet sich, wenn man in die Literatur dieser Lehre hinabsteigt 19) – man möchte glauben, in eine Gesellschaft sittlicher Castraten versetzt zu sein! Der Mann, dem eine Gefahr oder eine Ehrenbeleidigung droht, soll sich zurückziehen, fliehen 20) – es ist also die Pflicht des Rechts, dem Unrecht das Feld zu räumen – und nur darüber waren die Weisen uneins, ob auch Officiere, Adelige und höhere Standespersonen fliehen müssten 21) – ein armer Soldat, der in Befolgung dieser Weisung sich zwei Mal retirirt, zum dritten Mal aber, von seinem Gegner verfolgt, sich zur Wehr gesetzt und ihn getödtet hatte, ward „sich selber zur heilsamen Lehre, Andern aber zum abschreckenden Exempel“ mit dem Schwert vom Leben zum Tode gerichtet!

Leuten von besonders hohem Stande und von hoher Geburt, wie auch Officieren sei es erlaubt, sich zur Vertheidigung ihrer Ehre einer rechtmässigen Nothwehr bedienen zu können; 22) jedoch, fügt ein Anderer sofort beschränkend hinzu, dürften sie bei bloss wörtlicher Injurie nicht bis zur Tödtung des Gegners vorschreiten. Anderen Personen dagegen und selbst den Staatsbeamten könne man nicht ein Gleiches zugestehen; die Civiljustizbeamten werden damit abgefunden, dass sie als „blosse Gesetzmenschen mit allen ihren Ansprüchen an den Inhalt der Landesrechte verwiesen werden müssten und weiter keine Prätensionen machen könnten“. Am schlimmsten kommen die Kaufleute weg. „Kaufleute, selbst die reichsten“, heisst es, „machen keine Ausnahme, ihre Ehre sei ihr Credit, sie haben nur so lange Ehre, als sie Geld haben, sie können es füglicherweise ohne Gefahr, ihre Ehre oder ihren Leumund zu verlieren, dulden, dass sie mit Schimpfnamen belegt werden, und wenn sie zur niedrigeren Classe gehören, einen wenig schmerzhaften Backenstreich und Nasenstüber empfangen.“ Ist der Unglückliche gar ein gemeiner Bauer oder Jude, so soll er bei Uebertretung dieser Vorschrift mit der ordentlichen Strafe der verbotenen Selbsthülfe belegt werden, während andere Personen nur „möglichst gelinde“ bestraft werden sollen.

Besonders erbaulich ist die Art, wie man die Nothwehr zum Zweck der Behauptung des Eigenthums auszuschliessen suchte. Eigenthum, meinten die Einen, sei gerade so wie die Ehre ein ersetzliches Gut, es werde nämlich ersetzt durch die reivindicatio oder actio injuriarum. Aber wie, wenn der Räuber mit der Sache sich über alle Berge gemacht hat, und man nicht weiss, wer und wo er ist? Dann behält man immer noch die reivindicatio, und „es ist immer nur die Folge zufälliger, von der Natur des Vermögensrechts selbst ganz unabhängiger Umstände, wenn in einzelnen Fällen die Klage nicht zum Ziele führt“. 23) Damit mag sich Derjenige trösten, der sein ganzes Vermögen, das er in Werthpapieren bei sich führt, widerstandslos dahingeben muss; er behält immer noch das Eigenthum und die reivindicatio, der Räuber hat nichts als den factischen Besitz! Andere verstatten in einem solchen Fall, wo es sich um einen sehr bedeutenden Werth handelt, zwar nothgedrungen die Anwendung von Gewalt, aber selbstverständlich muss auch hier der Angegriffene trotz des höchsten Affectes sehr genau überlegen, wie viel Kraft nöthig ist, um den Angriff zurück zu weisen – schlägt er dem Angreifer nutzloser Weise den Hirnschädel ein, wo Jemand, der sich darauf hätte einüben können und die Stärke des Hirnschädels gekannt hätte, ihn durch einen minder wuchtigen Schlag hätte unschädlich machen können, so haftet er natürlich. Dagegen bei minder werthvollen Gegenständen, z.B. einer goldenen Uhr oder einer Börse mit einigen Gulden oder auch einigen hundert Gulden, soll er bei Leibe dem Gegner kein Uebles zufügen. Denn was ist eine Uhr gegen Leib, Leben und heile Gliedmassen? Das eine ist ein höchst ersetzliches, das andere ein völlig unersetzliches Gut. Eine unbestreitbare Wahrheit, bei der nur der doppelte Umstand übersehen ist, einmal dass die Uhr mir, die Gliedmassen dem Räuber gehören, und letztere zwar für ihn einen sehr hohen, für mich aber gar keinen Werth haben, und sodann in Bezug auf die Ersetzlichkeit meiner Uhr die Frage: wer sie mir ersetzt?

Doch genug der gelehrten Thorheit und Verkehrtheit! Welche tiefe Beschämung muss es in uns hervorrufen, wenn wir wahrnehmen, dass jener einfache Gedanke des gesunden Rechtsgefühls, dass in jedem Recht, das die Person hat, sei der Gegenstand auch nur eine Uhr, sie selber mit ihrem ganzen Recht und ihrer ganzen Persönlichkeit in Frage gestellt wird, der Wissenschaft in einer Weise abhanden kommen konnte, dass sie die Preisgabe des eigenen Rechts dem Unrecht gegenüber und die feige Flucht zur Rechtspflicht erheben konnte! Kann es Wunder nehmen, wenn in einer Zeit, in der solche Ansichten sich in der Wissenschaft an's Tageslicht wagen durften, der Geist der Feigheit und apathischen Erduldung des Unrechts auch die Geschicke der Nation bestimmte? Wohl uns, die wir es erlebt haben, dass die Zeit eine andere geworden – solche Ansichten sind jetzt geradezu eine Unmöglichkeit geworden, sie konnten nur gedeihen in dem Sumpf eines politisch and rechtlich gleich verkommenen nationalen Lebens.

Mit der so eben entwickelten Theorie der Feigheit, der Verpflichtung zur Preisgabe des bedrohten Rechts im Recht habe ich den äussersten wissenschaftlichen Gegensatz zu meiner eigenen Ansicht berührt, welche gerade umgekehrt den muthigen Kampf um's Recht zur Pflicht stempelt. Nicht ganz so tief, aber immer tief genug unter der Höhe des gesunden Rechtsgefühls liegt das Niveau der Ansicht eines neuem Philosophen, Herbart, über den letzten Grund des Rechts. Er erblickt denselben in einem, man kann nicht anders sagen, ästhetischen Motiv: dem Missfallen am Streit. Es ist hier nicht der Ort, die völlige Unhaltbarkeit dieser Ansicht darzulegen, ich befinde mich in der glücklichen Lage, dafür auf die Ausführungen eines anwesenden Freundes Bezug nehmen zu können. 24) Wäre der ästhetische Standpunkt bei der Würdigung des Rechts der berechtigte, ich wüsste nicht, ob ich das ästhetisch Schöne beim Recht anstatt darein, dass es den Kampf ausschliesst, nicht vielmehr gerade darein setzen sollte, dass es den Kampf in sich schliesst, und ich habe den Muth, im offenen Gegensatz zu dem Herbart'schen Postulat des Missfallens am Streit mich umgekehrt des Gefallens am Streit für schuldig zu bekennen. Ich meine damit selbstverständlich nicht das Wortgezänke und den Streit um ein Nichts, sondern ich meine jenen erhebenden Kampf, wenn die Person sich selber und alle ihre Kraft einsetzt, sei es für ihr eigenes Recht oder das der Nation. Wer dieses Gefühl missbilligen will, der möge nur unsere ganze Literatur und Kunst von Homers Ilias und den Bildnerarbeiten der Griechen an bis auf unsere heutige Zeit streichen. Aber nicht die Aesthetik, sondern die Ethik ist der Boden des Rechts, die Ethik aber weit entfernt, den Kampf um's Recht zu verwerfen, erheischt ihn als Pflicht. Das Element des Streites und Kampfes, das Herbart aus dem Rechtsbegriff eliminiren will, ist sein ureigenes, ihm ewig immanentes, der Kampf ist die Arbeit des Rechts, die stets den Genuss sichern und verdienen muss, und dem Satz: „Im Schweisse Deines Angesichts sollst Du Dein Brod essen“, steht mit gleicher Wahrheit der andere gegenüber: Im Kampfe sollst Du Dein Recht finden. Von dem Moment an, wo das Recht seine Kampfbereitschaft aufgibt, gibt es sich selber auf. Ich schliesse mit den Worten des Dichters:

 

Das ist der Weisheit letzter Schluss:

Nur Der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muss.

 

 

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1) Ein Citat aus meinem „Geist des römischen Rechts“ II, 1, §. 28 (Aufl. 2. S. 67). 

2) Bis zur Caricatur getrieben von Stahl, in der in meinem Geist des r. R. II., §. 25. Anm. 14, mitgetheilten Stelle aus einer seiner Kammerreden.  

3) In der Novelle: Michael Kohlhaas, von Heinrich von Kleist, auf die ich unten noch des Nähern zurückkommen werde, lässt der Dichter seinen Helden sagen: Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füssen getreten werden soll, als ein Mensch!  

4) Ich bin genöthigt, unten darauf wieder zurückzukommen.  

5) Einen interessanten Beleg dazu bieten unsere kleinen deutschen Universitätsstädte dar, die vorzugsweise von den Studierenden leben: die Stimmung und Gewohnheiten der Letzteren in Bezug auf das Geldausgeben theilt sich unwillkührlich auch der bürgerlichen Bevölkerung mit.  

6) S. meinen Geist des röm. R. III. §. 60.  

7) Für diejenigen meiner Leser, die des Rechts nicht kundig sind, bemerke ich, dass diese Klagen (actiones populares) Jedem, der wollte, Gelegenheit gaben, als Vertreter des Gesetzes aufzutreten und den Verächter desselben zur Verantwortung zu ziehen, und zwar nicht etwa bloss in solchen Fällen, wo es sich um Interessen des gesammten Publicums und somit auch des Klägers handelte, wie z. B. Störung, Gefährdung der öffentlichen Passage, sondern auch da, wo eine einer Privatperson, die sich selber nicht wirksam vertheidigen konnte, zugefügte Rechtsverletzung in Frage stand, so z.B. Uebervortheilung eines Minderjährigen bei einem Rechtsgeschäft, Untreue, Pflichtvergessenheit des Vormundes, Erpressung wucherischer Zinsen; über diese und andere Fälle s. meinen Geist des römischen Rechts III., S. 107 (Aufl. 2. S. 111 f.). Jene Klagen enthielten also eine Aufforderung an jenen idealen Sinn, der ohne alles eigene Interesse das Recht lediglich des Rechts wegen will; einige derselben appellirten auch an das ganz ordinäre Motiv der Gewinnsucht, indem sie dem Kläger das vom Beklagten beizutreibende Strafgeld in Aussicht stellten, allein eben darum ruhte auf ihnen oder richtiger auf ihrer gewerbsmässigen Anstellung derselbe Makel, wie bei uns auf Denunciationen der Denunciantengebühren wegen. Wenn ich mittheile, dass die meisten Klagen der zweiten Kategorie schon im spätem römischen Recht, die der ersten aber in unserm heutigen Recht wenigstens in den meisten Ländern verschwunden sind, so wird jeder meiner Leser wissen, welchen Schluss er daran zu knüpfen hat.  

8) Keine Klage ohne Gesetz – das Weitere von mir ausgeführt in meinem citirten Werk II, 2, S. 666 – 675 (2. Aufl. S. 630-639).  

9) Gerade darauf beruht in meinen Augen das hohe tragische Interesse, das Shylok uns abnöthigt. Er ist in der That um sein Recht betrogen. So wenigstens muss der Jurist die Sache ansehen. Dem Dichter steht natürlich frei, sich seine eigene Jurisprudenz zu bilden, und wir wollen es nicht bedauern, dass Shakespeare dies hier gethan oder richtiger die alte Fabel unverändert beibehalten hat. Aber wenn der Jurist dieselbe einer Kritik unterziehen will, so kann er nicht anders sagen, als: der Schein war an sich nichtig, da er etwas Unsittliches enthielt; liess der „weise Daniel“ ihn aber einmal gelten, so war es ein elender Winkelzug, ein kläglicher Rabulistenkniff, dem Manne, dem er einmal das Recht zugesprochen hatte, vom lebenden Körper ein Pfund Fleisch auszuschneiden, das damit nothwendig verbundene Vergiessen des Bluts zu versagen. Man möchte fast glauben, als ob die Geschichte von Shylok schon im ältesten Rom gespielt habe; denn die Verfasser der zwölf Tafeln hielten es für nöthig, in Bezug auf das „Zerfleischen des Schuldners“ (in partes secare) ausdrücklich zu bemerken, dass es auf etwas mehr oder weniger dabei nicht ankomme. (Si plus minusve secuerint, sine fraude esto!)  

10) Die folgenden Citate aus derselben beziehen sich auf die Tiek'sche Ausgabe der gesammelten Schriften des Dichters, Berlin 1826, B. 3. 

11) So habe ich selber früher die Sache angesehen, s. meine Schrift über das Schuldmoment im römischen Privatrecht, Giessen 1867, S. 61. Dass ich jetzt über sie anders denke, verdanke ich der Förderung meiner Anschauung durch die längere Beschäftigung mit dem gegenwärtigen Thema.  

12) In meiner zuletzt citirten Schrift, S. 8–20.  

13) Andere Beispiele s. S. 14 der angeführten Schrift.  

14) Darüber handelt der zweite Abschnitt der obigen Schrift, S. 20 u. f.  

15) In besonders scharfer Weise ist dies accentuirt bei den s. g. actiones vindictam spirantes. Der ideale Gesichtspunkt, dass es sich bei denselben nicht um Geld und Gut, sondern um eine Satisfaction des verletzten Rechts- und Persönlichkeitsgefühls handelt („magis vindictae, quam pecuniae habet rationem“, l. 2. §. 4 de coll. bon. 37. 6.), ist bei ihnen mit aller Schärfe durchgeführt. Darum gehen sie nicht auf die Erben, darum können sie nicht cedirt oder im Fall des Concurses von den Massegläubigern angestellt werden, darum erlöschen sie in verhältnissmässig kurzer Zeit, und darum finden sie überall nicht Statt, wenn sich gezeigt hat, dass der Verletzte das gegen ihn begangene Unrecht gar nicht empfunden hat („ad animum suum non revocaverit“, l. 11. §. 1 de injur. 47. 10.).  

16) Das Nähere in meiner Schrift, S. 58.  

17) Belege dazu bieten die Bestimmungen Justinians, wodurch er den Bürgen die Einrede der Vorausklage, den Correalschuldnern die Einrede der Theilung gewährt, für den Verkauf des Pfandes die unsinnige Frist von zwei Jahren festsetzt und dem Schuldner nach erfolgtem Eigenthumszuschlag des Pfandes noch eine zweijährige Einlösungsfrist, ja sogar nach Ablauf derselben noch einen Anspruch auf den Mehrerlös der vom Gläubiger verkauften Sache vorbehält, die ungebührliche Ausdehnung des Compensationsrechts, die datio in solutum, sowie das Privilegium der Kirchen bei derselben, die Beschränkung der Interessenklagen bei contractlichen Verhältnissen auf das Doppelte, die widersinnige Ausdehnung des Verbots der usurae supra alterum tantum, sowie die Beschränkung der Versicherungsprämie beim foenus nauticum auf 12 p. Ct., die dem Erben beim benef. inventarii eingeräumte paschamässige Stellung in Bezug auf die Befriedigung der Gläubiger. Der durch Majoritätsbeschluss der Gläubiger zu erzwingenden Stundung, die ebenfalls von ihm herrührt, war bereits als würdiges Vorbild das zuerst bei Constantin auftauchende Institut der Moratorien vorausgegangen, und auch an der querela non numeratae pecuniae und der s.g. cautio indiscreta muss er das Verdienst der Erfindung seinen Vorgängern im Reich überlassen, während der Ruhm, der Erste auf dem Thron die Personalexecution in ihrer ganzen Scheusslichkeit erkannt und vom Standpunkt der Humanität aus geächtet zu haben, Napoleon III. gebührt. Freilich hat derselbe an der trocknen Guillotine in Cayenne keinen Anstoss genommen, aber auch die späteren römischen Kaiser besannen sich nicht, den Kindern der Hochverräther das Loos des Wildes auf dem Felde zu bereiten – – um so schöner sticht dagegen die Humanität gegen die Schuldner ab! Es gibt keine bequemere Manier, sich mit der Menschlichkeit abzufinden, als auf fremde Kosten!  

18) Belege dazu bieten l. 7 de ann. (33. 1), l. 9. §. 3, l. 14. §. 1 de servo corr. (11. 3), l. 16. §. 1 quod vi (43. 24), l. 6, l. 7 de serv. exp. (18. 7), l. 1. §. 2 de tut. rat. (27. 3), l. 54. pr. Mand. (17. 1), l. 71 i. f. de evict. (21. 2), l. 44 de man. (40. 4). Es war dieselbe Weise, in der im richtigen Takt heutzutage die französischen Gerichte die Geldcondemnation zur Anwendung bringen. 

19) Sie findet sich zusammengestellt in der Schrift von K. Levita: Das Recht der Nothwehr, Giessen 1856, S. 158 u. f. 

20) Levita, a. a. O. S. 237.  

21) Daselbst S. 240.  

22) Daselbst S. 205 u. 206.  

23) Daselbst S. 210.  

24) Jul. Glaser, Gesammelte kleinere Schriften über Strafrecht, Civil- und Strafprocess. Wien 1868, B. I, S. 202 f.

 

 

 

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Druck von G. J. Manz in Regensburg.