BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Marx

1818 - 1883

 

Thesen über Feuerbach

 

Frühjahr 1845

 

Textgrundlage:

Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA)

Band IV 3, Berlin 1998

 

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ad Feuerbach.

 

 

   1   

 

Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuer­bach'schen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts od. der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Thätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die thätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Thätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er faßt die menschliche Thätigkeit selbst nicht als gegenständliche Thätigkeit. Er betrachtet daher im Wesen des Christenthums nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefaßt u. fixirt wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der „revolutionairen“ der „praktisch-kritischen“ Thätigkeit.

 

 

   2   

 

Die Frage, ob dem menschlichen Denken – gegenständliche Wahr­heit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit i. e. Wirklichkeit u. Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit od. Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isolirt ist, – ist eine rein scholastische Frage.

 

 

   3   

 

Die materialistische Lehre v. der Veränderung der Umstände u. der Erziehung vergißt, daß die Umstände v. den Menschen verändert u. der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Theile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondiren.

Das Zusammenfallen des Aenderns der Umstände u. der mensch­lichen Thätigkeit od. Selbstveränderung kann nur als revolutionaire Praxis gefaßt u. rationell verstanden werden.

 

 

   4   

 

Feuerbach geht von dem Factum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse u. eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt u. sich ein selbstständiges Reich in den Wolken fixirt, ist nur aus der Selbstzerrissenheit u. Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Wiederspruch verstanden, als praktisch revolutionirt werden. Also nachdem z.B. die irdische Familie als das Geheimniß der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch u. praktisch vernichtet werden.

 

 

   5   

 

Feuerbach, mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, will die An­schauung; aber er faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische, menschlich sinnliche Thätigkeit.

 

 

   6   

 

Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstractum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht ein­geht, ist daher gezwungen:

1) von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahiren u. das religiöse Gemüth für sich zu fixiren, u. ein abstrakt – isolirt – menschliches Individuum vorauszusetzen.

2) Das Wesen kann daher nur als „Gattung“, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.

 

 

   7   

 

Feuerbach sieht daher nicht, daß das „religiöse Gemüth“ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist u. daß das abstrakte Individuum, das er analysirt, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.

 

 

   8   

 

Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mysticism veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis u. in dem Begreifen dieser Praxis.

 

 

   9   

 

Das höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, d. h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Thätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen u. der bür­gerlichen Gesellschaft.

 

 

   10   

 

Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Ge­sellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft od. die gesellschaftliche Menschheit.

 

 

   11   

 

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern.