B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Karl Marx
1818 - 1883
     
   



a d   F e u e r b a c h

[Thesen über Feuerbach]
Frühjahr 1845


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ad Feuerbach

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Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objects oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Thätigkeit, Praxis; nicht subjectiv. Daher die thätige Seite abstract im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Thätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjecten wirklich unterschiedene Objecte: aber er fasst die menschliche Thätigkeit selbst nicht als gegenständliche Thätigkeit. Er betrachtet daher im «Wesen des Christenthums» nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixirt wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der «revolutionären», der «praktisch-kritischen» Thätigkeit.

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Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e.. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isolirt ist - ist eine rein scholastische Frage.

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Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Theile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondiren.
Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Thätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.

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Feuerbach geht von dem Factum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixirt, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muss also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutionirt werden. Also nachdem z. B. die irdische Familie als das Geheimniss der heiligen Familie entdeckt ist, muss nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden.

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Feuerbach, mit dem abstracten Denken nicht zufrieden, will die Anschauung; aber er fasst die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Thätigkeit.

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Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstractum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixiren und ein abstract - isolirt - menschliches Individuum vorauszusetzen.
2. Das Wesen kann daher nur als «Gattung», als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.

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Feuerbach sieht daher nicht, dass das «religiöse Gemüth» selbst ein gesellschaftliches Product ist und dass das abstracte Individuum, das er analysirt, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.

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Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mysticism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.

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Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, d. h. der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Thätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft.

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Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit.

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Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an, sie zu verändern.