BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Imago

 

3. Kapitel

 

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In der Hölle der Gemütlichkeit

 

Um der widerspenstigen Dame seine Persönlichkeit zu demonstrieren, mußte er vor allem mit ihr zusammentreffen können, und zwar öfters, womöglich regelmäßig, denn persönliche Vorzüge sind keine Fernwaffen. Wo? Diese Frage! was einfacher? Bei ihr daheim natürlich! Wozu hat man denn sonst einen Statthalter? Der hatte ihn doch eingeladen!

Der Statthalter empfing ihn aufs herzlichste, eine lange Stunde mit ihm über wissenschaftliche Fragen verhandelnd; seine Frau dagegen, auf welche der Besuch gemünzt war, blieb unsichtbar; und als er ihr beim Fortgehen begegnete, bedachte sie ihn mit einem solchen eisigen Gruß, daß er begriff: sie verbat sich seine Besuche.

Auf diesem Wege also ging es nicht. Er mußte versuchen, sie an einem dritten Orte zu fassen. Er erkundigte sich, wo und mit wem sie zu verkehren pflege; übereinstimmend meldeten die Nachrichten, ihr gesellschaftlicher Verkehr beschränke sich fast ausschließlich auf die Idealia. Aus tiefstem Herzen seufzte Viktor: «Idealia!» Er hatte sie bereits gekostet, die Idealia, damals, bei Frau Keller. – «Bah», ermutigte er sich, «es sind im Grunde liebenswürdige, wackere Leute; sogar von seltener Herzenshöflichkeit, trotz ihrem schulbuchdogmatischen Blast, womit sie prahlen. Schon allein, daß mich kein Mensch seine Verstimmung über den Vorfall mit dem Kurt fühlen läßt! – Also mit einigem guten Willen –», und andere Einladungen verschmähend, Frau Steinbach vernachlässigend, schloß er sich den Zusammenkünften der Idealia an, auf die schlimmsten Abenteuer der Gemütlichkeit in Geduld gefaßt.

Auch sie brachten ihm guten Willen entgegen, doch bald spottete die Macht der Gegensätze des künstlichen Harmoniespiels.

Da war vor allem seine angeborene (oder anerfahrene?) Absonderungssucht, die ihm vor jeder Vergruppung der Menschen, heiße sie, wie sie wolle, einen Schauder einflößte; und nun gar ein ‹Verein›! noch dazu mit dem Namen Idealia! Sie wiederum setzten bei jedem Menschen zwei Haupteigenschaften voraus, die er nicht beibrachte: nämlich einen ewigen Bildungsdurst und einen unersättlichen Musikhunger. Ohne Musik waren diese Leute so hilflos wie Beduinen, denen die Kamele davongelaufen. «Wollen Sie uns denn nicht etwas spielen?» konnten sie einander fragen. Dieses ‹etwas› jagte ihn vom Stuhl. Sagt man auch, «wollen Sie uns ‹etwas› sprechen?»

Angesichts der Bildung lautete der Gegensatz noch klarer: sie interessierten sich für alles, er für nichts. (Deshalb für nichts, weil seine mit Gesichten und Gedichten bis zum Überlaufen volle Seele überhaupt jede Aufnahme von außen verweigerte.)

Die Hauptsache aber war: ihm fehlten die Vorbedingungen zu ihrem anspruchslosen Geselligkeitsstil: der strenge Beruf mit seinen Pflichten und Mühen, das Familienleben mit seinen Sorgen, mit einem Wort, das Erholungs- und Erschlaffungsbedürfnis. Kurz, der altehrwürdige Lebensgegensatz zwischen dem Geisteszigeuner und den Familienbenedikten. Auch der Umstand, daß er tatenlos auf etwas wartete (nämlich auf die Bekehrung Pseudas), mußte schon für sich allein sein Lebensgefühl verstimmen; denn auf die Lungerlage ist der Menschengeist nicht eingerichtet.

So ergab sich denn statt der gehofften Anpassung beiderseitiges Unbehagen. Er war ihnen ‹ungemütlich›, und sie wurden ihm unwohl. Freilich gab er sich redliche Mühe, sein Unwohlsein zu verbergen, um nicht den Schwarzpeter im Kartenspiel vorzustellen; allein versuchs: verbirgs, wenn dir übel ist! «Wie gefällt es Ihnen bei uns? haben Sie sich allmählich ein bißchen eingelebt?» «O ja! sehr!» versicherte er eifrig, stöhnend wie ein harpunierter Walfisch.

Da begannen sie ihn zu trösten. Auf landläufige Manier, nach dem Volkslied ‹Ihr eigener Fehler›. Hinter jedem Trostspruch kam eine Ermahnung getröpfelt, wie aus jenen doppelten Brüheschüsseln, wo aus dem obern Schnabel das Fett, aus dem untern der Satz läuft. Eine unaufhörliche Beugung seiner Person mit Hilfszeitwörtern: ‹Sie müssen›, ‹Sie sollten›, oder, rückwärts angespannt: ‹Sie müssen nicht›, ‹Sie sollten nicht›. Laß sehen, was sollte er dann eigentlich nach ihrer Meinung? und was sollte er nicht? Er sollte nicht: ‹sich gehen lassen›, ‹sich einwickeln›, ‹sich einspinnen›. Er sollte ‹sich überwinden›, ‹aus sich herausgehen›, ‹Sich aus seiner Lethargie aufrütteln› (Viktor, merk dir dein Zeichen, du bist lethargisch), allmählich mit der Zeit vielleicht heiraten; warum denn nicht? und zwar womöglich eine etwas angriffslustige, derbe Dame, damit sie ihn aus seiner Lethargie (entschieden, das Wort hatte es ihnen angetan) gewaltsam herausreiße. Einstweilen möge er doch die mannigfachen Gelegenheiten benützen, die einem in hiesiger Stadt geboten würden; oder ob er denn für gar nichts Höheres Sinn habe? Am Donnerstag zum Beispiel wäre ein interessanter Vortrag über die Liebe bei den alten Germanen, am Sonntag gebe es einen siebenjährigen Geiger; wohlverstanden durchaus nicht etwa bloß so ein unnatürliches bedauernswürdiges Wunderkind, sie wären vielmehr die letzten, solch eine künstliche Treibhauspflanze zu begrüßen, sondern diesmal ein echter, gottbegnadeter Künstler. Und ob er denn wirklich auch gar nicht singe oder wenigstens irgendein Instrument spiele? Ein Einfall, ein Vorschlag: am 4. Dezember, zum Stiftungsgedenktag der Idealia, wird ein Festspiel vom Kurt aufgeführt: «Könnten Sie da nicht vielleicht eine Rolle übernehmen, zum Beispiel als Meergreis oder als einer der Berggeister?» Und warum er sich denn nicht einfach als Mitglied der Idealia anmelde? Und ob es nicht viel natürlicher und gemütlicher wäre, wenn er sich mit den Männern duzte wie die übrigen?

Oder sie versuchten ihn ‹aufzuheitern›. Gab es ein Tänzchen oder ein Gesellschaftsspielchen, Ringsuchen, Tellerdrehen und dergleichen, so rissen sie ihn herzhaft am Arm: «Kommen Sie! ziehen Sie kein so verzweifeltes Gesicht und helfen Sie mit! Man braucht nicht immer so feierlich zu sein.» Wie dann alles nichts helfen wollte, wie er sich je länger, je mehr als ein ‹Egoist› entpuppte, der F-Moll bekannte, wenn die andern Cis-Dur anstimmten, überdies als verstockter ‹Realist›, der sich für nichts, aber auch für gar nichts interessieren wollte, überdies von haarsträubender, geradezu empörender Unwissenheit (er hatte zum Beispiel den ‹Tasso› nicht gelesen!), nahmen sie die Tonart ein bißchen schärfer, und zu den Ratschlägen, zu den Ermahnungen gesellte sich der Tadel. Immer natürlich in aller Freundschaft; oder ist denn nicht Tadel an sich der untrüglichste Beweis von Freundschaft? Sie besserten also in der wohlmeinendsten Absicht an ihm herum; lediglich, um ihn der Idealia anzugleichen; ungefähr so, wie ein Familienrat vor der Reise einen Frack behandelt, damit er in den Koffer gehe: der eine meint, man müsse die Ärmel so falten, der andere vielmehr so; der dritte richtet den Kragen in die Höhe, der vierte schlägt die Schöße um; ihrer zwei drücken schonend mit Fäusten und Knien auf das Präparat, und das Virgineli setzt sich darauf.

Dabei traf es sich ungeschickt, daß Viktor gerade dagegen einen entschiedenen Widerwillen verspürte, an sich herumbessern zu lassen; deshalb, weil er dieses Geschäft selber besorgte. Am ungeduldigsten ertrug er die Nörgeleien an seiner leiblichen Erscheinung. War das ein unaufhörliches Zupfen und Häkeln an seinem Äußern! Nichts erschien an ihm richtig, vom Scheitel bis zur Zehe; weder seine Sprache noch Aussprache, weder sein Haar- noch Bartschnitt, weder sein Kleid noch seine Schuhe; vollends über seinen Hemdenkragen vermochten sie sich gar nicht zu trösten. Schüchterne Versuche, mit Gegenkritik zu lohnen, fanden kein geneigtes Ohr.

Und dann die tausenderlei kleinstädtischen Übelnehmereien! erwidert von seiner unglaublichen Empfindlichkeit, der Empfindlichkeit des Phantasiemenschen (der Rückseite der Feinfühligkeit), die durch unablässiges Wühlen einen Nadelstich zur schwärenden Wunde entzündet, eine kleine Rücksichtslosigkeit zur tödlichen Beleidigung vergrößert! So trug von beiden Seiten jedes das Seinige bei, um jenen Qualzustand zu schaffen, den man mit dem Lindwort ‹Mißverständnis› zu beschönigen pflegt. Nun hatten zwar nach ihrer Auffassung ‹Mißverständnisse› wenig auf sich. Du lieber Himmel! in dieser friedlichen Idealia, wo jahraus, jahrein immer eins mit dem andern verzankt war und an Festtagen alle mit allen, was wollten da ‹Mißverständnisse› besagen! Nahmen einander alles übel, aber trugen sich nichts nach. Er dagegen, mit seiner Überempfindlichkeit und Vergrößerungssucht, mit seinem monströsen Gedächtnis, welches nichts, aber auch gar nichts in die heilsame Vergessenheit entließ, mit seinem metaphysischen Lebensgefühl, welches das kleinste Vorkommnis mit pathetischem Nachdruck belastete, mit seiner summarischen Phantasierechnungskunst, die immer sämtlichen ankreidete, was ihm ein einzelner angetan (es ist am einfachsten so), geriet allmählich in einen Zustand wie ein von Bienen überfallener Bär. Gewiß, gern gab er zu, alles widerfahre ihm aus lauter Freundschaft; allein ihm kam vor, die Freundschaft habe hierzulande eine verwünschte Ähnlichkeit mit einem Zahnschmerz. Und unversehens waren die Bienen, von seiner Phantasie ausgiebig genährt, zu Ungetümen angewachsen, die ihn mit tückischen Blicken umlauerten. Dadurch wurde er jetzt argwöhnisch wie ein Kettenhund in der Dämmerung; überall böse Absicht witternd, links und rechts Erläuterungen heischend, Ehrenerklärungen, Entschuldigungen fordernd, wobei er mitunter ins Kindische fiel. Die Frau Pfarrer Wehrenfels hatte ihm die linke Hand gereicht: «War das mit Vorbedacht geschehen, um mich zu demütigen?», so daß er nach einer schlaflosen Nacht von ihr eine Erklärung verlangte, mit der Miene eines beleidigten Offiziers. «Mit Ihnen ist überhaupt nicht auszukommen», rief nach einem ähnlichen läppischen Stücklein Frau Doktor Richard ärgerlich. Der Vorwurf peinigte nun wieder seine gewissenhafte Seele, die er jeden Augenblick so blank in Bereitschaft halten mochte wie zur Parade am jüngsten Gericht, mit kummervollern Bedenken. «Wenn sie recht hätte? Warum auch nicht? wohl möglich. Allein wie abhelfen? ich kann mich bessern, aber nicht ändern.» Und ganz klein und demütig schrieb er an eine auswärtige Freundin: ‹Aufrichtig, ohne die mindeste Rücksicht: Ist mit mir nicht auszukommen?› Die Antwort lautete: ‹Ich lache über Ihre Frage. Kinderleicht, wie mit einem Kaninchen. Nur muß man Sie halt tüchtig lieb haben, wie sichs gehört, und es Ihnen auch von Zeit zu Zeit sagen.›

 

Das Einfältigste war, daß er jene, die er in der Idealia suchte, um deretwillen er sich all dem Freundschaftsungemach unterzog, nur ausnahmsweise zu Gesicht bekam. «Frau Direktor Wyß ist ungemein häuslich», lautete die Erklärung, «sie lebt ganz allein für ihren Mann und ihr Kind.» Er ahnte indessen wohl, daß dies nicht der einzige Grund war, sondern daß sie hauptsächlich deshalb wegblieb, um nicht mit ihm zusammenzutreffen. Das war aber so ziemlich das Schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Wenn er dann erschien und sie nicht vorfand, starrte er geistesabwesend auf den Stuhl, auf welchem sie, wenn sie gekommen wäre, vermutlich würde gesessen haben, redete kein Wort und hörte nicht, was man zu ihm sagte. Zu der Unseligkeit des Wartens erhielt er hiermit noch die Beschämung der getäuschten Erwartung. Und jedesmal, den folgenden Tag nach einer solchen Enttäuschung, irrte er verstört in der Stadt umher, wie ein Gespenst, das den Rückweg nach dem Kirchhof verloren hat.

In den Ausnahmsfällen wieder, wo Pseuda zugegen war, zahlte sie ihm die Mißhandlung ihres Bruders getreulich heim, aufrechten Hauptes, herzhaft und tapfer, ihn als Türkenkopf gebrauchend, nach welchem sie widrige Bemerkungen schleuderte, einerlei was für? denn zur Genauigkeit fühlte sie sich nicht verpflichtet. Kaum daß er den Mund auftat, fuhr sie ihm darüber. Hierbei setzte es mitunter schwere Verwundungen seines empfindlichen Ehrgefühls. «Ich liebe nicht die Schmeichler», warf sie ihm einmal herrisch zu, als ihm der Ausruf entschlüpfte: «Sind Sie schön!» Ein anderes Mal, als er den Satz bestritt, der Adel Europas wäre idiotisch und verkrüppelt, schalt sie ihn ‹Snob›. Das war nun natürlich bloß als weibliche Stimmungsmusik gemeint; er aber faßte jungtörichterweise das Wort wörtlich, und da er es wörtlich faßte, mußte ers auch ernst und schwer nehmen. Drei Nächte würgte er an dem vermeintlichen Schimpf. Eine Rute, ein Feuer, einen Skorpion legte er neben sich und prüfte seine Seele in den hintersten Winkeln, um sich nötigenfalls schonungslos zu büßen; bis er endlich die tröstliche Gewißheit gewann, daß das schimpfliche Merkmal ihm nicht gebühre. Nein, wer vor dem Bettler, während er ihm das Almosen reicht, den Hut abnimmt, wer gleich einem evangelischen Pfarrer einem überführten Dieb den Handschlag nicht verweigert, wer es wagt, am hellen Mittag eine Dirne zu grüßen, ist kein Snob; und wer zeitlebens das Kunststücklein verschmähte, die Gunst einer Frau durch Herabsetzung ihrer Feindin zu gewinnen, ist kein Schmeichler. «Also warum sagt man mirs dann!» schrie seine Empörung; und fortan saß er Pseuda mit einer Miene gegenüber, als hätte sie ihm ein Auge ausgeschlagen und er hätte ihrs verziehen.

Dem konnte die Regierungsrätin nicht länger zusehen; denn ihre friedliche Natur ertrug keine tiefspältige Zwietracht in ihrer Umgebung. Und da sie sowohl dem Viktor wie der Frau Direktor herzlich zugetan war, schloß sie nach der liebenswürdigen Unlogik des Frauenherzens, welches da meint, wenn ich A und B gern habe, so müssen sich A und B ebenfalls gern haben, auf ein bloßes ‹Mißverständnis› zwischen den beiden. Demgemäß unternahm sie jetzt die Vermittlung, indem sie dem Viktor die Tugenden der Frau Direktor und dieser wieder die Vorzüge des Viktor schilderte. Großartig, gemäß ihrer lautern und einfachen Natur, wo die Tugenden in kräftigen Zügen wie in Fresko gemalt waren, erklärte sich Frau Direktor willens, die Geschichte mit dem Kurt zu vergessen, vorausgesetzt, versteht sich, daß Viktor sich künftig der Verträglichkeit befleißige. Hingegen den Lobpreisungen über Viktor lauschte sie mit ungläubiger Miene. Und während Frau Keller sich zugunsten ihres Schützlings in eifriger Rede abmühte, sammelte sie sachte für sich selber ihre Eindrücke zu einem Charakterbilde Viktors, ungern zwar, denn es widerstrebte ihr, die Gedanken mit ihm zu beschäftigen.

Daß dieser Mensch ihr zuwider war, und zwar je länger, desto mehr (ganz abgesehen von der Beleidigung ihres Bruders), das brauchte sie sich nicht erst zu fragen, das spürte sie deutlich. Schon sein lockerer Lebenswandel, aus welchem er nicht einmal ein Hehl machte! «Doch seien wir nicht ungerecht; suchen wir ihm eine gute Seite abzugewinnen.» Allein sie mochte ihn drehen, wie sie wollte, es kam nirgends eine gute Seite zum Vorschein, und sein Eigenschaftsverzeichnis sah einem Sündenregister nicht unähnlich.

Sein unmännliches, übersanftes, fast süßliches Auftreten, ohne Mark, ohne Kraft, ohne Charakter, mit seiner leisen Stimme, seiner übertriebenen Höflichkeit, seiner geckenhaften Kleidung, seiner gezierten, fremdartigen Sprache – sein undurchsichtiges, vielgestaltiges und vieldeutiges Wesen, verschlossen und hinterhältig, wo man nie weiß, woran man mit ihm ist, jeden Tag ein anderes Gesicht («ich liebe einfache, offene, aufrichtige Menschen») – seine höhnische, frivole Gesinnung, die alles, selbst das Heiligste, Heimat und Vaterland, Moral und Religion, Poesie und Kunst mit wohlfeilen Paradoxen in den Spott zog – ohne Ernst und Tiefe, ohne Grundsätze, ohne Ideale – kein Schwung, keine Wärme, kein Gefühl (wie kann zum Beispiel jemand die Musik nicht lieben? außer er habe kein Herz!). «Gemüt jedenfalls hat er keines; an wen hat er sich denn in den drei Wochen angeschlossen? An niemand.» – Und dann seine anmaßlichen Absprechereien, seine albernen Taktlosigkeiten und Narrheiten, die mitunter an Beleidigung streiften! Hatte man doch zum Beispiel die größte Mühe gehabt, ihm abzugewöhnen, daß er sie ‹Fräulein› nannte.

Nein, ihr Widerwille war nicht ungerecht; was auch Frau Keller und ihr Mann zu seinen Gunsten sagen mochten. Auch ihr Vater würde ihn verurteilt haben; mit einem einzigen Wort hätte er ihn verdammt: «Er ist nicht klar.» Sie hörte den Ton seiner ehrwürdigen Stimme, wie er das gerufen hätte. Und da eben Frau Keller Viktors Talente rühmte: «Ja, wo sind sie denn, seine Talente?» rief sie, «bitte, zeigen Sie mir an ihm ein Talent, ein einziges! Was kann er denn? oder was weiß er? Ich sehe überall von den Talenten nur die Abwesenheit.»

«Geist wenigstens werden Sie ihm zugeben müssen», mahnte Frau Keller.

Jetzt aber riß der Frau Direktor die Geduld: «Geist?» brauste sie unwillig auf – «auch ich liebe und schätze den Geist; doch es fragt sich, was für ein Geist. Geist nach meiner Meinung fördert etwas Rechtes zutage, Wahrheit oder Schönheit, Taten oder Werke; Geist verehrt das Ehrwürdige, verneigt sich vor dem Verdienst, begeistert sich für das Hohe und Edle; Geist spricht vor allem, wo es sich um ernste Dinge handelt, ernst. Dagegen diese windigen, witzigen Sprachspielchen, ich gestehe, wenn das Geist sein soll, dann mache ich mir aus dem Geist gar nichts, nicht das mindeste; diese Art Geist hasse ich. Statt ‹Natur› zu sagen ‹Madame Pferdekraft›, was habe ich davon? ‹Die Psychologen – die schlechtesten aller Psychologen›, was soll das heißen? Wenn das Geist sein soll, so beanspruche ich als eine Auszeichnung, für dumm zu gelten. Der Kurt, nicht wahr, hat doch auch Geist, aber da sieht es anders aus!» Und da Frau Keller jetzt eifrigst einstimmte, so mündete die beabsichtigte Erhebung Viktors in einen Lobgesang auf den Kurt.

Nachdem sie dann beide an dem Kurt ihr Herz sattsam gelabt, erklärte sich Frau Direktor schließlich bereit – Verträglichkeit kann niemals schaden, und sie vergab sich ja nichts damit –, mit dem leidigen Menschen glimpflicher umzuspringen.

Wer sich dagegen bock und stock weigerte, die angebotene Versöhnung anzunehmen, war Viktor. Natürlich, er ließ ja ‹Pseuda›, also die wirkliche, leibhaftige Frau Direktor, gar nicht als zu Recht und Tat bestehend gelten. Ehe sie sich ‹bekehrt› hätte, also rückwärts wieder in die Seele der Jungfrau Theuda hineingeschlüpft wäre, gab es für ihn keine Verhandlung mit ihr.

Hier abgeschlagen, suchte die Regierungsrätin den Frieden von einer anderen Seite: den Kurt und den Viktor miteinander aussöhnen. «Es ist ja doch ganz unmöglich, wenn sich die beiden nur erst kennenlernen, und so weiter.» Das ergab dann eine jener verunglückten Harmonieaufführungen, welche die Sache noch weit schlimmer machen als vorher. Und wieder war es Viktor, der den Widerborstigen spielte. Zwar hatte er sich mit Ach und Krach zu einer Zusammenkunft herbeigelassen, enthielt sich auch – so viel vermochte er über sich – eines feindseligen Wortes; zur Entschädigung dafür behandelte er jedoch mit Blick und Gebärden den Kurt dermaßen hochfahrend, daß es der schlimmsten Beleidigung gleichkam. Diesmal aber gab es keine Entschuldigung, die beleidigende Absicht war offenkundig. «Warum nur», fragte er sich nachher selber verwundert, «warum muß ich diesen Menschen durchaus demütigen, ob er mir schon nichts zuleide getan, ob ich schon weiß, daß es unklug ist, daß ich mir durch ein artiges Benehmen die Gunst Pseudas erwerben könnte?» Er fand keine Antwort; es war ihm gekommen wie dem Hund, wenn er eine Katze sieht; läßt sich der vom Angriff zurückhalten, so verschlingt er wenigstens die Katze mit den Augen.

«Naturgeschichten!» meinte er ratlos, «unerklärliche, aber unüberwindliche Idiosynkrasie!» Er täuschte sich; es war ein Berufshandel: der Zorn des echten Propheten gegen den falschen Propheten, die Entrüstung des Erben über den Erbschleicher; mit einem Wort: ihn hetzte gegen dieses Talmi-Genie der heiße Atem der Strengen Frau.

Jetzt gab die Regierungsrätin die Vermittlung auf. Mit Pseuda aber war es nun natürlich gründlich vorbei. «Zu allem obendrein noch ein boshafter Mensch, der aus eitel Neid auf meines Bruders Genie sich an ihm zu reiben versucht.» So lautete fortan ihr Urteil über ihn; und sie sorgte dafür, daß er über ihr Urteil nicht im unklaren blieb. Wozu hat man denn sonst Seitenbemerkungen und Anspielungen?

Über diese neue ‹Ungerechtigkeit› empörte er sich dann wieder mit einer Beimischung des Erstaunens. «Was geht sie überhaupt ihr Bruder an? Der gehört ja gar nicht zur Handlung. Schon sein Dasein bedeutet einen Fehler im Stück.» Und daß nun vollends sein Verhältnis zu Pseuda Rückschritte statt Fortschritte machen wollte, ging doch gegen allen Sinn. Schon öfters hatte er sich ärgerlich gefragt: «Was zaudert sie? wann will sie endlich aufwachen? meint sie etwa, ich hätte Lust und Zeit, Jahrzehnte auf ihre Bekehrung zu warten?» Und nun sollte es gar noch rückwärts gehen?

Eine unerträgliche Vorstellung. Allein, wie dem steuern? Er wußte kein anderes Mittel als seine ‹Magie›, dieselbe Magie, die bisher so kläglich versagt hatte. Wie ging das zu, daß sie versagte? daß seine strahlenden Herrschaften nicht aus ihm hinaus in ihre Seele hinüberzündeten? Eine Vermutung: möglicherweise teilt sich der Funke bloß im Zustande der Ekstase mit, so daß also die Wirkung einzig ausgeblieben wäre, weil er bisher der Dame immer nur lahmen Mutes, mit abgespannter Kraft gegenübergetreten war? Wie er daher eines Abends nach schöpferischer Phantasiearbeit seine Seele dermaßen mit erleuchten Gestalten übervölkert fühlte, daß er meinte, es müsse davon wie ein Dunstkreis um ihn zu spüren sein, faßte er sich ein Herz und suchte sie zu Hause auf, in der heimlich bewußten Absicht, seine Magie diesmal konzentriert auf sie wirken zu lassen, gleichsam im Kurzschluß. Also eine Art psychologisches Experiment, doch beileibe kein leichtfertiges, denn es handelte sich ja um sein Heil.

Der Zufall wollte, daß sie jenen Abend eine Schulfreundin bei sich hatte, mit welcher sie, die Vergangenheit zurückspielend und ihre neubackene Mutterwürde auf ein Stündchen abschüttelnd, die harmlose Wonne ausgelassener Kindsköpfereien kostete; es tut ja so wohl, nicht wahr? einmal zur Abwechslung wieder so recht von Herzen töricht zu sein. Da hatte denn die eine ein Kinderhäubchen, die andere einen Zylinderhut aufgestülpt, und die Seligkeit verlangte, damit im Zimmer herum zu hüpfen. Für solch eine Null aber galt Viktor, daß sie ihn bei seinem Eintritt nicht einmal der Störung wert hielten, den Schabernack zu unterbrechen. Da saß er nun und durfte dem Lustspiel zusehen. Nachdem er das eine Viertelstunde getan, wußte er fortan für sein Leben, was es mit der Seelenmagie auf sich hat! Unbeachtet, wie er gekommen, entfernte er sich und schlich kleinmütig nach Hause.

Jetzt zum ersten Male kam ihm seine Zuversicht abhanden. Ein Schreck durchbebte ihn, als ob an seinem Siegeswagen die Hinterräder abgebrochen wären und die Achse mit harten Stößen auf dem Boden schleifte. Und wie er seinen Geist nach Trost ausschickte, entdeckte er vor seinem Blick einen schwarzen Vorhang, zwar noch aufgerollt, indessen mit unheimlichen Bewegungen, als könnte er einesmals ungesinnt herniederfallen, ohne ein Klingelzeichen.

Nachdem seine Magie sich als unzulänglich erwiesen, was blieb ihm dann? Angst klemmte ihn, und in seiner Angst griff er vorzeitig zu seinem letzten Trumpf, den er eigentlich für später aufgespart hatte, wenn ihr Herz bereits erschüttert worden wäre: die Bekehrung durch ihr eigenes Bildnis aus früherer, edlerer Jungfernzeit. Der Anblick ihrer einstigen jungfräulichen Erscheinung, berechnete er, müsse die Erinnerung wecken, und Theuda werde Pseuda strafen; etwa so, wie wenn ein Verbrecher, dem man unvorbereiteterweise sein Abbild aus seiner unverdorbenen Kinderzeit vorhält, plötzlich in Tränen ausbricht, seine Missetat bereut und schwört, fortan wieder ein rechtschaffener Mensch zu werden wie vormals. Er holte also mit bebender Hand jenes Theudabild (sein Heiligenbild) hervor, das ihm vor drei Jahren Frau Steinbach zugeschickt hatte, ängstlich vermeidend, es anzuschauen, weil er sich nicht die Kraft zutraute, den Ansturm der Erinnerungen zu bestehen. Mit diesem Bilde bewaffnet, wie mit einem geladenen Revolver, pilgerte er am nächsten Tage nochmals zu ihr, gefährlich, so daß er beinahe Mitleidbedenken verspürte, von einer so fürchterlichen Waffe Gebrauch zu machen. Das Bild stellte er dann, ehe sie eintrat, aufs Klavier und erwartete mit klopfendem Herzen die Wirkung.

Kaum erschien sie unter der Tür, so gewahrten ihre scharfen Augen auch schon das Bild. «Wer hat Ihnen das gegeben?» heischte sie im scharfen Ton eines Untersuchungsrichters; «woher bezieht Frau Steinbach das Recht, Ihnen meine Photographie weiterzuschenken?» Darauf zuckte sie die Achseln. «Übrigens ein schlechtes Bild; ich habe es nie gemocht.» Das war die Wirkung des Heiligenbildes.

Nun wurde seine Lage ernst; denn er hatte keinen Trumpf mehr in der Hand. Noch hielt er zwar an seiner Hoffnung fest, weil er sie eben nötig hatte, allein mit krampfhafter Faust, und der Hoffnung fehlte die vernünftige Berechtigung, da er sich gestehen mußte, daß das, was er hoffte, nunmehr unwahrscheinlich geworden war, daß etwas Unvorherzusehendes ihm von außen zu Hilfe kommen müsse, damit es sich erwähre. Darob sammelte sich in den Gründen seiner Seele Trauer. Diese kam eines Tages ins Gefühl herausgestiegen und zeugte Weh.

Es war anläßlich eines Gesprächs über ‹Tasso›. Dabei kam die Rede auf die angebliche Anziehungskraft des Genies auf die Frauen. Mit instinktiver Unfehlbarkeit, behauptete Pseuda, fühle sich das Herz des Weibes zu einem wahrhaft bedeutenden, außerordentlichen Mann hingezogen. Nachdem sie das gesagt hatte, seufzte sie sinnend vor sich hin.

«Sind Sie der Wahrheit Ihres Satzes so sicher?» wagte er einzuwenden.

«Ebenso sicher», trotzte sie, «wie der andern Tatsache, daß wir mit Gewißheit spüren, wer jedenfalls kein bedeutender, außerordentlicher Mensch ist.» Und damit ihm ja die Anzüglichkeit nicht entgehe, schenkte sie ihm einen spöttischen Nick und Blick dazu.

Da riß ihn ein tiefes Weh; dann schoß ihm die Empörung das Blut in die Stirn. «Sage, was du zu sagen hast», befahl die Stimme der Strengen Frau.

Widerstrebend gehorchte er, denn sein Schamgefühl und seine Bescheidenheit sträubten sich gewaltig; dennoch gehorchte er. Also redete er und sagte: «Wer bürgt Ihnen dafür, daß ich kein außerordentlicher, bedeutender Mensch bin?» Dieser Spruch, mit seiner zaudernden Stimme in die vier Wände des tageshellen Zimmers herausgesägt, tönte so unerträglich häßlich, daß er selber sich dessen schämte und sämtliche Anwesenden vor Verlegenheit die Augen niederschlugen, als wäre eine Unanständigkeit vorgefallen.

Der Pfarrer Wehrenfels fand das erlösende Wort: «Es könnte halt doch nicht schaden», meinte er, mit milder Mahnung gegen Viktor gewendet, «wenn einer erst den ‹Tasso› läse, ehe er in dieser Frage mitspräche.»

«Brav gegeben!» jubelten aller Augen.

In die Trauer über seine entfliehende Hoffnung mischte sich, anscheinend unabhängig von der Idealia, eine merkwürdige Allgemeinverstimmung, er wußte nicht ob körperlicher oder seelischer Art oder beides zusammen; ein Elendgefühl, dessen erste Anzeichen er schon gleich nach seiner Ankunft verspürt hatte und das ihn nie mehr gänzlich losließ. Jetzt, in seiner übrigen Niedergeschlagenheit, kam die schleichende Krankheit – denn so etwas war es wirklich – zum Ausbruch. Was mochte es nur sein? Ein abscheuliches Gefühl der Leere, eine öde, widerlich schmeckende Empfindung, als ob er eine Lehmwüste verschluckt hätte. Heimweh? Ja, etwas dergleichen; indessen ein Heimweh ohne Poesie, ohne Glanz und Farbe, eine zentrifugale Trostlosigkeit, ein Wegweh. Eines Abends, wie er aus der Idealia durch die finstern Gassen heimkehrte, nirgends Licht und Leben außer in den Wirtsstuben, aus welchen ihm Gejohl, Krakeel und Alkohol entgegenschlug, erkannte er plötzlich sein Leiden: das Elend des Großstädters, der in die Kleinstadt verschlagen worden ist. Auf einer Kirchentreppe heulte ein verlassener Hund. Den Hund begriff er; er hätte mitheulen mögen.

 

Trotz alledem war sein Verhältnis zur Idealia bisher ein freundschaftliches geblieben. Sie fanden zwar manches an ihm zu tadeln, genauer gesagt: alles, doch betrachteten sie ihn immer als einen der Ihrigen; er wieder hielt tapfer still, auf bessere Zeiten wartend, so daß er sich wie ein frommer Dulder vorkam, selber ganz gerührt über seine unglaubliche Sanftmut. Da entzündete ein einfältiges Gespräch, das sich ganz harmlos, ja vergnüglich angelassen hatte, innige Feindschaft; nicht bei den andern, denn der Feindschaft war das gemütliche Volk überhaupt nicht fähig, wohl aber bei ihm, dem Ideeneifrigen, Wahrheitsgrimmigen. Das geschah durch eine groteske Szene, die er später seine ‹Amazonenschlacht› nannte. Bei Frau Doktor Richard nämlich traf es sich, daß er als einziger Herr einem kleinen Dutzend hübscher Damen, worunter Pseuda, gegenüber saß. Durch den lieblichen Anblick aufgemuntert, begann er die Damen zu necken, wie man das darf und soll; allerlei kleine Bosheiten über die Frauen, von welchen er eine ansehnliche Zahl auf Lager hatte, zum besten gebend, aus lauter Liebe zum weiblichen Geschlecht. Nun huldigte jedoch, was er nicht wissen konnte oder in der Fremde vergessen hatte, die hiesige Frauenwelt dem Dogma vom Mysterium des germanischen Weibes, so daß sie, im Gegensatz zu dem intereuropäischen Brauch, zwar persönliche Grobheiten verziehen, dagegen den leisesten Zweifel an der heiligen Geschlechtshoheit des Weibes als einen Altargreuel verdammten. Da stak er denn bald in einem vielstimmigen Entrüstungsgeschrei (Schlachtruf der Amazonen), gegen welches er nicht aufkam. Und in der Hitze des Streites, wie er sich unterfing, das Zigarettenrauchen der Frauen zu entschuldigen, ließen sie sich hinreißen, über das qualvolle Ende einer russischen Studentin, welche vorige Woche beim Zigarettenrauchen jämmerlich verbrannte, laut jubelnd zu triumphieren. «Freut mich», «ist ihr recht geschehn», «möge es jeder, die da raucht, ähnlich ergehen.» Da schäumte in ihm das Gerechtigkeitsgefühl jählings in wildem Zorn empor; eine förmliche Prophetenwut, daß er hätte Feuer und Schwefel auf die blutdürstigen Anstandspriesterinnen herunterfluchen mögen. Er sah nämlich deutlich vor seinen Augen die arme Studentin in brennenden Kleidern herumtanzen, schreiend und sich windend, bald hoch aufspringend vor Schmerz, bald sich zu Boden duckend, und um sie herum beifallklatschend die teuflisch grinsenden Pharisäerinnen. «Mörderinnen!» schrien seine haßerfüllten Blicke. Und bei diesem Anlaß verstand er plötzlich die tödliche Feindschaft zwischen den Propheten und den Weibern.

Während jedoch seine anmutigen Gegnerinnen, sobald sie sich von der stürmischen Sitzung erhoben hatten, den heftigen Handel hurtig hinter sich schüttelten, – eine Tasse Tee darauf, ein Schinkenbrötchen darüber, und man spürt nichts mehr davon – blieb in seinem Gedächtnis das grausige Bild der Totentänzerin inmitten jubelnder Pharisäerinnen haften. Die zwölf schuldigen Damen, die in Wirklichkeit keiner Mücke etwas zuleide zu tun vermochten (mit Ausnahme der Motten), bekamen von seiner Phantasie ein Kainszeichen auf die Stirn geprägt, und die gesamte Idealia, weil ja solidarisch für jedes ihrer Mitglieder haftbar, erschien ihm fortan erinnyenfähig, in düsterer Atridenbeleuchtung. «Ob euch schon Polizei und Gericht nicht zu fassen vermögen, ob ihr noch so sittsam einhertrippelt und scheinheilig Schumannlieder schmachtet, in meinen Augen seid und bleibt ihr Verbrecherinnen: Mörderinnen!» Und er verspürte den finsteren Groll des Rächers. Denn die brennende Studentin zeigte beständig mit den verkohlten Fingern nach der Idealia, ihn mahnend wie das Gespenst den Hamlet.

Noch brodelte seine Feindschaft unter der Decke; sie grollte, aber blitzte nicht; ihn gelüstete ein Angriff, aber er wollte ihn noch nicht. Da erhielt er, wenige Tage nach der ‹Amazonenschlacht›, verspätet die ersten Briefe aus der Ferne. Was für ein anderer Atem! «Gefeiert und verehrt im Kreise der lieben Ihrigen, werden Sie hoffentlich Ihren alten fernen Freunden –.» Gefeiert und verehrt, o Ironie! die lieben Meinigen, o Jammer! «Ihre hervorragenden Eigenschaften, Ihre Kenntnisse, Ihre Herzensgüte werden nicht ermangeln –.» Was für Neuigkeiten! was für verlernte Dinge! Er und hervorragende Eigenschaften! Kenntnisse! Waren das schöne Zeiten, wo noch jemand an ihm nichts auszusetzen, sogar etwas zu loben gefunden hatte. Diese Briefe wirkten wie ein Wecker. Nämlich sein Selbstgefühl, täglich von der Vielzahl mattgesetzt, war allmählich verblödet, und unmerklich hatte ihn ein neuer, engerer Horizont umzogen, der hiesige, so daß er nachgerade anfing, für selbstverständlich hinzunehmen, was ihn zuerst aufgebracht hatte: die Voraussetzung, er wäre das fehlerhafte Pferd, an welchem jeder herumbessern dürfe. Nun wachte er auf, der enge Horizont entschwebte, sein Stolz erinnerte sich, und sein Gedanke verglich. Was für ein Gegensatz! und welch ein Hohn im Gegensatz! Draußen in der Fremde: offene Arme, warme Aufnahme, gutwillige Duldung seiner Eigentümlichkeit, Nachsicht gegen seine Fehler; hier in der Heimat: engherzige Nörgelei, Unfehlbarkeitsdünkel, Verneinung seiner gesamten Persönlichkeit. Durch diese Vergleichung wurde alle Bitterkeit aufgerührt, die er seit sechs langen Wochen geschluckt hatte, und jäh wie er war, entbrannte er in heißem Kriegszorn. Nicht mehr schweigend dulden! zum Angriff. Ich will unter euch treten, euch die Pharisäermaske herunterreißen, euer heuchlerisches Prahlwörterbuch zerzausen. Haltet still und merket auf, was ich euch sagen will, denn ich will euch zeichnen. Seid ihr bereit? Gut, dann fange ich an. Das habe ich euch zu sagen: Eure ‹Tugend›? Ein Mundstück, um den Nebenmenschen zu verlästern. Eure ‹Offenheit›? Ein angemaßtes Vorrecht, dem Nächsten Schnödigkeiten anzuwerfen, ohne selber den mindesten Tadel zu ertragen. Eure ‹Aufrichtigkeit›? Ein Erlaubnisschein, einem hinterrücks noch viel Schlimmeres nachzusenden, als was ihr einem ins Gesicht sagt. Eure ‹Wahrhaftigkeit›? Erkauft euch durch Wahrheitspedanterei in Nebensachen die Erlaubnis, im entscheidenden Falle ausnahmsweise zu lügen. Wenn ich mit solch einem Wahrheitsbold ein Geschäft abzuschließen hätte, der Halunke müßte mirs schriftlich unter vier Zeugen geben! Eure ‹Gemütlichkeit›? Egoismus in Herdenformat, schafwollene Oberhautanwärmung; wettert ein Unglück, hilft keins dem andern. Eure Familienseligkeit, eure Verwandtenliebe? Wirf ein Erbschäftlein dazwischen und sieh dann die Liebe! Eure Musik? O ihr jauchzenden Eiszapfen! Eure Bildung, eure Wonne über Kunst und Literatur? Wenn man euch zur Rechten die Tür zum Paradiese auftäte und zur Linken einen Vortrag über das Paradies ankündigte, ihr würdet sämtlich am Paradies vorbei in den Vortrag laufen. «Interessant, interessant!»

So werde ich mit euch reden; macht euch gefaßt und setzt euch bereit. Leider fiel ihm ein, daß in den Empfangszimmern der Idealianer keine Kanzeln stehen, von wo man die Leute hätte insgesamt herunterstriegeln können wie eine bußfertige Gemeinde zur Fastenzeit. «Getrost, so werde ich euch die Bescherung einzeln auftragen. Der erste, der mir eine tugendhafte Miene gleißt, bekommt die ganze Schüssel. Wem beliebts?» Und wie ein Stier senkte er die Hörner, den Feind erwartend. Allein wie er sich kampflustig umsah, war nirgends ein Feind zu erspähen. Alle standen ihm entgegen, doch keiner; ob ihn niemand sonderlich mochte, bot ihm niemand Übelwollen. Ja, wie aus absichtlicher Bosheit geschah es, daß gerade jetzt, wo er zum Kampfe gerüstet war, sich alle schienen das Wort gegeben zu haben, ihm Freundlichkeit zu bieten; womit sie ihn dann natürlich sofort entwaffneten. Die Möglichkeit, jemand auf die Hörner zu nehmen, der einem mit treuherzigem Gruß entgegenkommt! «Nun, wie geht es Ihnen? Hoffentlich haben Sie sich bei dem ‹unnatürlichen› Wetter nicht etwa auch erkältet?» Gierig, doch umsonst ersehnte er einen Feind. Der Kurt? ein wehrloser Mensch, der die Flucht ergriff, wenn er nur Viktors Hut im Vorzimmer erblickte; zudem hatte der Kurt, das war nicht zu leugnen, zwei schöne, gutblickende Augen; was kann man da tun? So wußte sein schnaubender Zorn nicht, wen aufspießen.

Einstweilen, in Ermangelung eines Feindes und eines Streitfalles, offenbarte sich sein ohnmächtiger Grimm durch eine mörderliche Laune. Sein Blick wurde drohend, seine Miene höhnisch, der Ton seiner Stimme herausfordernd, der Spruch seiner Behauptungen despotisch, jeden Einwand von vornherein verbietend. Ohnehin als ernster Wahrheitsdenker den Widerspruch angelernter Weisheit ungeduldig ertragend («ich liebe nicht, wenn man mit geliehenen Gedankengabeln gegen die Wahrheit fuchtelt»), setzte jetzt seine Stimme noch ausdrücklich die Warnung hinzu: «Untersteh dich, du Wicht, und widersprich!» Es fehlte ihm bloß die Leibwache von Söldnern, um den Gegner am Kragen packen zu lassen.

Damit erreichte er jedoch keineswegs den ersehnten Kampf; es ging ihm nur fortan jedermann aus dem Wege, wie einem unberechenbaren und unzurechnungsfähigen Tiere. Der Pfarrer, wenn über Viktor gesprochen wurde, nannte ihn jetzt einen toll gewordenen Nepomuk; der Doktor verglich ihn mit einer stigmatisierten Nonne, der Förster mit einem sonst durch und durch gutartigen, lammsanften, aber plötzlich aus unbekannter Ursache wild gewordenen Elefanten. Allerdings konnte er bisweilen einen Abend lang bescheiden und stumm dasitzen, trüb und traurig vor sich hin starrend; doch war man nie sicher, was für ein Unwetter vielleicht noch aufziehen mochte; da aber niemand die Verpflichtung hat, sich unliebsamen Überraschungen auszusetzen, ließ man ihn eben mit seiner stillen Wut allein.

Ein Beispiel: Der Doktor Richard hatte ein neues wissenschaftliches Werk gepriesen; «dieses Buch müssen Sie unbedingt lesen», schloß er, zu dem teilnahmslos dasitzenden Viktor gewendet. Schäumend sprang dieser in die Höhe: «Wie unterstehen Sie sich, mir Befehle zu erteilen?» Und den ganzen Abend ging es: «Herr Doktor, Sie müssen unbedingt diesen Bleistift in den Mund nehmen», «Herr Doktor, Sie müssen mir unbedingt mein Schnupftuch aus dem Überzieher holen», «Herr Doktor, Sie müssen jetzt unbedingt sofort nach Hause.» Nein, mit einem solchen Menschen zusammenzutreffen, dafür bedankte sich ein jeder.

Als Direktors ein kleines Nachtessen veranstalteten, zu welchem auf des Statthalters steifen Willen auch Viktor geladen werden mußte, kamen in letzter Stunde Absagen über Absagen, so daß der grausam enttäuschten Hauswirtin zuletzt als einziger Gast der Unhold von Viktor nachblieb, den sie nun betrachtete wie einen Knopf im leeren Kirchenbeutel. «Bah!» tröstete er sich, «nässer als naß kann ich doch nicht werden.» Frau Direktor Wyß aber nannte seither den Viktor klipp und klar einen ‹Greuel›.

«Mit dem Viktor ists nicht mehr auszuhalten», lautete das allgemeine Urteil. «Der Viktor ist krank», antwortete die einstimmige Entschuldigung.

Die Entschuldigung sprach richtig: der Stier stand quadrato, das Blut floß ihm über die Nase. «Mein Gott, wie sehen Sie aus», schrie Frau Steinbach entsetzt, als sie einmal um die Straßenecke auf ihn prallte. Denselben Tag noch erhielt er eine besonders dringliche Aufforderung, sie zu besuchen. Vergebens; denn er scheute seine Freundin wie die leibhaftige Vernunft.