BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Imago

 

7. Kapitel

 

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Herzeleid

 

Eines Tages jedoch wußte ers, ob es ihm wohl oder weh tat.

Er hatte sie eines Vormittags, als er Frau Doktor Richard besuchte, dort vorgetroffen, munter gestimmt und zu harmlosen Scherzen aufgelegt wie er selber; kurz, sie ‹verstanden sich› heute. So war man denn in traulichem Geplauder sitzen geblieben, länger verweilend, als beabsichtigt gewesen, wie an die Stelle gebannt durch den freundlichen Geist der Stunde.

Vom Nachhall der Übereinstimmung betört, entschlüpfte ihm unten auf der Straße, wie sie ihm zum Abschied mit gutem Blick die Hand reichte, eine kindische Frage: «Und Sie kommen also jetzt nicht mit mir?»

«Natürlich nicht», antwortete sie belustigt, «hoffentlich nicht.»

«Wohin denn sonst?»

«Diese Frage! Heim zu meinem Mann und meinem Buben, die hungrig aufs Mittagessen warten.»

«Und ich? ich bin also ausgeschlossen?»

«Ei, durchaus nicht. Kommen Sie nur mit; mein Mann wird sich freuen.»

Sie war nicht sein! Und wie eine Katze, die einen Schuß bekommen hat, floh er nach Hause. Sie war nicht sein! Und er, der gemeint hatte, seine Liebe wäre wunschlos! Als ob es menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne allermindestens seine bleibende Gegenwart zu begehren. Sie war nicht sein! Schlimmer noch: sie gehörte einem anderen, einem Fremden! Gewußt hatte er ja das freilich längst; allein heute zum ersten Male spürte er es auch, da sie ihn verließ, um zu einem andern zu ziehen. Und das nannte sie ‹heimgehen›!

Die Katze, wenn sie den Schuß hat, verkriecht sich; doch das Schrot nimmt sie mit, und die Wunde, die anfänglich mehr schreckte als schmerzte, beginnt im stillen Winkel und arbeitet. Welch ein unerhörtes Vorrecht! was für eine empörende Ungleichheit! Tag für Tag, Jahr um Jahr bis ans Ende der Ende soll der andere mit ihr wohnen dürfen, er nie. Nicht einen Sommer, nicht einen Monat, nicht einmal ausnahmsweise einen Tag. Jenem alles, ihm nichts. Und nicht bloß mit ihr wohnen, sondern – hinweg, Gedanken! Denn weil der dort ohnehin zuviel hat, schenkt sie ihm zu ihrer Gegenwart noch Liebe und Freundschaft obendrein. Ist jener traurig, so tröstet sie ihn; ist er krank, sie härmt sich um ihn; stirbt er, ihre Sehnsucht folgt ihm übers Grab; gibt es eine Auferstehung, ihr erwachender Blick sucht jenen. Was hat denn der Anmaßliche für einen einzigartigen Wert voraus, daß ihm solch ein schwindelhafter Preis zuteil wird? Ist er etwa nicht auch ein Mensch? oder besitzt er für sich allein mehr Vorzüge und Verdienste als die übrige Menschheit zusammen?

Und keine Hoffnung! Nichts zu ändern! weder zu erklügeln noch zu ertrotzen; rundum nirgends eine Möglichkeit. Im Gegenteil: jede vorüberziehende Stunde, so bei Tag als Nacht, so bei Regen wie Sonnenschein, welches auch sonst ihr Inhalt sei, eines tut ihrer jede sicherlich, die eine wie die andere: sie gräbt die Kluft zwischen ihm und ihr tiefer, schürzt das Band mit jenem enger. Die Angewöhnung, das Verständnis, die gemeinschaftlichen Erinnerungen, die gegenseitigem Dankverpflichtungen, das nimmt ja doch nicht ab; im Gegenteil, das mehrt sich, das häuft sich. Das Kind, das beide vereint, wird je länger, desto mehr ihre Sorge und Teilnahme beanspruchen, mithin die Eltern noch inniger befreunden; es ist ja auch nicht gesagt, daß es das einzige bleibe, es kann möglicherweise ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erhalten; warum nicht? wer wills ihnen wehren?

Ach, hatte er sie unterschätzt, die Macht der Ehe, als er sie für eine Art Statthalterei betrachtete, meinend, es ließe sich billig teilen: jenem, dem Statthalter, der Leib und ihm die Seele! So scharf er auch sah, eines hatte er bei seiner Unerfahrenheit doch übersehen, die Hauptsache: das Mysterium des Fleisches, die tierische Gewalt des Naturtriebes, der die Mutter nötigt, Himmel und Erde um eine Kraftbrühe für ihr Kind herzugeben, der die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne angehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat, verurteilt, diesen einen zu lieben, auch wenn sie ihn verachtete. Puppe, Bebé und Papa, diese drei Worte erschöpfen den Lebensinhalt des Weibes. O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert, ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt! Herzhaft! lache ihres Abscheus, schleppe sie zum Altar; denn die Ehe ist stärker als der Haß, dauerhafter als die Liebe.

Eine Jungfrau wankt mit dem Verhaßten zur Kirche wie zum Schlachthof, leichenfahl, den Tod im Herzen, das einem andern gehört; frag nach zwanzig Jahren nach: «Kinder, freut euch, der Papa kommt morgen heim.» «Wenn nur dem Papa kein Unglück zustößt!» Der andere dagegen, der einst Heißgeliebte, wenn der stirbt, so erhält er bei der Todesnachricht ein kleines Wehmütchen, wenns hoch kommt ein mühsam erquetschtes Tränelein; nachher heißt es wieder Papa. Das ist die Macht der Ehe.

Nein, keine Hoffnung. Einen Naturtrieb bekämpfen? Narrheit. Gegen die Weltgesetze streiten? Wahnsinn. Die Wahrheit sprach zu ihm: «verdammt auf ewig», und sein Gram gestand: «so ist es.»

Da ward er inne, daß, wer einen Menschen zu sei nem Gott macht, sich einen Fluch pflanzt. Sind sie zu beneiden, die einen überweltlichen Gott haben, einerlei, was für einen; wäre er ein Zornbold wie Jehova, ein Ungeheuer wie Moloch; denn kein Gott keiner Religion ist unerbittlich, keiner verstößt in die Hölle, wer ihm liebend naht, keiner spricht zum Verzweifelnden: «ich kenne dich nicht.» Und wäre selbst einer der Himmlischen fühllos wie Stein, eines ist er jedenfalls nicht: er ist nicht kleinlich. Man stößt auf keinen Direktor Wyß zwischen sich und ihm, man hängt nicht von der Gewogenheit eines Kurt ab, die Madonna der Christen gebärt kein Rudel von Buben, um deretwillen sie Himmel und Erde vergäße. Einen Menschen anbeten: nicht viel gescheiter als einen Wurm anbeten. Mit hellem Geiste sah er das ein; allein Einsicht heilt keine Entzündung. Sieh ein, daß das Gift, das dein Blut zu Eiter zersetzt, nur ein verächtliches Körnlein Schmutz ist, der Brand frißt trotzdem weiter.

Eben darum aber, weil seine Liebe Religion war, weil ihm in Theuda-Imagos symbolischem Antlitz alles Leben der Welt mitklang wie im Mutterangesicht die Heimat, verspürte er sein Leiden am schmerzlichsten in den edelsten Teilen der Seele. All die Andeutungen und Bedeutungen, all die Lichter, Gesichter und Gedichter, die da über die Brücke gewandelt kommen, welche die Wirklichkeit mit der Geisteswelt verbindet, langten wund an, mit einem blutigen Stich; sein gesamtes Lebensgefühl erkrankte zu einem sehnsüchtigen Heimweh; Heimweh nach ihr, Heimweh nach der gemeinsamen Heimat aller Geschöpfe, Heimweh nach sich selber. Denn er war ja sie; aber – o Höllenwunder der Unmöglichkeit! – sie war nicht er.

Und da er ein Mensch von Geist war, gezwungen, wenn er gebissen wurde, wissen zu wollen, was für eine Schlange ihn biß, mochte er sich mit seiner Vernunft über das Wunder der Lieblosigkeit unterhalten; zwecklos, wohl wissend, daß ihm die Erkenntnis nichts nützen würde, nur weil er als Denker nicht anders konnte als denken. Herzeleid aber stellt nicht das Denken still, im Gegenteil, es nötigt die Gedanken zu nagen. «Bist du wach? hast du Zeit? kannst du mir das Rätsel lösen, wie es seelenmöglich ist, daß ein Mensch, dem man das höchste Gut, den einzigen Trost auf Erden, also die Liebe schenkt, einem nicht mit Gegenliebe vergilt?»

Die Vernunft antwortete: «Sammle und vergleiche: Wenn du den lieben Gott liebst, liebt er dich wieder?» «Ohne Zweifel.» «Wenn du den Papst liebst, liebt er dich wieder?» «Mäßig.» «Wenn du die Herzogin von Aragonien und Kastilien liebst, liebt sie dich wieder?» «Wird ihr schwerlich einfallen.» «Wenn du eine Schnecke liebst, liebt sie dich wieder?» «Könnte sie schon gar nicht.» «Nun also, da hast dus. Je tiefer hinunter mit der Seele, desto weniger Liebe. Liebe bedingt Seelenfülle, Lieblosigkeit verrät Stumpfheit. Punktum.»

«Und das alles klar zu wissen, haarscharf einzusehen, es ist nur dein eigenes Phantasie-Ei, das dir aus dem Gläslein dieses kleinen Weibleins entgegenguckt, und trotzdem verdammt zu sein, dieses kleine Weiblein, das du weit überschaust, überfühlst und überdenkst, wie den Heiligen Gral zu begehren, nach ihr zu lechzen wie ein Verdurstender nach dem rettenden Quell! Wie erklärst du das?»

«Torheit, Torheit, mein Lieber!» lachte die Vernunft. «Doch üb du nur ruhig deine Torheiten weiter; das verspricht mir, daß dereinst noch etwas Vernünftiges aus dir wird.»

So unterhielt er sich mit der Vernunft über seinen Fall. Deswegen wurde ihm nicht um den geringsten Grad besser; im Gegenteil. Es ging ihm wie mit den Zahnschmerzen: je mehr man daran denkt, desto ärger wird es; und wenn man versucht, nicht daran zu denken, so zwingt einen der Schmerz, an den Schmerz zu denken. Wohin sollte er aber auch seine Gedanken retten, daß sie nicht den Schmerz vorfänden? Ob er jenseits des gestirnten Himmels in die Religion, ob er in den strahlenden Schöpfungsäther der Poesie flüchtete, immer stieß er auf seine Verdammnis, immer begegnete er diesem einen unseligen lieben Menschengesicht, das ihn überall hin verfolgte, um ihn von überall her mit seinem schönen kalten Blick zu vernichten.

O ihr Gedankenlosen, die ihr über das Leid unerwiderter Liebe lächelt! Nehmt, eine Mutter sähe ihr verstorbenes Kind, ihr einziges, aus dem Grabe steigen, lieblich und schön, von Himmelsglanz verklärt; sehnsuchtschreiend stürzte sie ihm entgegen; das Kind jedoch kehrte sich von ihr ab, fremden Blickes, mit verächtlichem Lippenrümpfen: ‹Was will mir die dort?› Würdet ihr da lächeln? Genau so war ihm zumute; das teuerste Stück seiner selbst aus ihm herausgerissen, gesondert umherwandelnd und ihn verleugnend. Und das tat so grausam, so unleidlich weh, daß er manchmal meinte, es dürfe einfach nicht sein, weil er es nicht ertragen könne.

Allein er war kein Schwächling, vielmehr standhaft und zäh. Darum rief er seinen Verstand zu Hilfe. «Da! so stehts. Leben muß ich; ertragen kann ichs nicht. Also was?»

Ihm antwortete der Verstand: «Komm, ich will dir etwas zeigen.» Und führte ihn vors Schlachthaus. «So, jetzt, denk ich, kannst dus ertragen.» Hierauf, nachdem sie wieder zu Hause angelangt waren, fuhr er fort: «Siehst du, die ganze Kunst besteht darin, nichts Unheilvolles zu tun; tu lieber gar nichts. Beiß die Zähne zusammen, oder schrei meinetwegen, wenns nicht anders geht; nur schrei nicht mit den Händen. Die Stunde besiegen ist alles; wer die Stunde besiegt, besiegt den Tag; wer den Tag besiegt, besiegt das Jahr; nur immer gerade jetzt nichts Verderbliches begehen. Die Stunde aber besiegt ein Mann – und du bist ja ein Mann – vorausgesetzt, daß er gesund ist – und du bist ja gesund – mit Arbeit. Darum laß die Schmerzen machen, das ist ihre Sache, sie könnens allein; du arbeite; du weißt, was.»

Er wußte, was. Und da die Arbeit im Dienste seiner Strengen Herrin geschah, die da eine mächtige Göttin ist, flohen vor ihrem Odem die Quälgeister hinter den Vorhang, von wo sie allerdings dann und wann heimtückisch hervorschossen, um ihm einen raschen Stich zu versetzen, doch sich ebenso schnell wieder versteckten.

Freilich, selbst die schärfste Arbeit bringt Pausen; oder sie hört auch einfach auf, abends in müdem Zustande. In solchen Stunden kamen die Überfälle zahlreicher und gefährlicher. Auf der Bibliothek standen, ordentlich gereiht, sämtliche Jahrgänge einer Monatsschrift; während er sorglos darin blätterte, schreckte er plötzlich zurück, wie von einer Schlange gebissen: einer der Bände trug nämlich die Jahreszahl der Parusie; so daß er künftig jeder Zeitschriftensammlung in weitem Bogen auswich.

Er kam an einer Frauenkleiderhandlung vorüber. Im Schaufenster prangte ein weißer Rock mit grünen Knöpfen. O sengender Sonnenstich der Erinnerung! Sie hatte in der Parusie einen weißen Rock und einen weißen Gürtel, mit grünen und goldenen Fäden gewirkt.

Und ähnliches. Unter den scheinbar harmlosesten Gegenständen lauerten Skorpione. Dieser Kamm scheint doch unschuldig, nicht wahr? und dieses Papiermesser auch? Eitel Tücke und Gleisnerei! denn diesen Kamm hatte er sich zwei Wochen vor der Parusie gekauft! das Papiermesser das Jahr darauf während der ‹fliegenden Hochzeit›. Und jedesmal schrie das getroffene Herz auf: «Es kann, es darf ja nicht sein; es ist ja ganz und gar unmöglich.» «Tatata!» mahnte der Verstand, «keine Gaukeleien! Es ist; folglich wird es wohl möglich sein.» Und schleunig duckte er die winselnde Hoffnung.

Immerhin, von Stunde zu Stunde tapfer kämpfend, kam er über die Tage leidlich hinweg; meistens siegreich, zuweilen unentschieden, niemals geschlagen.

Aber die Nächte! Wo im Traum das tagsüber unterdrückte, doch keineswegs vernichtete Heimweh seiner Seele, nun nicht mehr von Arbeit, Wille und Verstand gebändigt, freiledig emporstieg, wie die Dampfsäule aus einem siedenden Kessel, nachdem der Deckel abgehoben worden! Keine Nacht ohne Traum, und kein Traum ohne sie. Und unfehlbar vermählte ihn der Traum mit ihr, behauptend: «Ich bin die Wahrheit, das Gegenteil ist Trug und Täuschung.» Und nicht vereinzelt dichteten die Träume, jeder für sich ein besonderes Ganzes darstellend, heute dieser Traum, morgen ein anderer; nein, der Traum der jeweiligen Nacht bezog sich rückwärts auf die Träume der vorangegangenen Nächte wie eine Romanerzählung auf die früheren Kapitel; seine Träume bildeten Kette. So daß er ein förmliches Doppelleben führte: nachts, herzlich mit ihr vereint, von ihrem Lächeln beleuchtet, von ihrem Liebesblick besonnt, mit ihr plaudernd und kosend, ein Leben voll süßer, goldener Seligkeit; tags ein hoffnungsloses Schmerzensdasein in der Trübsal uferloser Verdammnis. Oh, wozu erwachen! Daß doch niemals die Enttäuschung einsetzte! daß der wonnige Traumwahn auch den Tag tröstete!

«Wenns nur das ist», meinte die Phantasie, «dem ist bald abgeholfen.» Und eins, zwei, ohne seine Einwilligung abzuwarten, hatte sie den Guckkasten aufgerichtet und die Vorstellung begonnen: Unmöglichkeiten, auf Lügenfüßen stehend, immerhin denkbare Unmöglichkeiten, wofern man von den Lügenfüßen absah.

Eine demütige Greisin hielt auf seiner Schwelle; dahin die Schönheit, zerstoben die Freunde und Anbeter, das erloschene Auge um ein Liebesalmosen bettelnd. «Auch du, natürlich», klagte ihr Blick, «nun ich alt und häßlich bin, kennst mich nicht mehr.»

Er aber rief. «Theuda, meine Braut, umsonst, daß du dich bemühst, die ewige Jugend deiner Schönheit unter der entliehenen Maske des Alters zu verhehlen; denn sie verrät der Glanz der Parusie, der dich umstrahlt. Doch warum stehst du demütigen Blickes auf der Schwelle? Sieh, ich beuge vor deiner Hoheit ehrfürchtig die Knie.»

Ihm antwortete Theuda: «O Wunder der Gnade! Heute, da ich alt und häßlich bin, wird mir aus einem einzigen Herzen der Liebe mehr, als mir von allen Menschen zusammen in meinem ganzen Leben geworden.»

«Gelt?» lachte die Phantasie, «das gefällt dir?» Und fuhr fort zu spielen.

Im Krankenbett sah er sie liegen, von Beulen entstellt, von den Nächsten verlassen, ein Ekel den Menschen. Er aber nahte ihr andächtig wie einem Altar.

«Das ist hingegen kein schönes Bild», tadelte er die Phantasie.

«Soll auch keines sein, denn das ist ja eben das Schöne daran, daß deine Liebe sogar den Ekel übermag. Doch wart, ich habe noch etwas.» Und fuhr fort zu spielen.

Eine Lasterhafte schaute er, von der Welt verurteilt, verstoßen, verspien; dem Trunk ergeben, im Rausch auf dem Boden sich wälzend.

«Pfui!» schalt Viktor entrüstet, «pack auf! was für eine sträfliche, hirntolle Vorstellung! Sie, die Züchtige, die Reine, die Hohe!»

«Aber wenn?» zischelte die Phantasie, «wenn? Sag ehrlich, was würdest du in diesem Falle tun? Würdest du, würdest du sie mit dem Fuß fortstoßen? würdest du das? Du schweigst? Schon gut, ich weiß jetzt genug. Übrigens hab ich auch allerlei in anderm Stil. Vielleicht ein durchsichtiges Kartenspiel gefällig? Nicht? Schade, da hast du unrecht, es sind wunderhübsche Sächelein darunter. Dann also vermutlich lieber etwas Ernstes? Ja? im Augenblick.»

Und zeigte sie ihm als Witwe im Trauerkleide.

Da warf er ihr in jähem Zorn den Guckkasten über den Kopf Mußte er sie indessen wahnwitzig lieben, daß seine Phantasie sich getraute, ihm solche Unbilder zu bieten!

Die Erinnerung, daß es einst seiner Willkür anheimgestellt gewesen, statt der gegenwärtigen Hölle den Himmel einzutauschen, daß sechs lange Monate das Glück geduldig vor seiner Tür auf- und abwandelte, seiner Erlaubnis gewärtig, die Erwägung, daß er nicht allein ihre huldreiche Gewogenheit, die ihm jetzt als der unerreichbare Gipfel der Gnade erschien, sondern in atemstickendem Reichtum ihre gesamte Person, Leib, Liebe und Leben mit einem einzigen Wort hätte erwerben können, prägte seine Qual mit tragischem Stempel. Hart an der Reue streifte die Erinnerung vorbei, berührte sie jedoch nicht, auch nicht einen Augenblick. Wohl ihm! denn bereute er, so rettete ihn nichts vor Verzweiflung. Nein, er bereute nicht, ob ihm schon die Sehnsucht das Herz wie mit Zangen zerrte. Deshalb fühlte er sich auch beim kläglichsten Geschrei seines Herzens gar nicht einmal unglücklich. Es glänzte etwas wie Glorie um sein Weh; ähnlich der Glorie des Märtyrers, dessen Mund zwar während der Folter jammert, dessen Glieder sich gegen den Henker sträuben, der aber selber zur nämlichen Zeit freudig seinen Gott bekennt. Darob erhöhte sich sein Gefühl zur Passion; seine Seele schritt auf dem Kothurn, sein Geist wogte rhythmisch; der Blick seines Auges, dem der tragische Schmerz jede Träne verweigerte, ward ekstatisch, in solchem Grade, daß eines Tages ein Augenarzt ihn auf offener Straße anhielt, mit dem Gesuch, die erstaunliche Merkwürdigkeit beglaubigen zu dürfen.

Allein, wo Ekstase gedeiht, wächst auch die Anfechtung. Auch ihm widerfuhr sie, die Stunde der Anfechtung.

Direktors feierten in diesen Tagen den Geburtstag ihres Bübleins, des kleinen Kurt; und Viktor, ob er schon sonst zu keinem Menschen mehr zu bewegen war («ein komischer Mensch! kaum, daß man gemeint hatte, es wäre alles gut, spielt er wieder den Einsiedler!»), erachtete es für richtig, bei diesem Anlaß nicht zu fehlen; aus Geschmacksgründen. Irgendein allegorisches Anspiel, vom andern Kurt, dem Ohm und Paten des Geburtstagkindes, ersonnen (dieser geniale Mensch nämlich schüttelte nur so aus dem Ärmel, wozu andere Wochen und Monate brauchen), wurde aufgeführt, worin der Mutter, also der Frau Direktor, die Rolle einer Fee zukam, so daß sie ihre nichtsnutzigen Verslein im weißen Gewande sprach, mit zwei mächtigen Flügeln behaftet, die schwarzen Locken aufgelöst, auf dem Scheitel ein flittergoldnes Krönlein. Schon während der Aufführung, angesichts der hehren Erscheinung im Himmelsgewande, nahm sich sein Herz meuterische Bemerkungen heraus: «Da sieh, du Tropf, du Ehefeigling, was du verscherzt hast.» Wie dann nach Beendigung des Stückes Theuda im Feenkleide verbleiben mochte, also daß Göttin und Menschenweib, Rolle und Wirklichkeit, durcheinanderspielten und das Kind herumgereicht wurde und weihevoller Friede von der Stirn der beglückten Mutter leuchtete, Ort und Stunde und alle Anwesenheit mit Huld und Güte segnend, da begann sein Herz einen solchen unsinnigen, unbändigen Aufruhr wie nie zuvor in seinem ganzen Leben:

«Und wenn alle Götter des Himmels und alle Religionen der Erde und sämtliche Pflichten, Erhabenheiten und Weisheiten vereint auf mich einschrien, ich behaupte ihnen ins Gesicht: es gibt im Weltall keinen Wert, der den Besitz der Geliebten aufwöge, und keinen Lohn im Himmel und auf Erden, der für den Verlust dieses Kleinods entschädigte. Wer diesen Preis hätte haben können und hat ihn verschmäht, und wäre es auf Geheiß des allmächtigen Gottes in Person, der ist kein Märtyrer, kein Held, sondern er ist einfach ein Narr. Recht und billig, daß dich der Fluch der Verdammnis zermalmt.»

Da eilte er heim auf sein Zimmer und rief in seiner Not seine Strenge Frau an, nicht anders als wie der Gläubige seinen Gott.

«Hilfe!» stöhnte er, «ich vermags nicht mehr allein. Die Freundin, die du mir verlobtest, deine Tochter, die du mir vermähltest, mit feierlichem Spruch uns ewiglich verbindend, Imago, meine eheliche Braut und Gattin, sie kennt mich nicht, Imago sieht an mir vorbei. O mißverstehe nicht den Schrei meines gefolterten Herzens. Keine Reue befleckt den zuckenden Wunsch meiner blutenden Seele. Flösse die Zeit rückwärts, zum zweiten Mal mir die Entscheidung vor die Füße spielend, ich würde zum zweiten Male entsagen; ja, das würde ich. Auch will ich ja gerne leiden und entbehren, wehmütig, doch gläubig und freudig. Aber warum denn so gräßlich, warum so unmenschlich? Ist es denn ein so unerhörtes Verbrechen, groß zu sein, daß ich dafür über Menschenkraft bestraft werde? Wenn es sein darf, so mildere den Spruch meiner Verdammnis. Öffne deiner Tochter Augen, daß sie mich nicht ganz und gar verleugne; sprich ihr zu, daß sie mich ihren edlen Freund nenne, daß sie mir wenigstens einen Blick der Erinnerung, einen einzigen, gewähre. Leg ihr das ans Herz, befiehl ihr das. Darf es nicht sein, so leihe mir deinen Beistand, damit ich nicht unterliege.»

Da war ihm, als schwebte der Schatten der Strengen Frau durch das Zimmer. Gestärkt stand er auf und litt, was zu leiden war.