BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carl Spitteler

1845 - 1924

 

Imago

 

8. Kapitel

 

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Konvulsionen und Illusionen

 

Inzwischen waren die Winterfeiertage angekommen, Weihnacht mit ihrem schnellen Sprung, hernach der langsam daherkriechende Silvester. Selbstverständlich hielt er sich überall fern; denn ohnehin kein Freund von Familienrührseligkeiten und Kalenderhumanitäten («muhen das ganze Jahr fühllos aneinander vorbei und bimmeln in der Neujahrsnacht Bruder Lieblich»), brauchte er gegenwärtig wahrlich keine Wachskerzen, um zu wissen, was Wehmut ist.

Dagegen die üblichen Höflichkeitsbesuche am Neujahrsmorgen durfte er anständigerweise nicht unterlassen. So machte er denn geziemlich die Runde, wobei er die schwierigsten Gänge, den zu Frau Steinbach und den zu Direktors, ans Ende schob.

Nicht wohl war ihm zumut, wie er in dem trauten Gartenhaus der Frau Steinbach die Treppe hinaufstieg. «Ohne Anzüglichkeiten», mußte er sich sagen, «oder zum mindesten vorwurfsvolle Mienen werde ich schwerlich abkommen.» Allein nichts von alledem; mit unbefangener Freundlichkeit, als wäre er gestern hier gewesen und nicht ein Vierteljahr weggeblieben, empfing sie ihn, höchstens etwas zurückhaltender als früher. «Ich habe in der Silvesternacht», berichtete sie lächelnd, «Ihre Zukunft ausgekundschaftet; Sie wissen, mit geschmolzenem Blei im Wasser. Aberglaube, zugegeben; immerhin, wenn das Orakel günstig lautet, so mag man ihm gerne Glauben schenken. Und was das Orakel mir von Ihnen erzählt hat, das glaube ich wirklich. Nämlich Sie werden einmal eine liebe, treue Frau bekommen, anspruchslos und selbstlos, jung und anmutig, die Ihnen von ganzem Herzen zugetan ist und Ihnen das Leben zur Freude macht; dazu ein paar liebe, gute, schnupperige, kußliche Kinder – kurz, Sie werden glücklich sein.»

«Ich? glücklich sein?» wiederholte er, tieftraurig.

«Ja, glücklich. Und zwar so glücklich, wie ein Mensch auf Erden nur sein kann, ob Sie es schon vielleicht in diesem Augenblick nicht glauben; ich fühle es, ich weiß es, Sie werden glücklich sein, denn Sie haben das Talent zum Glück. Und wissen Sie, was ich tue? Ich liebe Ihre künftige Frau schon jetzt, ohne sie zu kennen. Ob ichs erlebe, kann ich nicht wissen; ich hoffe es, es wäre meine schönste Stunde. Sollte es nicht sein dürfen, so grüßen Sie mir Ihre liebe Braut herzlich von mir, und sagen Sie ihr, daß ich sie innig segne für alles Zarte und Gute, das sie Ihnen antun wird.»

«Seine Frau, seine Braut», was für Worte, was für Vorstellungen! Und mit Traurigkeit getränkt, zog er verstört weiter, zu Direktors.

Er traf sie im Empfangszimmer, das Kind auf dem Schoß, freudig erregt von Festtagen, Geschenken und Besuchern. Treuherzig, ein bißchen nachlässig, bot sie ihm die Hand mit dem üblichen Neujahrsgruß: «Ich wünsche Ihnen recht viel Glück und Gesundheit zum neuen Jahr und alles Gute.»

Das sagte sie! sie wünschte ihm Glück! Von einem jähen Schwall von trostlosem Weh überwältigt, verließ er ohne Gegengruß noch Abschied das Zimmer («entschieden ein komischer Mensch, der Viktor»), stürzte durch die Seitengassen, hernach durch die Vorstadt – o die unendliche Stadt, die zahllosen Menschen, die neugierigen Blicke! – dem rettenden Walde zu. Doch er gelangte nicht bis zum Walde; denn kaum daß er von ferne den Saum der gastlichen Tannen gewahrte, riß es ihn zu Boden, mitten in den Schnee, eine Beute unsinniger Schluchzer. Da galt keine Überwindung, keine Scham; so wie einer, der Arsenik im Leibe hat, im dichtesten Menschengewühl hinstürzt und sich in Krämpfen windet, ob er schon weiß, das schickt sich nicht, so mußte er die Schluchzer geschehen lassen. «Ich bin nämlich auch noch da», erwiderte sein Körper. «Dem ist jemand gestorben», hörte er eine vorübergehende Bauernfrau mitleidig sagen.

Seit diesem Augenblick war es, als ob ein Strom einen Dammbruch entdeckt hätte und schösse fortan seine Wogen durch die Bresche. Sein ganzes Sehnsuchtweh flutete ihm nunmehr durch die Augen, er lebte nur noch in Tränen oder in Furcht vor den Tränen. Denn in jähen Anfällen übernahm ihn der Tränenkrampf, ohne jede Warnung; und der mindeste Reiz genügte ihm: ein Glockenklang, ein Ton Musik, der Anblick eines Weges, den sie einmal geschritten, der Zug einer Wolke, welche von Kindheit und Heimat erzählte; ähnlich wie das bloße Summen einer Fliege hinreicht, um den Starrkrampf des Tetanuskranken auszulösen. Oh, wo ist eine Stelle, dahin ein Mensch flüchtet, um unbeobachtet und ungetröstet zu weinen? Warum umfriedigt der Staat nicht heilige Stätten für die Traurigen, unnahbar der Neugier? Man besitzt so viele unnütze Rechte, warum nicht das Recht auf Tränen?

In den Pausen der Anfälle fühlte er sich weich gemütet wie ein Genesender; nach guten Menschengesichtern verlangend, aber nach fremden, die ihm noch keinerlei Leid zugefügt; dankbar für einen Gruß, für ein gleichgültiges Wort, dankbar schon dafür, daß jemand an ihm vorüberzog, ohne ihm wehe zu tun. Deshalb mied er seine Bekannten, suchte dagegen Versammlungen, also zum Beispiel Wirtshäuser auf, denn der Anblick volkstümlicher Bewegung, die seiner nicht achtete, das Geräusch menschlicher Reden, die ihm nicht galten, tat ihm wohl.

Freilich verrechnete er sich dabei etwas, indem er dort, wo er Hinterdörfler suchte, auf einen Bekannten stieß. So tauchte einmal in der Bierhalle Dreher plötzlich der Statthalter vor ihm auf, nötigte ihn neben sich und stellte ihm einen fremden Herrn vor, «Doktor Eduard Weber, Ethiker». Kaum hatte der Statthalter das Wort Ethiker ausgesprochen, so geschah dem Viktor eine neue Nervenüberraschung: ein Lachkrampf. So gewaltsam, so unwiderstehlich überfiel er ihn, daß er vor Lachen laut aufjauchzen mußte, mitten unter den vielen Leuten. Und statt sich zu beruhigen, kamen die Stöße immer heftiger. «Und Eduard heißt er auch noch.» «Und hast du das harmonische Weltbesänftigungsgesicht gesehen?» Es blieb ihm nichts übrig, als lachschreiend auf die Straße zu fliehen, während auf seiner Spur alle Welt, vom Gelächter angesteckt, fröhliche Gesichter zog. «Der ist aber lustig.» Und als er am nächsten Tage sich reumütig aufmachte, um dem Herrn sein aufrichtiges Bedauern auszusprechen, und bereits die Klingel ziehen wollte, geschah ihm, nur weil ihm auf dem Namensschild wieder das unglückliche Wort ‹Ethiker› entgegenjauchzte, der Anfall von neuem. Dreimal flüchtete er, dreimal zwang er sich ernst und entschlossen zurück; es half nichts, das fatale Zauberwort ließ ihn nicht über die Schwelle.

Und einmal angefangen, ging es ihm mit den Lachkrämpfen wie mit den Tränenkrämpfen; sie hatten den Weg gefunden, darum benutzten sie ihn. Und auch ihnen war der nichtsnutzigste Vorwand recht. Er sah ein Huhn Wasser trinken; dabei schob dieses die untern Augenlider hinauf und warf den Kopf zurück; Ergebnis: ein laut aufstöhnendes Gelächter. Er las in einem Buche, an einem Wirtstische wären drei Müller gewesen; darüber jubelndes Lachschluchzen; man denke doch: drei weiße Müller nebeneinander!

«Ach Konrad, wie springst du mit deinem Viktor um!»

«Ja, aber was hast du mir auch seit vier Monaten alles zugemutet!»

 

Eines Morgens, es war etwas vor elf Uhr, schoß ein leuchtender Gedanke vor seinen Augen auf, steil wie eine Rakete. «Da doch Güte deinem Herzen so wohl tut, warum begibst du dich nicht einfach zu ihr, dem Quell der Güte? Der Arzt, der dir wehe getan hat, wird dich heilen. – Tu nicht so ungebärdig! Was besorgst du? wen fürchtest du? Sie? Von guten Menschen geschieht einem nichts Böses. Dich? Ach Gott, du bist jetzt so gering, so anspruchslos geworden! Versuchs; es ist doch kein so gefährliches Wagnis, einer Dame, mit welcher man befreundet ist, einen Besuch abzustatten; du bist ja schon oft dort gewesen, ohne daß sie dir den Kopf abgebissen hat. Und warum nicht ebensogut heute als morgen? Oder hast du einen Grund, morgen vorzuziehen?»

«Das nicht. Heute oder morgen, das käme ganz auf das gleiche heraus.»

«Wenn du jedoch heute gehen willst, so darfst du nicht säumen; es ist gerade die richtige Besuchszeit.»

«Du bist ein gescheiter Gedanke. Nur laß mich zuerst gründlich nachsehen, ob auch alles inwendig im Gleichgewicht ist, damit mir nicht am Ende wieder der Konrad mit seinen Nervenkünsten eine Überraschung spielt.»

Er prüfte sich. Rundum Ruhe, im Blut und in den Nerven; nirgends etwas Verdächtiges. Also ging er ohne weiteres zu ihr.

Sie saß allein im Zimmer, am Nähtisch. Kaum erblickte er sie, so funkelten alle Gegenstände wie durch Kristall geschaut, hierauf begannen sie zu schwanken und sich zu drehen, immer schneller; dann wußte er nichts mehr, als daß er zu ihren Füßen kniete, in einer Sturmflut von Tränen, ungestüm ihre Hand küssend. Darüber erschrocken, schnellte er tief beschämt empor, im Begriff davonzustürzen.

Sie aber erfaßte mit barmherziger Güte seinen Arm: «Wohin eilen Sie? was wollen Sie beginnen?»

Er stöhnte: «Weiß ichs? Mich irgendwo in einer Waldhöhle zutode schämen.»

«So dürfen Sie nicht fort; kommen Sie, ich will Ihnen die Augen waschen.» Und führte ihn ins Schlafzimmer. «Ich wußte von nichts», besänftigte ihre Stimme, «ich hatte keine Ahnung, wenigstens nicht, daß es so tief gehe. Habe ich mir vielleicht etwas zuschulden kommen lassen?»

Er schüttelte den Kopf, der Rede nicht mächtig, und ließ die Augenwaschung willenlos wie eine Operation über sich ergehen. «Welche Schmach!» stöhnte er von Zeit zu Zeit, «welche Schande!»

«Es ist doch keine Schande, jemand lieb zu haben!» tröstete sie, «man kann ja doch nichts dafür. Oder bin ich denn so schlecht, daß es eine Schande wäre, wenn man mich lieb hat?»

Da biß er sich die Lippen bis aufs Blut.

Darüber war das Kind in der Wiege aufgewacht, richtete sich auf und schaute neugierig zu. Die Mutter holte es aus dem Bette. «Siehst du», sagte sie zu ihm, «da steht ein armer Mann, dem etwas furchtbar wehe tut. Allein niemand hat ihm etwas zuleid getan, niemand will ihm etwas Böses; er tut sich nur selber weh, weil er sich in seiner Phantasie Dinge vormalt, welche nicht da sind. – Gelt, Sie versprechen mir, daß Sie nichts Übereiltes begehen?» mahnte sie zum Abschied. «Falls Sie mich wirklich gern haben, so müssen Sie mir das versprechen; ich will es, ich verlange es. Kommen Sie lieber wieder zu uns, wir wollen Sie heilen; wenn Sie mich genauer kennenlernen, werden Sie bald genug selber sehen, daß ich durchaus nichts so Kostbares, Unersetzliches bin, wie Sie sich einbilden.»

«Ihr meine Liebe verraten!» klagte er auf dem Heimwege, «das heißt: mich ihr wehrlos überliefert! Summa: alles verloren! Wie ein lyrischer Apothekergehilfe, wie ein Romanwicht habe ich mich aufgeführt. Tränen, Handkuß, Kniefall, keine Art von Lächerlichkeit hat gefehlt. Bin ich das gewesen? O Konrad! Konrad! Und dieses Mitleid! dieses barmherzige Trösten! Was in aller Welt soll ich nun beginnen?»

«Nichts», erwiderte sein Verstand. «Nur gesund bleiben, alles übrige richtet sich später wieder ein.»

«Aber die Demütigung, die Erniedrigung!!»

«Wenn es keine größere Erniedrigung gäbe, als der Liebe zu unterliegen!»

Der Verstand mochte schon recht haben. Auch war die Sache nun einmal geschehen. Also ließ ers laufen, wohin es dem Konrad beliebte. Hatte sie nicht gesagt: «Wir wollen Sie heilen, kommen Sie nur wieder zu uns»?

 

Ob er ihre Aufforderung wiederzukehren befolgen solle, war für ihn nicht fraglich. Oder fragt sich etwa ein Kranker, der nach unerträglichen Qualen endlich ein schmerzstillendes Mittel verabreicht erhalten hat, ob er das Mittel wieder nehmen wolle oder nicht? Es gibt eben Grade des Schmerzes, wohin Stolz und Scham nicht reichen, wo nur noch der einzige Gedanke gilt: «Hilfe», einerlei womit, gleichviel durch wen. Er hatte die geliebte Stimme, den guten Spruch ihrer barmherzigen Rede gespürt. Was Stimme! was Rede! Mit ihrer eigenen Hand hatte sie sein Antlitz berührt, mit ihrem Arm seine Wange gestreift. Was braucht es da der Überlegung? Dort ist der Trost, das Heil und das Leben; die übrige Welt ist Kram.

Also zog er schon am folgenden Morgen wieder hin, am übernächsten Morgen von neuem und so weiter jedes Tages Morgen. Und jedesmal fand er sie am Nähtisch allein, und immer durfte er ihr sagen, daß er sie lieb habe. O welche Erleichterung! Statt fern von ihr sein Leid in den kalten Tannenwald zu weinen, es einem warmen Menschen, es ihr zu gestehen, es von ihren schönen Augen bescheinen zu lassen, teilnehmende Worte, freundschaftliche Blicke dafür einzutauschen! Und wie man eines Kindes Tränen durch Anblasen und nichtige Sprüchlein stillt, so brachten ihm ihre unbedeutendsten Worte durch den bloßen Ton der ersehnten Stimme Trost und Linderung, so daß er schon bei seinem zweiten Besuche der Tränennot ledig wurde; nicht anders, als ob seiner Wunde der Stachel wäre entzogen worden. Und mit jedem neuen Male nahm die Entzündung ab. «Wir wollen Sie heilen», hatte sie zu ihm gesprochen; es ließ sich wirklich so an.

Bald gelang ihm sogar – in der Tat, er hatte das Talent zum Glück – daß er aus dem Vorrecht, jeden Morgen mit ihr allein zu wohnen und ihr seine Liebe darzubringen, Zufriedenheit und hiemit Seligkeit schöpfte; denn wenn ihm nichts unleidlich wehe tat, war er immer selig. Und warum sollte er nicht zufrieden sein? Täglich eine Stunde ihrer Gegenwart in Freundschaft und Eintracht, eine Art neuer Parusie auf höherer Stufe, überdies durch ein gemeinschaftliches Geheimnis, das Geheimnis seiner Liebe, mit ihr verbunden, – wer von allen Menschen, außer dem einzigen Statthalter, dessen Rechte zu schmälern er ja niemals beabsichtigt hatte, besaß denn so viel? Ob sie ihn nun liebe oder nicht liebe, darum sorgte er sich nicht; ja, es interessierte ihn nicht einmal, da er, der Frühreife, sich schon seit unvordenklichen Zeiten in die Überzeugung eingelebt hatte, daß des Menschen Heil oder Unheil nicht von außen, sondern von innen kommt, und daß der Schein den nämlichen Dienst tut wie die Wahrheit, meist sogar einen besseren. Nicht ihre Liebe bedurfte er, sondern bloß ihre Gegenwart, damit sein durstiges Herz ihren Anblick, ihre Stimme, ihre Gebärden und Bewegungen trinke. Wie er denn von jeher mit Vergnügen ihren Haß und Abscheu angenommen hätte, wenn er sie dafür hätte heimnehmen, gefangenhalten und an die Wand schließen dürfen. «Zapple, schrei, schilt, verwünsch: nur bleib bei mir.»

Von dieser begehrten Gegenwart nun hatte er, ohne Gewalt zu gebrauchen, ohne sie rauben und an die Wand schließen zu müssen, durch ihre friedliche Einwilligung ein kostbares gesichertes Stücklein; das sie ihm auch sorglich aufsparte und behütete, indem sie, solange er bei ihr war, jede Störung barsch beseitigte, jeden Eindringling kurz abfertigte; nicht einmal ihr Bruder wurde vorgelassen. So daß er sich gewissermaßen ein wenig mit ihr verheiratet fühlte; eine heimliche Ehe zwar, doch nur um so süßer.

Durch das trauliche Sonderstündchen gedieh dann allmählich ein kameradschaftlicher Verkehr zwischen ihnen. Seine Liebe, nunmehr als selbstverständlich vorausgesetzt, hatte nicht nötig, immer von neuem ausgesprochen zu werden, sie rückte zur harmonischen Begleitung in die untere Notenlinie hinab, zwar die Stimmung beherrschend, aber Raum für andere Gespräche und Unterhaltungen freilassend, die dann oben im Diskant wie durchgehende Noten nach Laune und Belieben schalteten. Sie konnten wie Bruder und Schwester miteinander plaudern, Kunstblätter betrachten, vierhändig Klavier spielen («ich hatte gemeint, Sie wären unmusikalisch!»); oder sie erzählte ihm von ihren Mädchenjahren, besprach mit ihm die Zukunft ihres Kindes, zeigte ihm die Räume und Einrichtungen ihrer Wohnung. Sogar zu Neckereien fanden sie die Unbefangenheit.

«Das also ist die böse Frau, die einem so grausam weh getan hat», lächelte er.

«Huhu!» drohte sie, zog eine grimmige Miene und krallte die Finger.

«Laß sehen, zeigen Sie», scherzte er ein andermal, «schauen Sie mich, bitte, wieder einmal so feindselig an wie einst.»

«Das kann ich jetzt nicht mehr», lehnte sie ab, einfach, wahr und gut.

Als er einmal eine Nadel, die ihr entfallen war, blitzschnell vom Boden aufhob, nannte sie ihn «Herr von Wolzogen». «Frau von Stein», erwiderte er, sich verbeugend.

Wenn er beim Klavierspielen heimtückisch ihren kleinen Finger unabsichtlich berührte, patschte sie ihm auf die Hand; wenn er im Gespräch einen unliebsamen Kraftspruch äußerte, auf den Arm. Eines Morgens überfiel sie ihn mit einem Panthersprung aus dem Hinterhalt und würgte ihn herzhaft. «Ihr Namenstag heute», erklärte sie dem Verdutzten.

Nur ein einziges Bedenken schaffte ihm dann und wann etwas Unbehagen: wo bleibt denn bei alledem Freund Statthalter? warum ist der niemals sichtbar? wieso gelingt uns Tag für Tag das trauliche Alleinsein, obwohl zuweilen oben in der Studierstube ein Stiefel scharrt und Tabakrauch wie ein warnendes Orakel durch die Ritzen qualmt? Das Geheimtun, welches seinem Herzen süß schmeckte, wollte, wenn schon nichts Böses geschah, seinem Gewissen nicht recht munden. Andererseits konnte er doch auch nicht oben an der Studierstube anklopfen und Meldung abstatten: «Herr Direktor, wissen Sie das Neueste? Ich habe nämlich die Ehre, Ihre Frau Gemahlin ergebenst zu lieben; Sie können übrigens ruhig auf beiden Ohren schlafen; denn wir sind unschuldig wie zwei Osterlämmer, ein weißes und ein schwarzes.» Nein, gegen eine solche Biederei empörte sich sein Geschmack. Es gibt eben Dinge, die, obgleich sie nicht böse, vielmehr hoch und edel sind, dennoch die Geheimhaltung verlangen; deswegen, weil sie durch die bloße Kenntnis eines Dritten entweiht würden. «Und schließlich, das geht sie an, nicht mich; er ist ja ihr Ehemann, nicht meiner. Also, wenn ihr Gewissen es erträgt –»

Nachdem das so einige Wochen zwei gedauert hatte, wurde ihr Benehmen anders, nämlich undeutlich, wechselvoll, gegensätzlich; nie fand er sie so wieder, wie er sie tags zuvor verlassen hatte. Zunächst überraschten ihn Rückfälle in ihr altes Mißtrauen; offenbar waren Einflüsterungen geschäftig; vermutlich von Freundinnen, vielleicht auch von Neidern und Eifersüchtigen.

«Wenn es in Dur nicht gegangen ist, versucht mans in Moll», warf sie ihm einmal ohne jeden Anlaß hin, anzüglich, mit gescheitem Blick. Sie war demnach geneigt, wenigstens in diesem Augenblick, das wahnsinnige Herzeleid, das ihn zu ihren Füßen geworfen, für gespielt, für einen abgefeimten Schachzug zu halten!

Ein anderes Mal, als er von ihrer ersten Begegnung, also von der Parusie, erzählte, verlief folgende Rede:

«Sagen Sie mir aufrichtig», fragte er, «haben Sie mich eigentlich damals geliebt, oder haben Sie mich nicht geliebt?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich hielt Sie für falsch.»

«Wie kamen Sie auf diesen abenteuerlichen Gedanken?»

«Weil Sie mir so viele übertriebene Schmeicheleien sagten.»

«Ich sagte Ihnen niemals eine einzige Schmeichelei; ich sagte bloß, daß Sie unbeschreiblich schön seien und daß ich Sie wie ein Symbol der Gottheit verehre.»

«Nun ja eben: solcher abgeschmackter, süßer Schnickschnack. Das mag bei eitlen, inhaltlosen Modedämchen seinen Dienst tun, bei mir nicht.»

«Und jetzt?» lachte er, «halten Sie mich etwa noch für falsch, da ich Sie nach wie vor unbeschreiblich schön finde und heute mehr als je als ein Symbol der Gottheit verehre?»

«Hm?» zweifelte sie mit mißtrauischem Blick, «manchmal nein, manchmal ja.»

Er begriff und entschuldigte: Germania, der es nicht in den Kopf will, ein ‹Wüstling› könnte einer echten Liebe fähig sein. Ja, sie glaubte noch immer nicht an die Wahrheit und Reinheit seiner Liebe; das verriet ihm mancher Zug ihres Benehmens. So konnte sie zum Beispiel mitten im Gespräch das Kind aus der Wiege holen, es auf den Schoß setzen und wie einen schützenden Schild vorhalten. Oder sie stand bei seiner Ankunft abwehrend unter der Tür, mit ausgebreiteten Armen den Zugang versperrend. «Wolf, komm mir nicht in mein Hürdlein», drohten ihre Augen. Ließ ihn übrigens dann doch ein.

Andere Male wieder rührte sich Eva in ihr. Blieb er einen Tag aus, so forderte sie Gründe, heischte Rechtfertigung. Hatte er sich auf der Straße im Gespräch mit einer andern Dame betreffen lassen, so hielt sie ihm das vor, scheinbar in scherzhafter Meinung, doch mit der Stimme der Empfindlichkeit. «Sie werden sich auch verheiraten wie jeder andere», warf sie ihm etwa vor, in bitterm, fast verächtlichem Ton, als beging er hiemit eine kränkende, niedrige Handlung.

Mitunter mochte ihn Eva auch plagen. Warum denn nicht? Benütz die schöne Jugendzeit; noch ein paar kurze, flüchtige Jährchen, ach Gott, und du kannst niemand mehr plagen.

In dieser frommen Absicht redete sie so oft wie möglich von ihrem Manne, natürlich im harmlosesten Ton; zeigte ihm ihre neueste Photographie: «Für meinen Mann zum Geburtstag»; oder sie phantasierte von der Zukunft ‹unseres› Buben, wenn ‹wir beide› einmal alt sein werden.

«Welche beide?» fragte er.

«Nun, natürlich mein Mann und ich. Wer sonst?»

Unmerklich hatte sich jedoch ihrem Sonderbund ein Dritter zugesellt: ihr Büblein, der kleine Kurt. War es, weil sich Viktor hin und wieder gnädig mit ihm einließ, der Mutter zuliebe? oder war es im Gegenteil, weil er das überflüssige Wesen anfänglich gar nicht beachtet hatte? Sei es, was es wolle, das kleine Geschöpflein hängte sein Herzchen an Viktor, ihm wie einem Vater entgegenwankend, aber einem Vater ohne Erziehungstücken, der einem niemals etwas verbietet, der nie böse wird, der immer freundlich dreinschaut. Wenn dann die zwei miteinander spielten, Viktor und der kleine Kurt, hielt sich die Mutter geflissentlich abseits, über den Stickrahmen gebeugt, viertelstundenlang stillschweigend, wie absichtlich sich in Vergessenheit hüllend, schaute von Zeit zu Zeit mit einem tiefen Atemzuge auf, und so oft sie aufschaute, glänzte ihr Auge von innerem seelischem Lichte. Es schwebte wie Andacht über der Gegenwart, wie Segen über den drei Menschen.

Unversehens, ohne den mindesten Anlaß, empfing sie ihn eines Morgens feindselig, ja geradezu brutal. «Wann reisen Sie wieder ab?» lautete ihr barscher Gruß.

«Warum? Würde Ihnen etwa meine Abreise erwünscht sein?»

«Ja.»

«Sie tun mir weh.»

«Sie mir auch.»

«Ich? – Ihnen?»

«Ja. Indem Sie mir Sachen sagten, die ich nicht hören darf und die Sie nicht sagen sollen.»

«Die ich auch nicht sagen wollte, aber sagen mußte.»

«Man muß nie, was man nicht soll.»

«Die Natur kennt das Zeitwort sollen nicht; das stammt aus der Sozialgrammatik der Menschen. Übrigens, wenn Sie wirklich wünschen, daß ich abreise, so geschieht es; ein Wort von Ihnen genügt. Also, bitte, wie lautet Ihr Befehl? Wollen Sie, daß ich abreise? Morgen? Oder heute noch?»

Sie sah ihn eine Weile finster an; dann wurde sie unruhig, stellte sich ans Fenster und kehrte ihm den Rücken. Er, wie von einem Magnet angezogen, trat von hinten neben sie und berührte sachte einen Finger ihrer nachlässig herabhängenden Hand, die sie bei der Berührung nicht wegzog. Hiermit waren beide Körper verbunden, und es lief wie eine Strömung hinüber und herüber, davor sie bebte und zuckte. Gab es keine seelische Magie, so gibt es doch sicher eine leibliche.

Ein Gedanke stürmte gegen ihn, begleitet von Fanfaren und Glockenspiel: «Jetzt», hetzte der Gedanke. «Jetzt! Sonst bist du lächerlich; lächerlich auf ewig.»

«Wohlan, seien wir lächerlich», erwiderte er fest und gab ihre Hand frei.

Da platzte in seinem Innern ein schallendes Hohngelächter: «Tugendheld! Tugendheld!»

Verächtlich über die Achsel blickend, gab er zurück: «Ehebruch-Pedanten!»

Ein gefährlicher Boden! Und ziellose Pfade! Wohin die junge Seligkeit wohl taumeln mag? Wird sie, kann sie überhaupt währen? Müßige Fragen; seine Aufgabe war es jedenfalls nicht, der Seligkeit ein Bein zu stellen.