BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Hoffmann

1809 - 1894

 

Struwwelpeter

 

100. Auflage

Wie der „Struwwelpeter“ entstand.

 

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Wie der „Struwwelpeter“ entstand.

 

Dr. Heinrich Hoffmann, der Verfasser des „Struwwelpeter“ erzählt die Entstehung desselben wie folgt:

„Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: „Das brave Kind muß wahrhaft sein“; oder: „Brave Kinder müssen sich reinlich halten“ etc. – Als ich nun gar endlich ein Foliobuch fand, in welchem eine Bank, ein Stuhl, ein Topf, und vieles Andere, was wächst oder gemacht wird, ein wahres Weltrepertorium, abgezeichnet war, und wo bei jedem Bild fein säuberlich zu lesen war: die Hälfte, ein Drittel, oder ein Zehntel der natürlichen Größe – da war es mit meiner Geduld aus. Einem Kind, dem man eine Bank zeichnet, und das sich daran erfreuen soll, ist dies eine Bank, eine wirkliche Bank. Und von der wirklichen Lebensgröße der Bank hat und braucht das Kind gar keinen Begriff zu haben. Abstract denkt ja das Kind noch gar nicht, und die allgemeine Warnung: „Du sollst nicht lügen!“ hat wenig ausgerichtet im Vergleich mit der Geschichte: „Fritz, Fritz, die Brücke kommt!“

Als ich damals heimkam, hatte ich aber doch ein Buch mitgebracht; ich überreichte es meiner Frau mit den Worten: „Hier ist das gewünschte Buch für den Jungen!“ Sie nahm es und rief verwundert: „Das ist ja ein Schreibheft mit leeren weißen Blättern!“ „Nun ja, da wollen wir ein Buch daraus machen!“

Damit ging es nun aber so zu. Ich war damals, neben meinem Amt als Arzt der Irrenanstalt, auch noch auf Praxis in der Stadt angewiesen. Nun ist es ein eigen Ding um den Verkehr des Arztes mit Kindern von drei bis sechs Jahren. In gesunden Tagen wird der Arzt und der Schornsteinfeger gar oft als Erziehungsmittel gebraucht: „Kind, wenn Du nicht brav bist, kommt der Schornsteinfeger und holt Dich!“ oder: „Kind, wenn Du zu viel davon issest, so kommt der Doctor und gibt Dir bittere Arznei, oder setzt Dir gar Blutegel an!“ Die Folge ist, daß, wenn in schlimmen Zeiten der Doctor gerufen in das Zimmer tritt, der kleine kranke Engel zu heulen, sich zu wehren und um sich zu treten anfängt. Eine Untersuchung des Zustandes ist schlechterdings unmöglich; stundenlang aber kann der Arzt nicht den Beruhigenden, Besänftigenden machen. Da half mir gewöhnlich rasch ein Blättchen Papier und Bleistift; eine der Geschichten, wie sie in dem Buche stehen, wird rasch erfunden, mit drei Strichen gezeichnet, und dazu möglichst lebendig erzählt. Der wilde Oppositionsmann wird ruhig, die Thränen trocknen, und der Arzt kann spielend seine Pflicht thun.

So entstanden die meisten dieser tollen Scenen, und ich schöpfte sie aus vorhandenem Vorrathe; Einiges wurde später dazu erfunden, die Bilder wurden mit derselben Feder und Tinte gezeichnet, mit der ich erst die Reime geschrieben hatte, Alles unmittelbar und ohne schriftstellerische Absichtlichkeit. Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsene Freunde, die das Büchlein zu Gesicht bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten. Fast wider Willen wurde ich dazu gebracht, als ich einst in einer literarischen Abendgesellschaft mit dem Einen meiner jetzigen Verleger gemüthlich bei der Flasche zusammensaß. Und so trat das bescheidene Hauskind plötzlich hinaus in die weite offene Welt und machte nun seine Reise, ich kann wohl sagen, um die Welt, und ist heute seit einunddreißig Jahren bis zur hundertsten Auflage gelangt. Von Uebersetzungen ist mir bis jetzt eine englische, holländische, dänische, schwedische, russische, französische, italienische, spanische und eine portugiesische (für Brasilien) zu Gesicht gekommen.

Ich muß dabei auch des sonderbaren Erfolges erwähnen, den das Büchlein anfangs in Frankfurt selbst hatte. In den ersten Monaten des Jahres 1846, nachdem der Struwwelpeter am vergangenen Christfest zum ersten Male in die Kinderwelt getreten war, wurde ich oft von dankbaren Müttern oder entzückten Vätern auf der Straße angehalten, welche mich mit den Worten begrüßten: „Lieber Herr Doctor, was haben Sie uns eine Freude gemacht! Ich habe da zu Hause ein dreijähriges Kind, welches sich bis jetzt sehr langsam entwickelte und nun in ganz kurzer Zeit das ganze Buch auswendig weiß und ganz allerliebst hersagt. Ich versichere Sie, in dem Kinde steckt was!“ – Damals waren die Genies unter den Kindern ganz gemein geworden. Später sahen freilich die Leute ein, daß es nicht sowohl in den außergewöhnlichen Anlagen der Kleinen, als in der glücklich getroffenen plastischen Diction steckte.

Trotzdem hat man den Struwwelpeter aber auch großer Sünden beschuldigt, denselben das gar zu Märchenhafte, in den Bildern das fast Fratzenhafte oft herb genug getadelt. Da hieß es: „Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.“ Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Cabineten mit antiken Gypsabdrücken! Aber man muß dann auch verhüten, daß das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt. – Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen! Das germanische Kind ist aber nur das germanische Volk, und schwerlich werden diese National-Erzieher die Geschichte vom Rothkäppchen, das der Wolf verschluckte, vom Schneewittchen, das die böse Stiefmutter vergiftete, aus dem Volksbewußtsein und aus der Kinderstube vertilgen. Mit der absoluten Wahrheit, mit algebraischen oder geometrischen Sätzen rührt man aber keine Kinderseele, sondern läßt sie elend verkümmern. – Und wie viele Wunder umgeben denn nicht auch den Erwachsenen, selbst den nüchternsten Naturforscher! Dem Kinde ist ja Alles noch wunderbar, was es schaut und hört, und im Verhältniß zum immer noch Unerklärten ist überhaupt die Masse des Erkannten doch auch nicht so gewaltig. Der Verstand wird sich sein Recht schon verschaffen, und der Mensch ist glücklich, der sich einen Theil des Kindersinnes aus seinen ersten Dämmerungsjahren in das Leben hinüber zu retten verstand.

Meine weiteren Bücher der Art, „König Nußknacker“, „Im Himmel und auf der Erde“, „Bastian der Faulpelz“, „Prinz Grünewald und Perlenfein“, entstanden in derselben Absicht und aus derselben Ansicht. Immer aber ging ich von der Ueberzeugung aus: Das Kind erfaßt und begreift nur, was es sieht.“

 

[Auszug aus dem Artikel der „Gartenlaube“, 46/1871]