BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Uhland

1787 - 1862

 

Einleitung zu einem Bruchstück

der „Nibelungen“

 

1856

 

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Von dem Streite vor Bern (Verona) erzählt der prosaische Anhang des Heldenbuches: „Da kam je einer auf den andern, bis daß sie all' erschlagen wurden. All' die Helden, die in aller Welt waren, wurden dazumal erschlagen, ausgenommen der Berner (Dietrich von Bern) 1). Da kam ein kleiner Zwerg und sprach zu ihm: ,Berner! Berner! du sollt mit mir gahn!' Da sprach der Bemer: ,Wo soll ich hingahn?' Da sprach der Zwerg: ,Du sollt mit mir gahn! Dein Reich ist nit mehr von dieser Welt.' Also ging der Berner hinweg, und weiß niemand, wohin er kommen ist, ob er noch im Leben oder tot sei.“

Dies hob jene alte Gedichte ins Idealische. Da die Helden eine eigene mythische Welt bildeten, so durften sie nicht hinabaltern in eine entkräftete Nachwelt. Helden starben durch Helden, in voller Kraft, alle zugleich. Sie kommen alle aus den entlegensten Gegenden zusammen, um sich zu morden, oder vielmehr um vereint zu wallen in das heilige Land des Todes. Sie schweben auf in die Höhen der Poesie und thronen wie ein ossianisches 2) Geisterreich riesenhaft in den Wolken.

Wenn nach Jean Paul 3) im Epos die Welt herrscht, kein Lebens-, sondern ein Weltlauf erscheint, so treffen wir in den Nibelungen diesen Charakter des Epos unverkennbar. Gewaltig, wie nirgends, ist hier der Untergang einer ganzen Heldenwelt dargestellt. Ein großes, dunkles Verhängnis waltet über der Handlung, bildet die Einheit derselben und wird uns beständig im Hintergrunde gezeigt. Wir belauschen es von der Zeit an, da es die ersten Fäden um die Helden des Gedichtes spinnt; wir folgen ihm, bis es sie ganz umschlungen in den Abgrund hinabreißt. Es darf nicht befremden, wenn im Verlaufe der Handlung einige Personen verschwinden, die anfangs wichtige Rollen spielten. Sifrids 4) Tod wirkt ähnlich dem Tode des Patroklos. Wie dieser 5) des Achilleus, so weckt jener Kriemhildens Rache und führt das wahre Leben der Handlung herbei. Befremden soll es auch nicht, wenn wir in eine ganz andere Geschichte versetzt zu sein scheinen, als in der wir anfangs wandelten. In der ersten liegt der Keim des Folgenden.

Mit dem einen Arme faßt das dunkle Verhängnis seine Opfer, um sie mit dem andern zu schlachten. Das Einzelne verliert sich ins Ganze des Epos. Wie ein leichtes Spiel, wie ein Märchen der Liebe, das ein Troubadour 6) zarten Frauen vorsingt, hebt die Erzählung an:

 

„Es wuchs in Burgunden ein schönes Mägdelein,

Daß in allen Landen kein schön'res mochte sein;

Kriemhilde war sie geheißen, das wunderschöne Weib.“

 

Aber gleich kommt die düstere Mahnung:

 

„Darum mußten der Degen viele verlieren den Leib.“ 7)

 

Es erglänzt ein üppiges, festliches Leben. Jugendliche Ritter fahren nach blühenden Bräuten. Liebe wirbt um Gegenliebe. Aber es ist das Morgenrot vor einem Gewittertage. Dunkel wird es und dunkler. Hader und Streit erwachsen. Der schwarze Mord tritt herein, ihm nach die blutige Rache. Das schöne Mägdlein, mit der das Lied so heiter begann, von der es hieß: „niemand war ihr gram“ 8), sie wird zur Furie des schrecklichenVerhängnisses. Zwei Heldengeschlechter, die Helden vom Rheine und die Helden König Ezels im Hunnenlande, führt sie zum Mordfeste zusammen. Wie die nordischen Kämpen sich zum Zweikampfe auf Felseninseln überführen ließen, wo sie in fürchterlicher Einsamkeit sich gegenüberstunden, zusammengehalten von den Armen des reißenden Stromes, so stehen hier die zwei Heldenwelten sich entgegen; das eiserne Schicksal preßt sie zusammen; kein Weichen, keine Rettung. Wie zwei zusammengestoßene Gestirne zerschmettern sie sich und versinken.

Eine Stelle, wo das Verhängnis in seinem dunkeln Walten über der Handlung des Gedichtes wie durch Nachtgewölke erblickt wird, wo es beginnt, die dem Untergange geweihten Helden von der übrigen frohen Welt abzuschneiden und seine schaurigen Knoten wie das schwarze Gitter eines Gottesgerichtskampfes um sie herzuziehen, eine solche Stelle ist die folgende (s. Müllers Ausgabe, S. 69 9)).

 

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1) Bekanntlich der Hauptheld des gotischen Sagencyklus.

2) Ossian, sagenhafter blinder fürstlicher Sänger der keltischen Gälen.  

3) „Vorschule der Ästhetik“ (1804); dagegen sagt er in der „Kleinen Nachschule“ dazu („Kleine Bücherschau“, Bd II, 1825, S. 142): „Wie für Griechenland Homers Epos alles war und gab, so ist der Roman, besonders für Leserinnen und Jünglinge, das prosaische Epos ihres Lebens, ihrer Vergangenheit und Zukunft.“ 

4) Siegfrieds (altdeutsche Form). 

5) In Homers „Ilias“, Gesang 18, Vers 22 ff. 

6) Südfranzösischer Minnesänger des Mittelalters. 

7) Die von Uhland angeführten Verse bilden bekanntlich die erste Strophe des „Nibelungenliedes“. 

8) „Nibelungenlied“ (Handschrift A), 1. Aventiure, Str. 3: „niemen was ir gram“. 

9) Gemeint ist die (damals noch einzige) Ausgabe des Nibelungenliedes von dem Schweizer Christoph Heinrich Müller, Gymnasiallehrer zu Berlin (Berlin 1784). An der angeführten Stelle steht die Überfahrt der Nibelungen (des Heeres der Burgunder) über die Donau.