BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Uhland

1787 – 1862

 

Die Deutsche Nationalversammlung

an das deutsche Volk

 

1849

 

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Die Nationalversammlung fühlt sich gedrungen, an das Volk, von dem sie gewählt ist, und das sie in seiner wichtigsten Angelegenheit zu vertreten hat, über ihre neueste Stellung aufklärende und aufmunternde Worte zu richten. Diese Stellung ist eine so schwierige geworden, daß es wohl das Ansehen gewinnen mochte, als stände die verfassunggebende Versammlung ihrer Auflösung nahe, als müßte eben damit das von ihr mühsam zu Ende geführte Verfassungswerk in Scherben gehen, als soll­te der gewaltige Strom der deutschen Volkserhebung kläglich im Sande verrinnen.

Die Schwierigkeiten, die sich vor uns auftürmen, kommen teils von außen her, durch den Widerstand der fünf mächtigsten Einzelre­gierungen und nun auch der von uns selbst ins Leben gerufenen Zentralgewalt gegen die Durchführung der endgiltig beschlossenen und verkündigten Reichsverfassung, teils aber und zumeist noch aus unserer Mitte, durch den massenhaften Austritt derjenigen Mitglieder, die entweder dem Abruf ihrer Regierungen folgen zu müssen vermeinten, oder am Gelingen des Werkes und an allem fruchtbaren Fortwirken der Versammlung verzweifelten. Diesen Hindernissen zum Trotze glauben wir noch immer unseren Bestand und die uns anvertraute Sache aufrechterhalten zu können; wir setzen der Ungunst der Verhältnisse diejenige Zähigkeit entgegen, die schon manchmal zum endlichen Siege geführt hat. Den Regierungen, deren Staatsweisheit im vorigen Jahre so machtlos und ratlos, so gänzlich erstarrt war, daß sie jene siebzehn Vertrauensmänner am Bunde auffordern mußten, die Initiative eines Verfassungsentwurfs zu ergreifen, und die, nachdem sie wieder warm geworden, uns nicht bloß Vereinbarung ansinnen, sondern sogar die Oktroyierung in Aussicht stellen: – ihnen halten wir beharrlich den schon im Vorparlament geltend gemachten, dann im Anfang unserer Verhandlungen feierlich ausgesprochenen und fortan tatsächlich behaupteten Grundsatz der Nationalsouveränitat entgegen; wir lehnen uns an diejenigen, wenn auch minder mächtigen Staaten und ihre Bevölkerungen, welche die Beschlüsse unserer Versammlung für bindend und die verkündigte Verfassung für rechtsbeständig anerkannt haben. Die neuesten Erfahrungen haben schlagend bewiesen, daß aus einer Vereinbarung von 39 Regierungen unter sich und mit der Nationalvertretung, dazu noch mit allen Landesversammlungen, niemals eine Reichsverfassung hätte hervorgehen können, und daß die Nationalversammlung, selbst gegen eigene Neigung, das Verfas­sungswerk hätte in die Hand nehmen müssen, wenn es überhaupt zustande kommen sollte.

Gegenüber der durch unser Gesetz vom 28. Juni vorigen Jahres geschaffenen provisorischen Zentralgewalt, welche jetzt, da es gälte, die auf Durchführung der Verfassung gerichteten Beschlüsse zu vollziehen, sich dessen weigert und ein Ministerium am Ruder läßt, dem die Versammlung ihr Vertrauen alsbald abgesagt hat, ist in unserer Sitzung vom 19. Mai, noch vor dem großen Austritt, beschlossen worden, daß die Versammlung sofort, womöglich aus der Reihe der regierenden Fürsten, einen Reichsstatthalter wähle, welcher vorerst die Rechte und Pflichten des Reichsoberhauptes ausübe. Damit glaubte man, auch für die Zeit des Übergangs dem Sinne der Verfassung selbst am nächsten zu kommen. Endlich der durch Massenaustritt dem Bestande der Nationalversammlung erwachsenen Gefahr suchten wir durch den gestrigen Beschluß zu begegnen, daß schon mit 100 Mitgliedern (statt der früher angenommenen 150) die Versammlung beschlußfähig sei; nicht als ob wir eine so stark herabgeschmolzene Zahl für keinen Übelstand ansähen oder dadurch den Sieg einer ausharrenden Partei erringen wollten, sondern darum, daß nicht das letzte Band der deutschen Volkseinheit reiße, daß jedenfalls ein Kern verbleibe, um den bald wieder ein vollerer Kreis sich ansetzen könne. Noch sitzen in der Paulskirche Vertreter fast aller deutschen Einzelstaaten, und gerade diejenigen Staaten sind noch immer namhaft vertreten, deren Abgeordnete zurückberufen wurden: Preußen, Österreich und Sachsen. Eine bedeutende Zahl von Mitgliedern ist nur zeitig abwesend und es soll für ihre Einberufung gesorgt werden; durch Stellvertreter und Nachwahlen ist für Abgegangene Ersatz zu erwarten. Sollte aber auch nicht der ernste Ruf des Vaterlandes seine Kraft bewähren, so gedenken wir doch, wenn auch in kleiner Zahl und großer Mühsal, die Vollmacht, die wir vom deutschen Volk empfangen, die zerfetzte Fahne, treugewahrt in die Hände des Reichstags niederzulegen, der, nach den Beschlüssen vom 4. dieses Monats, am 15. August zusammentreten soll, und für dessen Volkshaus die Wahlen am 15. Juli vorzunehmen sind. Selbst aus diesen Beschlüssen ist ein Eingriff in die Regierungsrechte herausgefunden worden, während sie eben dadurch unvermeidlich waren, daß vom Inhaber der provisorischen Zentralgewalt kein Vollzug zu gewarten stand.

Für diese Bestrebungen, die Nationalvertretung unerloschen zu erhalten, und die Verfassung lebendig zu machen, nehmen wir in verhängnisvollem Augenblicke die tätige Mitwirkung des gesamten deutschen Volkes in Anspruch. Wir fordern zu keinem Friedensbruch auf, wir wollen nicht den Bürgerkrieg schüren, aber wir finden in dieser eisernen Zeit nötig, daß das Volk wehrhaft und waffengeübt dastehe, um, wenn sein Anrecht auf die Verfassung und die mit ihr verbundenen Volksfreiheiten gewaltsam bedroht ist, oder wenn ihm ein nicht von seiner Vertretung stammender Verfassungszustand mit Gewalt aufge­drungen werden wollte, den ungerechten Angriff abweisen zu können; wir erachten zu diesem Zwecke für dringlich, daß in allen der Ver­fassung anhängenden Staaten die Volkswehr schleunig und vollständig hergestellt, und mit ihr das stehende Heer zur Aufrechthaltung der Reichsverfassung verpflichtet werde. Außerdem mahnen wir dazu, daß durch Ersatzmänner und Nachwahlen unsere Versammlung ohne Säumnis Ergänzung erhalte. Vor allem aber hegen wir zu dem Männerstolz und Ehrgefühle unseres zur Freiheit neu erwachten Volkes das feste Vertrauen, daß es nimmermehr auf ein willkürlich oktroyiertes Reichswahlgesetz, sondern einzig nach demjenigen, welches die verfassunggebende Versammlung erlassen hat, die Wahlen vornehmen, und daß, wenn der bestimmte Wahltag herankommt, gleichzeitig in allen deutschen Gauen ein reger Wetteifer sich betätigen werde, das gemeinsame Wahlrecht zu gebrauchen oder zu erlangen.