BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Weitling

1808 -1871

 

Die Menschheit, wie sie ist

und wie sie sein sollte

 

1839

 

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Zweites Kapitel.

 

Wenn ihr Glauben und Vertrauen in eure gerechte Sache habt, so habt ihr sie schon halb gewonnen; denn mit eurem Glauben könnt ihr Berge versetzen. Selig sind die nicht sehen und doch glauben. Doch nicht der blinde Glaube führt zum Ziel, sondern der aus der Ueberzeugung entstandene.

Nun giebt es eine auf Christi Lehre und die Natur gegründete Ueberzeugung, nach welcher ohne die Verwirklichung folgender Grundsätze kein wahres Glück für die Menschheit möglich ist.

1. Das Gesetz der Natur und christlichen Liebe, ist die Basis aller für die Gesellschaft zu machenden Gesetze.

2. Allgemeine Vereinigung der ganzen Menschheit in einem großen Familienbunde, und Wegräumung aller engherzigen Begriffe von Nationalität und Sektenwesen.

3. Allen gleiche Vertheilung der Arbeit und gleichen Genuß der Lebensgüter.

4. Gleiche Erziehung, so wie gleiche Rechte und Pflichten beider Geschlechter nach den Naturgesetzen.

5. Abschaffung alles Erbrechtes und Besitzthums des Einzelnen.

6. Hervorgehung der leitenden Behörden aus den allgemeinen Wahlen. Verantwortlichkeit und Absetzbarkeit derselben.

7. Kein Vorrecht derselben bei der gleichen Vertheilung der Lebensgüter, und Gleichstellung ihrer Amtspflicht mit der Arbeitszeit der Uebrigen.

8. Jeder besitzt, außerhalb des Rechts Anderer, die größtmöglichste Freiheit seiner Handlungen und Reden.

9. Allen Freiheit und Mittel der Ausübung und Vervollkommnung ihrer geistigen und physischen Anlagen.

10. Der Verbrecher kann nur an seinem Rechte der Freiheit und Gleichheit gestraft werden; an seinem Leben nie, und an seiner Ehre nur durch Ausstossung und Verbannung aus der Gesellschaft auf Lebenszeit.

Diese Grundsätze lassen sich in wenig Worte zusammenfassen; sie heißen: liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Ohne diese Grundsätze und deren Verwirklichung ist kein wahres Heil für die Menschheit zu erwarten. Die Uebel, die seit Jahrtausenden derselben so viel Thränen ausgepreßt haben, werden nicht verschwinden, so lange deren Verwirklichung den Anstrengungen der Völker noch nicht gelungen ist.

Die Massen der dürftig von ihrer Hände Arbeit Lebenden sind wohl unsern Fahnen gewiß, schon wegen der materiellen Vortheile, die wir ihnen bieten können, so wie aus Haß gegen die Reichen und Mächtigen, deren Uebermuth und Verschwendung ihnen ein Dorn im Auge sind.

Aber es bedarf auch Apostel der neuen Lehre, welche die Massen über den wahren Zustand der Gütergemeinschaft aufklären, damit sie in denselben zur lebendigen Ueberzeugung werde, die allen Anlockungen und Versuchungen kräftig Stand hält, und sich durch kein unerwartetes Mißgeschick der guten Sache in ihrem Glauben wankend machen lassen.

Es bedarf der vorherigen Aufklärung, damit nach Umsturz der alten Verfassungen, das Volk sich geschwind in der neuen Ordnung der Gesellschaft zurecht finden kann, und nicht in Anarchie versinke, oder einigen andern Tyrannen in die Hände falle.

Es ist eine heilige Pflicht, seinen Mitmenschen den Weg zu bezeichnen, der zum Zielc führt, und vor Irrwcgen sie zu warnen. Wer eine große, vielbestrittene, und nirgends verwirklichte Wahrheit in seinen Busen verschließt, macht sich einer schweren Verantwortlichkeit schuldig.

Alle große Wahrheiten, alle gute und vollkommene Gaben kommen von oben herab, vom Vater des Lichts.

Nun wurde euch Volkslehrern schon vor 1800 Jahren gesagt: lasset euer Licht leuchten vor der Welt, und stellt es nicht unter einen Scheffel. Und doch brennt trotz dem Geiste des Fortschrittes noch so manches Licht unter dem Scheffel; wahrscheinlich um dem Zugwinde nicht ausgesetzt zu sein, der draussen in der Finsterniß wehet, und in behaglicher Ruhe unter dein Schutze des Scheffels ausglimmen zu können. Daher kommt es, daß der nach dem Licht strebende Wanderer sich so oft an die Scheffel stößt.

Der Ausspruch der Wahrheit ist den Menschenfeinden unerträglich, denn er bedroht ihre Macht und Existenz; und darum sind schon seit Menschengedenken von ihnen die fürchterlichsten Strafen ersonnen worden, und zum Theil mit in die heutige Civilisation übergegangen, um ihn zu verhindern.

Unsere Gefängnisse, Zuchthäuser, Galeeren und Schafotte liefern die schauderhaftesten Beweise davon.

Und immer neue Märtyrerschaaren drängen sich herzu, und die Martern wollen nicht enden, bis das Maaß der Schuld voll ist und über die Häupter der Uebelthäter ausgegossen wird.

Dann leset ihnen die Stelle vor: mit dem Maaße damit ihr messet, wird euch wieder gemessen werden; aber richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.

Glaubet nicht, daß ihr durch Vermittlung mit euern Feinden etwas ausrichten werdet. Euere Hoffnung liegt nur in euerem Schwerte. Jede Vermittlung zwischen euch und ihnen ist zu euerem Nachtheile berechnet. Ihr habt schon so oft davon die Erfahrung gemacht, es ist hohe Zeit, Nutzen daraus zu ziehen. Es ist eine traurige Erfahrung, daß sich die Wahrheit einen Weg durch Blut bahnen muß; darum sagt Christus:

Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden auf Erden zu senden; ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert (Matth. 10, 34).

Die Männer der Arbeit und der Entbehrung, so wie jene, welche beides nicht fühlen, es aber mittelst Aufopferung von Hab und Gut den Andern zu erleichtern suchen, das sind die Männer, die mit unsern Fahnen ziehen, die in unsern Reihen kämpfen werden. Mißtrauet allen Andern, und hütet euch besonders, ihnen ein Amt anzuvertrauen.

Oeffentliche Aemter, welche die gleiche Vertheilung der Arbeit und der Lebensgüter besorgen, kann man ohne Gefahr keinem Eigennützigen und überhaupt Niemanden anvertrauen, welcher nicht nach dem Gesetz der gesellschaftlichen Gleichheit handelt. Ihr könnt zur Pflegung euerer Gärten keine Böcke gebrauchen.

Betrachtet aber auch Niemanden als eueren Feind, blos darum, weil er einer anderen Meinung ist als ihr, denn wir durchlaufen alle dieselbe Reihe von Irrthümern, ehe wir geläutert werden.

Hütet euch darum, das anzugreifen, was Andern heilig ist; verschont es der guten Sache wegen, wenn es sonst nicht in euerer Feinde Hände zur Waffe gegen euch wird. Das Leben euerer gefangenen Feinde sei euch heilig und unverletzlich; desgleichen das Eigenthum Aller, die nicht gegen euch auftreten; denn das eingewurzelte Vorurtheil des Rechts des Besitzthums würde jede von euerer Seite erzwungene gewaltsame Herausgabe des Ueberflusses als eine Ungerechtigkeit ansehen, und ihr vermehrtet nur die Menge euerer Feinde.

Lasset nur das gute und das böse Kraut zusammen wachsen bis zur Zeit der Ernte.

Um die Möglichkeit und den Vortheil der Gütergemeinschaft ohne Geldsystem anschaulich zu machen, kann nachfolgender Plan einer Constitution der Gesellschaft dienen.

Dieser Plan ist nur für Diejenigen zu beachten, welche, so wie ich, keine Gelgenheit hatten, einen Plan über die Gütergemeinschaft, wie es deren von Fourier und mehreren andern giebt, zu lesen. Es ist nicht gesagt, daß hier das vollkommenste Ideal der gesellschaftlichen Reform aufgestellt ist, sonst müßten wir annehmen, daß die Quelle des Wissens zu erschöpfen wäre. Jede Generation hat ebenso wie jedes Individuum ihren eigenen Begriff von Vollkommenheit. Der Mensch kann wohl sich ihr immer mehr nähern, aber nie in diesem Leben sie ganz erreichen.

Die Vollkommenheit, das ist der allmächtige Gott; und streben sie zu erreichen, heißt ihm ähnlicher werden.

Alle Pläne der gesellschaftlichen Reform, die bisher geschrieben worden sind, sind Beweismittel der Möglichkeit und Nothwendigkeit derselben; und je mehr Werke darüber geschrieben werden, desto mehr Beweise sprechen dafür zum Volke. Das beste Werk darüber werden wir aber wohl mit unserm Blute schreiben müssen.

Die Wahl der Constitution gehört der Gesellschaft selbst, der Mehrheit ihrer Glieder an, und die Zeitbegebenheiten tragen gar viel zu denselben bei. Die Abweichungen in den verschiedenen Systemen der Gütergemeinschaft werden bei einstiger praktischer Anwendung zu demselben Ziele führen, nämlich zu einem allgemeinen Familienbunde der ganzen Menschheit; und sollte selbst die Ausführung dieser Vervollkommnung des gesellschaftlichen Zustandes noch auf bedeutende Hindernisse stoßen, so sei dieselbe doch das beständige Ziel unseres Strebens, und weder Ketten noch Tod soll uns in unserem Entschluß wankend machen; denn leben wir, so leben wir dem Herrn; und sterben wir, so sterben wir dem Herrn; wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.