BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Abraham

1877 - 1925

 

Giovanni Segantini.

Ein psychoanalytischer Versuch

 

1911

 

____________________________________________________________

 

 

 

V.

 

Acht Jahre waren vergangen, seit Segantini nach Savognin hinaufgestiegen war. Damals kam er als ein Suchender. In ständiger unmittelbarer Berührung mit der Natur war er zum Meister herangereift. Jetzt zog es ihn wiederum zur Höhe, ganz wie damals, als er die Schwermut der Brianza-Periode von sich abschüttelte. Er zählte 36 Jahre, als er ins Ober-Engadin übersiedelte. Er wagte sich ins Herz des Hochgebirges hinein; denn im sicheren Bewußtsein seines Könnens durfte er sich jetzt die höchsten Aufgaben stellen. Er faßte eine heiße Liebe zu dem Tale, in dem er die letzten fünf Jahre seines Lebens zubringen sollte. Den Bergen dieses Landes brachte er eine religiöse Verehrung entgegen. So schrieb er einmal einem Freunde (vgl. Servaes S. 202): «An manchem Morgen, während ich minutenlang diese Berge betrachte, noch bevor ich zum Pinsel greife, fühle ich mich gedrängt, mich vor ihnen nieder zu werfen, als vor lauter unter dem Himmel aufgerichteten Altären.»

Es konnte nicht fehlen, daß Segantini hier sogleich Wurzel faßte und daß er fürderhin mit dem Lande, seiner Natur, seinen Bergen und seinen Bewohnern ganz und gar verwuchs. Er genoß den schimmernden Glanz der Firne und Gletscher, das flimmernde Blau des Himmels und den Glanz der Sonne, wie sie dem Engadin eigen sind, sah mit Entzücken den reichen Blumenflor, den ein kurzer Sommer hier in einziger Farbenpracht hervorsprießen läßt. Nach all dieser Herrlichkeit des Engadins sehnte sich sein Auge. Aber nicht minder war sein Gemüt, sein Charakter auf dieses Land abgestimmt wie auf kein anderes. 1) Das Tal besitzt eine alte, selbständige Kultur; seine Bewohner haben sich in jahrhundertelanger Abgeschlossenheit ihre besondere Sprache, eigene Sitten, einen eigenen Baustil erhalten. Harter Arbeit und unbeugsamer Energie hatte es bedurft, um dieses Hochtal zu einer Wohnstätte für Menschen zu gestalten. Diesen Menschen, diesem Lande fühlte sich Segantini wesensverwandt.

Zunächst schuf er in Maloja ein Werk, auf dem noch die schmerzliche, trübsinnige Stimmung lastet. Doch es fehlt das Mystische, Visionäre. Der Künstler hat mit erschütternder Wahrheit einen Vorgang aus dem alltäglichen Leben dargestellt; er läßt die Schwermut der vergangenen Zeit gleichsam in eine Elegie ausklingen. Eine Familie führt die Leiche des Sohnes in die Heimat zurück. Eine unendliche Trauer liegt über dem Bilde: in ihr vereinigen sich der Vater, der gebeugten Hauptes das Pferd am Zügel führt, die zwei Frauen, die sich auf dem Sarge niedergelassen haben, das Pferd, das müde seine Last durchs Bergland fährt, und der Hund, der traurig dem Zuge nachschleicht. Das ist die «Rückkehr ins Heimatland», eines der ergreifendsten Werke des Künstlers.

 

Il ritorno al paese natio

 

Wir finden hier wieder die abendliche Beleuchtung, wie auf allen Bildern des Todes. Aber Segantini hat ihr neue Seiten abgewonnen. Die Färbung des zart bewölkten Abendhimmels ist von wunderbarer Pracht; sie wirkt wie ein lindernder Trost gegenüber der Trauerstimmung, die den Zug beherrscht.

Es folgte eine Reihe großer Meisterwerke, gleich hervorragend durch die Tiefe der ihnen innewohnenden Ideen wie durch die vollendete Technik. Es seien ihrer einige genannt; sie zeigen aufs deutlichste die wechselnden Stimmungen, denen ihr Schöpfer unterworfen war.

 

L'amore alla fonte della vita

 

Da ist die «Liebe an der Lebensquelle». Ein junges Paar schreitet der Quelle des Lebens zu, an der ein Engel Wacht hält. Das Bild gehört zu den symbolischen; aber im Gegensatz zu den früheren Werken dieser Art hält es sich frei von Angst und Trübsal. Es strahlt von Helligkeit und lichten Farben.

 

Primavera sulle Alpi

 

Von ruhiger und heiterer Gemütsstimmung spricht der «Frühling in den Alpen» (1897). Segantini selbst sah dieses Werk als sein bestes an. Es ist ganz in hellsten, leuchtenden Farbentönen gehalten.

 

La raccolta del fieno

 

Ernster ist die «Heuernte». Wir sehen Frauen auf den Wiesen bei schwerer Arbeit; sie erinnern uns an Millets «Ährenleserinnen». Den Himmel beginnen dunkle Wetterwolken zu überziehen; sie jagen einander gleich gespenstischen Gestalten.

 

Il dolore confortato dalla fede

 

«Glaubenstrost» nimmt wieder das Thema vom Tode auf. Ein Elternpaar weilt am Grabe des Kindes auf einem kleinen, tief verschneiten Kirchhof. In der Haltung beider hat Segantini mit großer Feinheit angedeutet, wie sie im Glauben ihren Trost finden (vgl. hiezu Servaes' Beschreibung, S. 210). Aber dann enthält das Bild, neben seinem realistischen Inhalt, visionäre Elemente. «Auf dem Grabeskreuz nebenan erscheint die Vision eines Veronika-Sehweißtuches mit dem Haupte des Erlösers. Wenn wir aber unseren Blick emporschicken über die zackigen Berge in den klaren Äther, hoch, hoch hinauf, so gewahren wir – es ist zu diesem Zwecke ein eigenes Lünettenbild aufgesetzt – eine trostvolle himmlische Erscheinung. Zwei Engel mit großen Flügeln tragen den kleinen nackten Leichnam des Kindes liebevoll empor ins Reich der ewigen Freude» (Servaes).

Der Hang zur Mystik, zum Übersinnlichen, von dem bald noch mehr die Rede sein wird, hatte wieder einmal die Oberhand gewonnen.

Die Reihe der großen Werke der Maloja-Periode schließt ab mit dem Triptychon «Natur, Leben, Tod» (auch wohl als «Werden, Sein, Vergehen» bezeichnet). Diese machtvolle Schöpfung zeigt das Verlangen des Künstlers, die in ihm kämpfenden Triebe auszugleichen, zu versöhnen, Leben und Tod zu einer Harmonie zu vereinigen. Er verkündet in der Sprache der Kunst die Einheit alles Seins und so wird sein letztes, unvollendetes Werk zu einem monistischen Glaubensbekenntnis.

Es waren Jahre der angestrengtesten Arbeit, die Segantini in Maloja verlebte. Sein Bedürfnis nach Arbeit, das wir aus dem früher Gesagten verstehen, wurde immer stärker. «Meine Seele, gierig wie ein alter Geizkragen, sehnt sich brennend, zitternd, starren Auges, die ausgebreiteten Flügel nach dem Horizont des Geistes zu erheben, wo die zukünftigen Werke geboren werden.» So hatte er in einem Brief an Vittore Grubicy geschrieben, kurz bevor er nach Maloja übersiedelte (Sammlung der Briefe, S. 192). In den folgenden Jahren hat er bewiesen, daß das keine leeren Worte waren. Sein Enthusiasmus für seine Arbeit war unbegrenzt und ließ ihn bis zur äußersten Anspannung seiner Kräfte gehen. Im Sommer begab er sich in frühester Morgenstunde ans Werk, oft weite Strecken zurücklegend, bis er an seine Arbeitsstelle kam, die er je nach dem Bedürfnis wechselte. Unermüdlich förderte er dann sein Werk bis zum Abend. Im Winter sah man ihn bei schneidender Kälte im Freien arbeiten. Und bevor er noch ein Werk vollendete, erfüllten ihn neue Entwürfe und Zukunftspläne.

Der begeisterte Schaffensdrang und im Verein mit ihm die hingebende Liebe zur Natur, die andächtige Verehrung ihrer Schönheit waren es in erster Linie, die ihn vor dem Versinken in schwermütige Stimmungen bewahren mußten, so oft solche an ihn herantraten.

Diesem erschütternden Seelenkampfe aber war ein nahes Ziel gesetzt.

 

Il trittico della natura: La vita

 

Il trittico della natura: La natura

 

Il trittico della natura: La morte

 

Von den Teilen des Triptychon war die «Natur» so gut wie vollendet. An den zwei anderen Bildern arbeitete Segantini im September 1899 mit großem Eifer. Das «Leben» war zum größten Teil fertiggestellt; den «Tod» förderte er gerade in den letzten Tagen, die er in Maloja verweilte. Dieses Gemälde blieb in unvollendetem Zustande zurück, als er am 18. September, begleitet von Baba und seinem jüngsten Sohne Mario, den Schafberg erstieg. Dorthin wurde anderen Tages das Mittelbild gebracht, an dem er zu arbeiten beabsichtigte.

Sein ungestümer Schaffensdrang hatte ihn, ungeachtet der vorgerückten Jahreszeit, auf diese Höhe (2700 m) getrieben, wo ein bescheidenes Steinhäuschen ihm Aufenthalt bieten sollte. An einem klaren Abend langte er an dieser seiner letzten Station an.

Da stand er nun inmitten der Großen seines Reiches. Die Häupter der Bernina erstrahlten vor ihm im abendlichen Glänze und begeisterten ihn zu den Worten: «Ich will eure Berge malen, Engadiner, daß die ganzeWelt von ihrer Schönheit spricht!»

Einen Tag lang arbeitete er am Bild des Lebens, da ergriff ihn – zeitlich zusammentreffend mit einem Umschlag der Witterung – eine fieberhafte Krankheit. Sie setzte mit großer Heftigkeit ein. Die Dachkammer des Häuschens, dessen mangelhafte Bauart nur sehr unvollkommen Schutz gegen Sturm und Kälte gewährte, wurde zum Krankenzimmer.

Seltsam mutet an, was wir über den weiteren Verlauf dieser Krankheit vernehmen. In der Nacht stand Segantini auf und ging wiederholt, nur dürftig bekleidet, trotz seines Fiebers in den Schneesturm hinaus. Am anderen Tage schleppte er sich zu dem Bilde, das in geringer Entfernung von der Hütte aufgestellt war und versuchte zu arbeiten. Vor Schwäche schlief er ein; er wurde geweckt und mit Mühe gelang es, ihn zum Hause zurückzugeleiten. Gänzlich erschöpft lag er nun danieder. Aber er weigerte sich, einen Arzt kommen zu lassen, obwohl ihn mit dem nächsten erreichbaren Arzt, Dr. Bernhard in Samaden, persönliche Freundschaft verband. Mario, der aus anderem Grunde nach Samaden hinuntergehen mußte, durfte dem Arzt nur von einem Unwohlsein des Vaters sprechen. Bald danach ließ der Arzt durch einen Boten sagen, daß er bereit sei, sofort auf den Schafberg zu kommen; aber Segantini lehnte ab. Als sein Zustand sich noch weiter verschlimmert hatte, mußte endlich Mario nach Pontresina hinab; er rief telephonisch den Arzt herbei und dieser kam bei Nacht und Unwetter oben an – als nichts mehr zu retten war.

Dem Sterbenden, um den sich seine Familie versammelte, schien die drohende Gefahr nicht zum Bewußtsein zu kommen; im Gegenteil war er zeitweise zum Scherz aufgelegt. – Da klärte sich der Himmel noch einmal vor ihm auf. Er verlangte, daß man sein Bett an das Fensterchen rücke: «Voglio vedere le mie montagne», das waren die letzten Worte seiner Sehnsucht. «Dort lag er dann, unverwandt den Blick in die gegenüberliegende Bergkette versenkt, die gleiche, die er auf seinem Bilde hatte zu Ende malen wollen. Aber in diesem Blicke lag kein wehmütiges Abschiednehmen, in diesem Blicke lag der ganze Heißhunger des Malers und des Verliebten: er sog die Farben, Formen, Lichter und Linien in sich hinein, weil er aus ihnen etwas zu gestalten dachte, das höchste Kunst sein sollte» (Servaes).

Segantinis Verhalten in diesen letzten Tagen seines Lebens wirft ein grelles Licht auf den Zwiespalt psychischer Kräfte in seinem Innern. Im Vollbewußtsein seiner Kraft zieht er zum Schafberg hinauf. In enthusiastischen Worten verkündet er dort oben das Ziel seines Strebens. Mit Feuereifer geht er unverzüglich an die Arbeit, und gleich darauf, als ihn eine hitzige Krankheit befällt, gefährdet er sich durch das Hinaustreten in den nächtlichen Schneesturm, erschöpft seine Kraft, da er sie am notwendigsten im Kampfe gegen die Krankheit gebraucht und verweigert hartnäckig die Hilfe, die ihm angeboten wird!

Wir fragen uns: waren es nur sein Tatendrang und seine Schaffensfreude, die ihn jene Höhe aufsuchen ließen? Ging er nur hinauf, um dort zu leben und zu arbeiten, oder war es neben diesen ihm bewußten Motiven ein unbewußtes Sehnen nach dem Tode, das ihn trieb? Wir werden uns über diese Frage nur klar werden können, wenn wir uns einen möglichst vollständigen Überblick darüber verschaffen, welche Bedeutung den Gedanken an den Tod in Segantinis Seelenleben zukam.

Früh hatte er das Wirken des Todes in seiner Umgebung kennen gelernt: er verlor den Bruder und dann die Mutter. Er erfuhr, daß der Tod der Mutter mit seiner Geburt zusammenhing; man erzählte, wie er selbst so schwach zur Welt gekommen war, daß man kaum glaubte, ihn am Leben erhalten zu können; er erinnerte sich, zweimal wie durch ein Wunder dem Tode entronnen zu sein. So mußte er früh zu der Einsicht gelangen, daß der Tod dem Menschen zu jeder Zeit nahe ist, und seine Lebensauffassung mußte dadurch einen ernsten Zug erhalten.

Diese trüben Erfahrungen in der Kindheit erklären aber nicht die ungeheure Macht der Todesgedanken bei Segantini. Wir müssen vielmehr auf die früher besprochenen inneren Motive zurückgreifen. Die sadistischen Triebregungen, die Gefühle des Hasses, die Todeswünsche mußten von den Objekten, auf die sie vorwiegend gerichtet waren, zurückgezogen werden. Sie wurden teils als Gedanken an den eigenen Tod auf das Subjekt zurückgeworfen, teils verfielen sie der Sublimierung und machten auf dem Wege der «Reaktionsbildung» die Umwandlung in entgegengesetzte Regungen durch.

Die ganze Bedeutung, welche der Sublimierung der Todesphantasien bei Segantini zukommt, erhellt am besten daraus, daß sein erster Zeichenversuch und sein letztes, unvollendetes Gemälde Bilder des Todes sind.

Bald nachdem er die Schule der Brera verlassen hatte, verschaffte er sich Zutritt zur Anatomie und machte dort seine ersten Naturstudien – an Leichen. Wie er Jahre zuvor unermüdlich bei der Leiche eines Kindes ausgeharrt hatte, so reizte ihn auch jetzt der Anblick des Todes. So entstand eines seiner frühesten Bilder, «Il prode» («Der tote Held») benannt.

 

Il prode

 

Bei der Arbeit begegnete ihm damals ein Zwischenfall, der einen tiefen Eindruck hinterließ. Er hatte die Leiche, welche ihm als Modell diente, aufrecht an die Wand gestellt. Während er in seine Arbeit vertieft war, verlor der Körper, der den Sonnenstrahlen ausgesetzt war, seine Starre, geriet ins Wanken und stürzte vornüber. Der junge Segantini legte diesem Vorfall eine üble Vorbedeutung bei und konnte sich lange Zeit von der Angst vor dem Tode nicht freimachen.

Die Neigung zum Aberglauben, die bei unserem Künstler sehr ausgesprochen war, gemahnt wiederum an die seelischen Eigentümlichkeiten der Zwangsneurotiker. Die Zweifel dieser Kranken beschäftigen sich namentlich mit der Dauer ihres Lebens und mit dem Schicksal nach dem Tode. Sie sind stets bereit, an Vorbedeutungen in dieser Beziehung zu glauben. Segantini verhielt sich ganz ebenso; wir werden bald Näheres darüber erfahren. Dem «Prode» folgten andere Bilder des Todes. Der frühen Zeit entstammen z. B. «Für unsere Toten», «Die leere Wiege», «Die Verwaisten». Dann schlossen sich die weltschmerzlichen Stimmungsbilder der Brianza-Periode an. In Savognin fanden die Todesgedanken ihren Ausdruck durch die Nirvanabilder. In Maloja endlich entstanden die «Rückkehr in die Heimat», «Glaubenstrost» und zuletzt «Der Tod» als Teil des großen Triptychons. Das alles aber sind nur Beispiele aus der großen Zahl der Bilder, die vom Tode handeln.

Die Todesahnungen verließen ihn nicht. Wohl wehrte er sie ab, aber sie kehrten wieder – kehrten wieder aus der Tiefe seines Unbewußten. Unter Segantinis Aufzeichnungen (S. 52 der Sammlung von Bianca Segantini) befindet sich unter der Überschrift «Ein häßlicher Traum» die Erzählung eines Traumes, der uns den Kampf entgegengesetzter Triebe mit großer Lebendigkeit vor Augen führt. Ich gebe die erste Hälfte im folgenden wieder:

«Traurig saß ich an einem geheimnisvollen Orte, der Zimmer und Kirche zugleich war. Eine seltsame Figur stand mir verblödet gegenüber, ein Wesen von garstigen, abstoßenden Formen. Es hatte weiße, gläserne Augen, seine Fleischtöne waren gelb, halb schien es ein Kretin und halb der Tod. Ich erhob mich und mit gebieterischem Blicke jagte ich das Wesen fort, das sich, nachdem es mich von der Seite angeschaut, verzog. Ich verfolgte es mit dem Blicke bis zu einem dunklen Schlupfwinkel, in dem es verschwand. Bei mir dachte ich: diese Erscheinung eines Leichnams muß für mich von schlechter Vorbedeutung sein. Als ich mich umwandte, um mich hinzusetzen, ging ein Zittern über alle meine Glieder, denn jene trostlose Erscheinung stand mir wieder gegenüber. Ich erhob mich wie eine Furie, verfluchte sie unter Drohungen. Demütig verschwand sie von neuem. Zu mir sagte ich darauf: vielleicht tat ich schlecht daran, sie auf diese Art zu verjagen; sie wird sich rächen.»

Hier findet sich auf engem Raum alles zusammen: das Grausen vor dem Tode, der Versuch der Abwehr, das Wiederauftreten der kaum gebannten Gedanken, die Explosion des verhaltenen Affektes, der abermalige Sieg über die Todesgedanken und schließlich die resignierte Erkenntnis: sie werden sich rächen, und zuletzt werde ich der Überwundene sein!

Segantini legte solchen Träumen, ebenso wie gewissen anderen Vorkommnissen, eine unheilvolle Vorbedeutung bei. Je häufiger er aber durch Vorzeichen des Todes erschreckt wurde, um so mehr bedurfte er eines Gegengewichtes. Dadurch wird es verständlich, daß er allerhand Prophezeiungen ein williges Ohr lieh. Besonders klammerte er sich an eine ihm gewordene Weissagung, nach der er Tizians Alter erreichen sollte. Es wird erzählt, daß er sich auf diese Prophezeiung fest verlassen habe, gerade zu der Zeit, als in ihm selbst die trüben Gedanken mit besonderer Macht aufstiegen.

Aber er ging weiter. Er schlug auch hier den Weg ein, den wir aus der Analyse der Zwangsneurose kennen. Die wirksamste Abwehr der Todesgedanken – mögen sie sich gegen die eigene Person oder gegen andere richten – besteht in der Negation des Todes. Es gibt keinen Tod, – das ist die Wunschphantasie der Menschheit zu allen Zeiten gewesen. Am meisten aber klammern sich an das Fortleben nach dem Tode diejenigen, deren Leben durch Todesphantasien beständig beunruhigt wird: die Zwangsneurotiker. Wir können bei ihnen eine eigene Art von Religiosität, in der der Glaube an die Unsterblichkeit eine große Rolle spielt. Wenn es ein Fortleben gibt, dann sind die quälenden Vorwürfe, die jene Menschen sich machen, hinfällig: die, deren Tod sie verschuldet zu haben fürchten, sind gar nicht gestorben, sondern führen ein Leben an einem anderen Orte.

Schon früher einmal sahen wir Segantini die Tatsache des Todes in eigentümlicher Weise negieren. Das Bild einer sterbenden Schwindsüchtigen übermalte er und gestaltete es zu einem Bilde des blühenden Lebens! In den späteren Jahren gingen seine Bedürfnisse weiter. Es bildete sich ein Hang zum Übersinnlichen aus, und besonders war es der Spiritismus, dem der Künstler sich ergab. Zur selben Zeit erhielt auch ein Teil seiner Werke jenen mystischen Zug, von dem früher die Rede war.

Wie in dem «häßlichen Traum», so erging es ihm in Wirklichkeit. Die Todesgedanken bemächtigten sich seiner immer mehr. Mit gewaltigem Kraftaufwand kompensierte er sie freilich. Aber während er sich bewußt neuen Plänen und Schöpfungen zuwandte, während er in enthusiastischen Worten von seinem Arbeitsprogramm erzählte, erhob sich aus seinem Unbewußten immer vernehmlicher der Ruf des Todes.

Segantini erzählte selbst einen Vorfall, der sich etwa ein Jahr vor seinem Tode zugetragen haben dürfte, als Beweis dafür, daß eine Verbindung mit den Verstorbenen bestehe. Er habe sich im Winter auf einer Wanderung verirrt, habe sich ermüdet im Schnee niedergelassen und sei eingeschlafen. Er wäre sicher dem Tode des Erfrierens preisgegeben gewesen, wenn ihn nicht im Augenblick der Gefahr eine Stimme gerufen hätte, die er als die Stimme seiner Mutter erkannte. Auf dieses Vorkommnis führte er selbst seinen Glauben an ein Jenseits zurück.

Durch das Studium des Unbewußten haben wir erfahren, daß mancherlei kleinen «Zufälligkeiten» des Lebens eine tiefere Bedeutung innewohnt, als man gemeinhin annimmt. 2) Nicht freilich im Sinne einer Vorbedeutung für die Zukunft. Wohl aber erweisen sie sich als determiniert durch unbewußte Einflüsse, die von den verdrängten Komplexen ausgehen. Besonders sei auf die so häufigen Fehlhandlungen hingewiesen, die wir mit dem Namen der Ungeschicklichkeiten, des Sichvergreifens, des Verlegens von Gegenständen u.s.w. bezeichnen. Jeder solche Vorfall erweckt den Anschein des Zufälligen und des Unzweckmäßigen, während er in Wirklichkeit eine Gesetzmäßigkeit in sich begreift und einen Zweck – freilich einen unbewußten – vollkommen erfüllt.

Für uns sind von besonderem Interesse die nicht seltenen Fälle von unbewußtem – versuchtem oder vollendetem – Selbstmord. Personen, die unter einer depressiven Stimmung leiden, lassen ganz gewöhnlich die einfachsten, ihnen bisher selbstverständlichen Vorsichtsmaßregeln außer Acht. Sie laufen unbedachtsam einem Automobil in den Weg, nehmen versehentlich eine giftige statt einer ungiftigen Arznei, oder sie ziehen sich in ungeschickter Weise Verletzungen zu, wie es ihnen sonst nicht begegnet war. Alle solche Handlungen können ohne bewußte Absicht geschehen, also aus unbewußten Impulsen hervorgehen. In das Gebiet des unbewußten Selbstmordes gehören beispielsweise auch nicht wenige der so häufigen Unfälle im Hochgebirge.

Es ist auffällig, daß der berggewohnte Segantini, der als Maler, als Tourist und als Jäger zu jeder Zeit die Gegend durchstreifte, den Weg verlor und dann noch unvorsichtig genug war, sich bei Winterskälte im Schnee niederzulassen. Das Verirren und das Einschlafen im Schnee erregen in uns den Verdacht, hier möchte ein unbewußter Selbstmordversuch vorliegen. Zu dieser Vermutung berechtigt uns die Tatsache, daß düstere Gedanken aus Segantinis Unbewußtem besonders in jener Zeit oftmals aufstiegen, daß ein Sehnen nach dem Tode sich nur allzu deutlich bemerkbar machte. Es blieb aber bei einem Versuch. Noch gelang es dem entgegengesetzten Willen zum Leben, sich geltend zu machen in Form der Stimme, die den beginnenden Schlaf unterbrach. Die Stimme der Mutter, die aus seinem Innern kam, die er aber nach außen projizierte, rief den Entschlummernden zum Leben zurück. Gerade das hat seine tiefe Bedeutung; war ihm doch die Mütterlichkeit das Prinzip alles Lebens.

Werden wir aus diesem Vorfall Schlüsse ableiten dürfen inbezug auf Segantinis Tod, der nicht gar lange nachher eintrat?

Hören wir, was kurz vor dem Aufstieg zum Schafberg geschah! Des Künstlers Gattin erzählt uns folgende Geschichte (Servaes, S. 264):

«Am letzten Sonntag, den er in Maloja verblieb, streckte er sich in seinem Arbeitszimmer auf einige Stühle aus, um auszuruhen. Ich blieb draußen und unterhielt mich mit den Kindern. Als ich eintrat, dachte ich, er schliefe und sagte: ‹O, es tut mir leid, dich geweckt zu haben, du hattest den Schlaf so nötig!› – Darauf er sofort: «Nein, meine Liebe, du tatest wohl daran, einzutreten. Stelle dir vor, ich träumte (und glaub's mir, ich träumte mit offenen Augen, des bin ich sicher), daß ich es war, den sie auf ihrer Bahre aus jener Hütte trugen (und er deutete auf das Bild «Der Tod»); eine von den Frauen, die in der Nähe weilen, warst du, und ich sah, wie du weintest.» – Ich natürlicherweise sagte ihm, er habe geschlafen und es sei ein Traum gewesen. Er aber blieb dabei, fest überzeugt, wach gewesen zu sein und alles mit offenen Augen gesehen zu haben. Das Gleiche, was er mir gesagt hatte, erzählte er kurz darauf unserer Baba. Nun, was er damals gesehen hat, in zwölf Tagen wurde es zur Wahrheit. Sein Bild vom Tode stellte sein eigenes Ende dar, aus jener Hütte haben sie seinen Sarg hinausgetragen. Die Landschaft war so, wie er sie auf seinem Bilde gemalt hat; die Frau, die man auf dem Bilde weinen sieht, nahe der Bahre, war ich. – Man beachte, daß er sich zur Zeit jener Vision durchaus wohl befand, so sehr, daß er an jenem Sonntag noch fortfuhr mit Schreiben. Tags darauf arbeitete er von vier in der Frühe bis um neun und führte alsdann das Bild, in einer Kiste verschlossen, vom Standort seiner Malerei bis nach Hause; noch am gleichen Abend vermochte er drei Stunden anstrengenden Marsches von Pontresina bis auf die Spitze des Schafberges zu machen. Er hat so fest an den Spiritismus geglaubt, daß er nach jener Vision sich ganz sicher nicht von Majola fortbegeben hätte, hätte er sich nicht in vollkommenster Gesundheit gefühlt.»

Ich erblicke in diesem Wachtraume nicht eine Vorahnung im landläufigen Sinne, sondern einen Ausdruck des Todessehnens, das sich mit Macht ins Bewußtsein eindrängt. Ein Vergleich mit dem früher zitierten «häßlichen Traum» ergibt einen bemerkenswerten Unterschied: damals im Traume eine lebhafte, ja leidenschaftliche Abwehr des Todes – jetzt nur das starre Entsetzen ob seiner Nähe.

Segantinis Gattin schildert anschaulich, wie er am Tage nach diesem Wachtraum schier Übermenschliches an Arbeit leistete. Auf dem Berge angelangt, sprach er dann die stolzen Worte, die einem uneingeschränkten Kraftgefühl zu entspringen schienen. Wir aber verstehen, daß der Drang zum Leben nur durch die äußerste Sublimierung aller ihm dienstbaren Triebkräfte dem Ansturm der Todesgedanken standhalten konnte.

Es heißt, Segantinis Umgebung habe bis in die letzte Zeit nur gelegentlich wahrgenommen, daß er sich düsterer Stimmungen erwehren mußte. Es könnte daher als eine Übertreibung erscheinen, wenn ich diesem inneren Ringen eine so große Bedeutung beilege.

Aber der Kampf gegen die verdrängten Triebkräfte ist ein stiller Kampf, von dem ein so fein empfindender Mann wie Segantini nach außen so wenig wie möglich verlauten ließ. Bis kurz vor dem Tode war der Sieg auf Seiten der Lebensbejahung gewesen. Erst als das Todessehnen die Oberhand gewann, wurden die Zeichen dieses Ringens nach außen hin bemerkbar.

So stand es um Segantini, als er den Schafberg erstieg. Und dann kam die Krankheit, die sein Verhängnis wurde. Vielleicht hätte er auf dieser Höhe im Anblick aller der Herrlichkeit neuen Lebensmut geschöpft, neue Tatkraft gewonnen, um zu erfüllen, was er den Engadinern gelobt hatte: wäre nicht die Krankheit gekommen. Aber als diese ihn überraschte, ihn, der nie zuvor von Kranksein gewußt hatte, da nutzten die unbewußten Mächte den Augenblick. Sein Verhalten, wie es bereits oben beschrieben wurde, mag freilich zunächst den Eindruck erwecken, als habe er, auf seine Gesundheit vertrauend, das körperliche Leiden nicht geachtet; und so faßte auch Segantini selbst sein Verhalten auf. Aber ist das eine Gegenwehr, die dem Feinde, der Bresche schießen will, die Tore öffnet? Wie wir es so oft erleben, sucht das Bewußtsein ein aus unbewußten Antrieben erfolgtes Handeln als sein eigen Werk in Anspruch zu nehmen und es in seinem Sinne zu motivieren, während in Wirklichkeit andere, dem Bewußtsein fremde und völlig entgegengesetzte Beweggründe am Werke waren.

Segantini erlag der tückischen Krankheit – aber nicht ihr allein. Vielleicht hätte er sie überwunden. Aber die dunkeln Mächte seines Unbewußten kamen der Krankheit zu Hilfe, erleichterten das Zerstörungswerk und riefen selbst den Tod herbei.

Indessen klammerte er sich in seinem Bewußtsein voll glühender Liebe an das, was ihm Leben bedeutete. Und während der Tod ihm nahte, warf er Blicke der Sehnsucht hinüber zu seinen Bergen, deren Schönheit seine Kunst noch ferner hatte rühmen wollen. Wir werden an Moses erinnert, der am Schlusse seines Lebens auf den Berg stieg, von dem er in das gelobte Land hinüberblicken durfte. Aber es war sein letzter Weg dort hinauf.

 

*

 

«Spenti son gli occhi umili e degni ove s'accolse l'infinita

bellezza, partita è l'anima ove l'ombra e la luce la vita

e la morte furon come una sola

preghiera, e la melodia del ruscello e il mugghio de l'armento e il tuono de la tempesta e il grido de l'aquila e il gemito de l'uomo

furon come un sola parola»

 

In diesen wundervollen Versen auf Segantinis Tod gedenkt Gabriele d'Annunzio der allumfassenden Liebe des Meisters, die uns an Franciscus von Assisi gemahnt.

Aber wir wissen es: derselbe Mensch, der in unendlicher Liebe alles Lebende umarmen wollte, barg in seinem Innern den Willen zur Zerstörung des eigenen Lebens.

Die psychoanalytische Betrachtung, die uns einen Einblick in den Kampf bewußter und unbewußter Kräfte gewährt, läßt uns diesen inneren Zwiespalt begreifen und mitfühlen. Sie enthüllt uns die ganze Tragik im Leben dieses Frühgestorbenen: daß ihn, den unermüdlich Schaffenden, der Schatten des Todes auf allen Wegen begleitete.

 

――――――――

 

1) Die im folgenden enthaltenen Hinweise mögen zur Erklärung der merkwürdigen Tatsache beitragen daß unter den begeisterten Freunden der Alpenwelt die besondere Spielart der Engadinschwärmer existiert. Es scheint diese Schwärmerei mit gewissen Charakterzügen zusammenzufallen, die auch bei Segantini ungewöhnlich ausgeprägt waren. Dient schon der Alpinismus im allgemeinen häufig der Betätigung sublimierter Triebe, so scheint jene spezielle Form in besonderem Maße komplexbedingt zu sein.  

2) Freud, Psychopathologie des Alltagslebens, 3. Aufl., Berlin 1910.